Botschafter des Heils in Christo 1864
Die Fußwaschung
Wie in allen Handlungen des Herrn, so strahlt uns auch in der Fußwaschung seine Liebe in ihrem reinsten Glänze entgegen. Weder die klare Vorstellung von all den Leiden und Mühsalen, die seiner harrten, noch das Gefühl der Bitterkeit des Todes haben Ihn zu verhindern vermocht, „Sein Angesicht festzustellen, um nach Jerusalem zu gehen.“ Wohl vernahm sein Ohr das wilde Rauschen der tiefen Wasser, und aus seiner Seele drang der Angstschrei: „Rette mich, o Gott! denn gekommen sind die Wasser bis an meine Seele. Ich versinke in tiefem Schlamm, und kein Grund ist da; in die Wassertiefen bin ich gekommen, und die Flut überströmt mich. Ich bin müde vom Rufen“ (Ps 69,1–3). Aber nichts vermochte dem mächtigen Strom seiner Liebe Schranken zu setzen; sie überflutete die Wogen der Wassertiefe; denn freiwillig nahm Er aus der Hand des Vaters den Kelch des Zorns und stürzte sich in die Fluten des Todes, um die Seinen ins Leben zu rufen und sie den Strahlen einer göttlichen Liebe auszusetzen.
In dem vorliegenden Kapitel finden wir aber diese Liebe in einer ganz besonderen Weise vor unsere Augen gestellt. Während die Sünde in dem Verrat des Judas Iskariot die scheußlichste Form anzunehmen beginnt, und während der Herr die Stunde nahen sieht in welcher Er, als die Folge dieses Verrats, zum Vater hingehen sollte, entwickelt sich hier eine Szene, die uns deutlich erkennen lässt, dass seine Liebe, die ohne Zweifel am Kreuz ihre ganze Schönheit entfaltete, selbst nicht durch den Tod in ihrem Lauf unterbrochen werden konnte. Sie hat sich nicht erschöpft. Über Grab und Tod hinaus ergießt sich ihr mächtiger Strom; denn „da Er die Seinen in der Welt geliebt hatte, liebte Er sie bis an das Ende“ (V 1).
Es nahte die schreckliche Stunde der Finsternis – jene Stunde in welcher des Menschen Bosheit den höchsten Gipfel erstieg; und noch einmal versammelte der scheidende Herr die Seinen, um mit ihnen vor seinen Leiden das Passah zu essen. Die Schrecken des Todes in seinem Herzen müssen dem Gefühl der zärtlichsten Sorgfalt Platz machen. Gezählt sind die Augenblicke seines Hierseins; aber noch ist der Hirte der Schafe nicht geschlagen, noch der Bräutigam nicht hinweggenommen. Mit der fürsorgenden Liebe eines Hausvaters sitzt Er im Kreis seiner Familie am Abendtisch; und weder der Gedanke an den Ihn verleugnenden Petrus, noch der Gedanke an die fliehenden Jünger, noch endlich der Gedanke an den Verräter und an die schrecklichen Folgen dieses Verrats – nichts stört in diesem feierlichen Augenblicke die Freude dieser süßen Gemeinschaft des Herrn mit seinen Jüngern, bis die Stunde der Finsternis anbricht und der Kelch des Zorns geleert wird, bis der Mensch die frevelnde Hand an die heilige Person des Herrn gelegt und seine Verwerflichkeit unzweideutig ans Licht gestellt hat, und bis endlich das vergossene Blut des wahren Opferlammes nach den Ratschlüssen Gottes zu einer unversiegbaren Reinigungsquelle geworden ist, die da reinigt von aller Sünde.
Jetzt aber bricht ein neuer Moment an. Das Werk der Erlösung ist vollbracht; und von dem Augenblick an, wo Jesus „aus dieser Welt zu dem Vater hinging“, ist seine Liebe in eine neue Bahn gelenkt worden. Wie Er es bei seiner Himmelfahrt in Wirklichkeit getan hat, so verlässt Er vorbildlich (V 4) seinen Platz inmitten seiner Jünger. In dem Bewusstsein, dass der Vater Ihm alles in die Hände gegeben, und dass Er von Gott ausgegangen und zu Gott hingehe, „steht Er vom Abendessen auf und legt die Oberkleider ab, und nahm ein Leintuch und umgürtete sich. Darauf gießt Er Wasser in das Waschbecken, und fing an die Füße der Jünger zu waschen und mit dem Leintuch, womit Er umgürtet war abzutrocknen“ (V 4–5). Von dem Augenblick an, wo der Herr sich von seinem Platz erhob, war vorbildlich das Werk der Erlösung eine vollendete Tatsache; es begann eine neue Stellung, und seine Liebe drängte Ihn in eine neue Art des Dienstes. Und dieser Dienst ist die Fußwaschung – eine Handlung, die sich stets wiederholt und darum der Gegenwart und der Zukunft angehört. Er geht nicht noch einmal für uns in den Tod; aber ununterbrochen wäscht Er unsere Füße, nachdem Er gestorben, auferstanden und zur Rechten des Vaters erhöht ist.
Ja, Er wäscht unsere Füße. Anbetungswürdige Liebe! Wir sehen Ihn, den Sohn Gottes, Ihn, durch den und für den alle Dinge sind, Ihn, den Abglanz der Herrlichkeit und den Abdruck des Wesens Gottes, Ihn, der, nachdem Er durch sich selbst die Reinigung unserer Sünden gemacht, sich zur Rechten der Majestät in der Höhe gesetzt hat, – Ihn sehen wir in der Stellung und in dem Gewände eines Dieners. Seine Lenden sind umgürtet; und in seiner Hand trägt Er das Waschbecken, um die beschmutzten Füße der Seinen von jedem Flecken zu reinigen. Wahrlich, die Würde und Herrlichkeit dessen, den wir in solch herablassender Liebe tätig sehen, erhöht den Wert und die Schönheit dieser Handlung. Was könnte erhabener und höher sein, als der Platz, den Jesus verließ, um unseren Bedürfnissen zu begegnen; und was könnte niedriger sein als der mit Schmutz besudelte Fuß eines Wanderers? Aber das eben ist der Ruhm unseres geliebten Herrn, dass Er den ganzen Zwischenraum, die große Kluft zwischen Oben und Unten, mit seiner Liebe ausfüllt, denn indem die eine seiner Hände auf dem Thron Gottes ruhen und die andere sich mit den Füßen seiner Heiligen beschäftigen kann, bildet seine Person das geheimnisvolle Band zwischen diesem erhabenen Thron und den in Niedrigkeit wandelnden Füßen.
Wir bedürfen einer vollkommenen Reinigung – einer Reinigung, die der Gegenwart Gottes völlig angemessen ist; und der Herr sei gepriesen, dass in seinen Gefühlen gegen uns keine Veränderung, kein Wechsel ist, und dass Er, dem der Vater alles in die Hände gegeben, die Arbeit einer liebevollen Fürsorge in Ewigkeit nicht unterbricht. Sei es in seiner Niedrigkeit, sei es in seiner Herrlichkeit – immer war und bleibt Er in der Mitte der Seinen „als der Dienende“. In jedem Teil unseres inneren Lebensganges hat Er unseren Bedürfnissen völlig entsprochen. Er begegnete uns zuerst in erbarmender Liebe, als wir, niedergebeugt unter dem zermalmenden Gewicht unserer Sündenschuld, in seinem kostbaren Blut Vergebung, Gerechtigkeit, Leben und Frieden fanden; und für immer sind unsere Sünden mit all ihren erschreckenden Folgen verschlungen durch die hochgehenden Wogen göttlicher Gnade. Die Auferstehung des Herrn und sein Hingang zum Vater ist ein kräftiger Beweis, dass sein Blut ins Heiligtum getragen ist, und dass unsere Sünden für immer vor dem Angesicht Gottes hinweggetan sind. Hier bedarf es keiner zweiten Waschung; das vergossene Blut hat eine vollkommene Reinigung zu Wege gebracht; „denn durch ein Opfer hat Er auf immerdar die, welche geheiligt werden, vollkommen gemacht“ (Heb 10,14).
Petrus weicht zurück bei dem Gedanken an eine solche Erniedrigung seines Herrn; und wiewohl dieser dem feurigen Jünger versichert, dass er erst hernach seine Handlung begreifen werde, so weigert er sich dennoch, seine Füße hinzuhalten, indem er sagt: „Du sollst in Ewigkeit nicht meine Füße waschen.“ Ach, wie viele Gläubige gleichen ihm, weil sie weder die Notwendigkeit dieser Fußwaschung begreifen, noch überhaupt das demütigende Gefühl besitzen, dass von ihren Sünden nichts anders sie zu reinigen vermag, als die Erniedrigung Christi! Petrus weigert sich; denn er versteht weder die Bedeutung noch den Zweck dieser gnadenreichen Handlung, und erkennt nicht, dass gerade diese Herablassung seines Herrn bis zur Stellung des niedrigsten Dieners die Herrlichkeit desselben auf das Klarste ausstrahlen lässt. Drängt ihn aber die Erkenntnis der Folgen seiner Weigerung zu dem Ruf: „Herr, nicht meine Füße allein, sondern beides, die Hände und das Haupt“ (V 9), so sehen wir, wie die Unwissenheit und Kurzsichtigkeit des armen Jüngers ihn aus einem Irrtum in den anderen leitet. Hat er soeben noch die zum Waschen benetzte Hand abgewiesen und sich gesträubt, eine Handlung der zärtlichsten Fürsorge an sich vollziehen zu lassen – eine Handlung, die, wollte er anders die praktische Gemeinschaft mit Gott genießen und seine Füße in das Heiligtum stellen, eine unbedingte Notwendigkeit war, so zeigt die bereitwillige Preisgebung seines ganzen Leibes nur zu deutlich, dass er die Vollgültigkeit des Opfers Christi, die vollkommene Abwaschung des Sünders durch das Blut keineswegs begreift.
„Wer gebadet ist, hat nicht nötig, als sich die Füße zu waschen, sondern ist ganz rein“ (V 10). Wie erhaben klingt diese Wahrheit aus dem Mund dessen, der allein würdig erfunden ward, die Reinigung unserer Sünden zu vollenden! So wie der, welcher aus einem Bad steigt, ganz rein ist, aber auf dem Weg bis zum Ankleidezimmer durch die Berührung des Bodens seine Füße beschmutzen kann, ebenso sind wir in der Reinigungsquelle des Blutes Christi von unseren Sünden gänzlich gewaschen, können aber, wandelnd bis zu dem Ort, wo wir die Kleider der Unsterblichkeit und der Herrlichkeit anziehen, durch die Berührung mit einer Welt voll Sünde unsere Füße verunreinigen. Wer an Jesus glaubt, der ist so rein, wie sein Blut zu reinigen vermag; er bedarf keines neuen Bades, und nirgends ist ein solches zu finden. Nicht ein einziger Flecken bleibt vor Gott auf dem Gewissen des Gläubigen zurück; denn er ist durch den Willen Gottes geheiligt „durch das ein für alle Mal geschehene Opfer des Leibes Jesu Christi.“ Durch die Annahme, dass wir einer nochmaligen Waschung bedürfen, unterschätzen wir den Wert und die Fülle des Blutes Christi und würdigen es herab zu der Gleichheit des Blutes der „Stiere und Böcke“. Bin ich in dem Blut Christi gewaschen, so bin ich vollkommen und reingemacht – rein, um vor Gott stehen zu können. Wessen bedarf ich ferner? Nichts als des Waschens meiner Füße.
Nur einmal bei der Weihe des im Tempel dienenden Priesters fand eine Waschung seines ganzen Leibes statt, und nimmer wiederholte sich diese Handlung. Aber jedes Mal beim Beginn des Dienstes war er, um Gott nahen zu können, genötigt, sich die Hände zu waschen. In demselben Fall befindet sich der Gläubige. Gereinigt durch das Blut, ist er ein für alle Mal für den priesterlichen Dienst fähig gemacht; aber nun bedarf er der Anwendung des Wortes durch den Heiligen Geist, um seine Gemeinschaft mit Gott zu unterhalten und wiederherzustellen, indem dieses Wort uns von dem reinigt, welches – wenn wir im Wandel unsere Füße beschmutzt haben – uns verhindert, diese Gemeinschaft praktisch verwirklichen zu können. Würde die Fußwaschung unterbleiben, dann könnte bei dem, in sich selbst armen, schwachen, durch eine schmutzige und beschmutzende Welt pilgernden Gläubigen keine ununterbrochene Gemeinschaft stattfinden. Welch ein Segen, dass unser Herr, an den Lenden umgürtet und mit dem Waschbecken in der Hand, uns stets begegnet und die Reinigung unserer Füße bewirkt, die, solange wir hienieden wallen, den Boden einer sündigen Welt berühren müssen! Hierzu aber bedarf Er nicht des Blutes, sondern des Wassers – jenes Bildes des durch den Heiligen Geist angewandten Wortes. Er reinigt unsere Gewissen durch sein Blut und reinigt unsere Wege durch sein Wort. Er wäscht jeden Flecken ab, der sich uns auf unserem täglichen Wege ansetzt, so dass wir stets in der gesegneten Stellung bleiben können, in welche uns sein kostbares Blut gebracht hat. Die Gewissen sind und die Füße werden gereinigt, und zwar nach den Anforderungen des Heiligtums. Alles, was Gott auf meinem Gewissen sah, ist abgewaschen durch das Blut seines Sohnes; und alles, was Er in meinem praktischen Wandel als unrein erblickt, wäscht Er hinweg durch sein Wort, so dass Er zu mir und allen Gläubigen sagen kann: „Ihr seid rein“ (V 10). Nur die Erkenntnis dieser gesegneten Wahrheit erhält das Herz in ungetrübtem Frieden. Ich schaue eine Liebe, die tätig war im Tod zu meiner Rettung, und ich sehe eine Liebe, die ununterbrochen tätig ist im Leben zu meiner Bewahrung. Nicht durch meine mangelhafte Erkenntnis, insoweit ich den Schmutz sehe, ist die Wirkung einer solchen Liebestätigkeit begrenzt, nein, die Wirkung des Blutes und des Wassers befriedigt das bis in alle Tiefen schauende Auge Gottes.
Hierin liegt für uns die völligste Sicherheit. Würde nicht das Wort Gottes uns bezeugen, dass aller Schmutz, der sich unseren Füßen während des Wandelns durch die Wüste anklebt, bis zu dem feinsten Stäubchen fortwährend durch eine göttliche Handlung entfernt würde, dann könnte weder von einer Ruhe im Herzen, noch von einem Gott wohlgefälligen Dienst die Rede sein; und dieses umso weniger, als wir die Herrlichkeit unserer Stellung und unseres Weges verstehen. Nein, die Wirkung dieser Liebe ist vollkommen. Sowohl die Handlung, die wir hier unseren gepriesenen Herrn vollziehen sehen, als auch seine eigenen Worte in Johannes 17, wenn Er sagt: „Ich bitte nicht, dass du sie von der Welt wegnimmst, sondern dass du sie vor dem Bösen bewahrst“, – zeigen uns die Kraft dieser Liebe und offenbaren uns ein Herz, für welches wir die Gegenstände der zärtlichsten Fürsorge sind. Im Licht göttlicher Offenbarung erblickt das Auge des Glaubens in der Hand des umgürteten Herrn stets das geheimnisvolle Waschbecken; und tiefer Friede erfüllt unser Herz, wenn wir erkennen, dass der, welcher uns durch das Kreuz in unsere gesegnete Stellung führte, unermüdlich beschäftigt ist, uns in derselben zu bewahren und unsere Beziehungen zu Gott aufrecht zu erhalten. „Da Er die seinigen in der Welt geliebt hatte, liebte Er sie bis an das Ende.“ Ja, bis an das äußerste Ende der Zeiten, durch all die Wechsel dieses sich stets ändernden Schauplatzes hindurch, übt die Liebe Tag für Tag und in allen Umständen ihr gesegnetes Werk. Nachdem Er das Werk, welches Ihm der Vater zu tun gegeben, vollbracht und diese Erde verlassen und sich zur Rechten Gottes gesetzt hat, hat Er begonnen, die Füße seiner Jünger zu waschen, und Er wird dieses tun, solange sie hienieden des Pilgerstabes und der Streitwaffe bedürfen. Und selbst in der Herrlichkeit des Reiches „wird Er sich gürten und sich bereiten, die Seinen zu bedienen.“
„Werde ich dich nicht waschen, so hast du keinen Teil mit mir“, – sagt der Herr zu dem sich weigernden Petrus; und diese Worte geben den Schlüssel zum Verständnis dieser stets in Tätigkeit gesetzten Liebe, deren Frucht es ist, dass wir nicht nur Teil an Jesu haben, sondern Teil mit Ihm an den Segnungen seines Todes und seines Lebens, Teil mit Ihm an der Liebe des Vaters und an der zukünftigen Herrlichkeit als die Erben Gottes, und Teil mit Ihm an der Herrschaft über alle Dinge. Im Hinblick auf seine Herrlichkeit, der Er entgegenging, wusch Er den Jüngern die Füße, um ihnen dadurch zu erklären, dass seine Liebe bis ans Ende dauern und dass sie, eins mit Ihm, an allem Teil haben würden.
Es kann nicht genug wiederholt werden, dass, wenn wir der Erlösung durch sein Blut uns erfreuen, unsere Gewissen vollkommen gereinigt sind, weil Christus immer für uns vor Gott steht und sein Blut sich an der Stelle befindet, wo früher unsere Sünden gesehen wurden. Aber es ist wichtig, daran zu denken, dass jede Verunreinigung unserer Füße, unseren Sinn und unser Bewusstsein besteckt, sowie die Herrlichkeit, zu der wir berufen sind, verdunkelt und unsere praktische Gemeinschaft mit Gott unterbricht. Wir bedürfen der Fußwaschung; und da wir Teil mit Christus haben sollen, so fährt Er fort in seiner Liebestätigkeit, um alles das aus unserem Bewusstsein zu entfernen, was unsere Gemeinschaft mit Gott und den Genuss unserer Segnungen in Frage stellen will. Bleibt die geringste Schuld in unserem Bewusstsein zurück, so ist unsere Ruhe gestört und der auf die Herrlichkeit gerichtete Blick umdüstert. Der Zweck der Fußwaschung aber ist, uns von unseren Befleckungen zu reinigen, das Bewusstsein der vollständigsten Vergebung wiederherzustellen und uns in die ungehinderte Gemeinschaft mit Gott und zu dem Genuss der daraus entspringenden Segnungen zurückzuführen. O preiswürdige Liebe! Sie siegt über jedes Hindernis, über all die Verirrungen und Mängel derer, die Teil mit Jesu haben.
Es ist sehr wohltuend für unser Herz, dass der Herr in der Herrlichkeit mit denselben Gefühlen erfüllt ist, die Ihn vor seinem Hingang zum Vater leiteten, die Füße der Jünger zu waschen. Mit dem innigsten Mitgefühl schaut Er herab auf unsere Mühen, unsere Hindernisse und Trübsale; und seine mächtige Hand ist tätig alles hinweg zu räumen, was unseren Frieden stören will. Er will stets als der Dienende bleiben. Er ist in Wahrheit jener im 31. Kapitel des 2. Buches Mose beschriebene Knecht, dem sein Herr während seines Dienstes ein Weib und Kinder gegeben hatte, und der, obgleich er nach Ablauf seiner Dienstzeit für sich selbst frei ausgehen konnte, zum Zeichen seines ewigen Dienstes sein Ohr an den Türpfosten durchbohren ließ und laut bekannte: „Ich liebe meinen Herrn, mein Weib und meine Söhne; ich will nicht frei ausgehen.“ – Auch Ihm, unserem geliebten Herrn, gab der Vater ein Weib, die Kirche, die im Epheserbriefe als Fleisch von seinem Fleisch und als Bein von seinem Bein betrachtet wird, und Er gab Ihm Kinder, mit denen Er vor Gott hintritt und sagt: „Siehe – ich und die Kinder, welche mir Gott gegeben hat“ (Heb 2,13). Er hat freiwillig aus Liebe zu seinem Herrn, und aus Liebe zu seinem Weib und den Kindern, einen ewigen Dienst seiner Freiheit vorgezogen, und dieses allein ist der Grund, dass selbst der schrecklichste Tod der Tätigkeit seiner Liebe keine Schranken zu setzen vermochte.
Er will stets als der Dienende sein. Selbst in der zukünftigen Haushaltung will Er diesen Dienst nicht aufgeben. Nicht nur jetzt, wo die Jünger, bekleidet mit einer irdischen Hülle, durch die Berührung mit einer befleckenden Welt in ihrer praktischen Gemeinschaft mit Ihm und seinem Vater gestört werden, will Er ihre Füße waschen, sondern auch dann, wenn sie mit Ihm in seiner Herrlichkeit sind, wird Er seine Gemeinschaft mit dem Vater und seine Macht über alle Werke, welche der Vater in seine Hände gelegt, dazu anwenden, um ihnen den Vollgenuss der Herrlichkeit und der vollkommensten Segnungen zu sicheren. „Er wird sich umgürten und sie sich zu Tische legen lassen, und wird hinzutreten und sie bedienen“ (Lk 12,37), indem Er ihnen all das mitteilt und offenbart, was sie zu ihrer vollkommenen Glückseligkeit bedürfen.
Jetzt befinden wir uns freilich noch in einer Welt, wo Satan auf unsere irdische Natur zu wirken sucht. In gewissem Sinn können wir nicht ohne Befleckung die Welt berühren. Allein das vollkommene Opfer Christi hat dafür gesorgt, dass dieses uns weder aus unserer Stellung in Christus herausbringt, noch unseren Rechtsanspruch als Priester vor unserem Gott und Vater verändert; und da der Herr durch die Fußwaschung jede Befleckung hinwegnimmt und uns von dem Einfluss und der Macht der Dinge befreit, welche dieselbe verursachen, so sind wir jetzt schon in den Stand gesetzt, die völlige Gemeinschaft mit Ihm an jenem heiligen Platze zu genießen in welchen uns Gott hat mitauferweckt und mitsitzen lassen in Christus Jesus. –
Richten wir jetzt zum Schluss unseren Blick auf den weiteren Verlauf dieser lieblichen Szene. Die Handlung des Herrn ist beendet; die Füße der Jünger sind gewaschen. Er legt die Oberkleider an, lässt sich wieder in dem Kreis der Seinen nieder und sagt: „Wisst ihr, was ich euch getan habe? Ihr heißt mich Lehrer und Herr, und ihr sagt recht; denn ich bin es. Wenn nun ich der Herr und der Lehrer, eure Füße gewaschen habe, so seid auch ihr schuldig, einander die Füße zu waschen. Denn ein Beispiel habe ich euch gegeben, auf dass, gleich wie ich euch getan habe, auch ihr tut“ (V 13–15). Also auch wir sollen unseren Brüdern die Füße waschen. In welcher Weise kann dieses geschehen? Dadurch, dass wir seinem Beispiel nachahmen. Wie geduldig ertrug Er die Schwachheiten, die Verirrungen und Fehler seiner Jünger; wie brünstig war seine Fürbitte, wie tätig seine Hand, um aus ihrem Sinn und Herzen alles zu entfernen, was sie beschmutzte! Und diese Gefühle, die Ihn hienieden leiteten zu der Stellung eines Dieners sind auch in der Herrlichkeit dieselben geblieben. Seine Liebe bleibt ungehemmt in Tätigkeit. Welche Ehre, Welches Vorrecht, seine Gehilfen sein zu dürfen! Auch wir sollen gleich Ihm die Unwissenheit, die Verirrungen, Schwachheiten und Fehler unserer Brüder ertragen und auf Grund der Fürbitte Jesu bemüht sein, durch Anwendung des Wortes Gottes alles hinweg zu räumen, was ihren Sinn und ihr Gewissen besteckt und die Segnungen ihrer Gemeinschaft mit Christus und dem Vater hindert. Ach, wie unfähig fühlen wir uns oft in diesem Dienst, wie gering ist unsere Liebe, wie wenig demütig unser Herz, wie mangelhaft unsere Fürbitte! Woran liegt es? Daran dass wir zu wenig seine Gegenwart genießen, und zu wenig unsere eigenen Füße Hinhalten, damit Er sie reinige von jeder Befleckung. Unser Dienst in Betreff der Brüder wird stets durch unsere praktische Gemeinschaft mit Ihm bedingt sein. Nur im Genüsse seiner Liebe werden wir sein Her; verstehen und von seiner Gesinnung, seinem Mitgefühl durchdrungen sein; nur in seiner gesegneten Nähe lernen wir nicht auf das unsrige, sondern auf das, was des anderen ist, zu sehen und die wahre Stellung eines Dieners einzunehmen.
Und, geliebte Brüder, beachten wir es, dass unser Herr in dem Bewusstsein seines nahen Hingangs in seine Herrlichkeit sich umgürtete und die Füße der Jünger wusch. Würde auch unser Blick mehr gerichtet sein auf diese Herrlichkeit, zu der auch wir mit Ihm Teil zu haben berufen sind, gewiss auch unsere Herzen würden fähiger sein, dem Beispiel unseres Herrn nachzuahmen und uns unter einander die Füße zu waschen. Wir würden es als ein Vorrecht betrachten, den niedrigsten Dienst an den Seinen vollziehen zu können, weil ein solcher Dienst sein Herz mit Freude und Wonne erfüllt. Lasst uns daher nicht müde werden, unsere schwachen und irrenden Brüder durch unsere Fürbitte, durch brüderliche Ermahnungen und liebevolle Zurechtweisungen in den Genuss einer süßen Gemeinschaft zurück zu führen.
Möge der Herr uns eingehen lassen in die Wahrheit und den Wert dieses Dienstes und uns fähig machen, in seiner Gesinnung seiner Aufforderung Gehör zu geben, wenn Er in dem Gefühl der zärtlichsten Fürsorge sagt: „Wenn nun ich, euer Herr und Lehrer, eure Füße gewaschen habe, so seid auch ihr schuldig, einander die Füße zu waschen.“