Botschafter des Heils in Christo 1863
Betrachtung über den ersten Brief von Paulus an die Korinther - Teil 10/10
Der praktische Zustand der korinthischen Versammlung war, wie wir bei Betrachtung dieses Briefes deutlich gesehen haben, sehr schwach. In ihrer Mitte fand man Spaltungen, Weltlichgesinntheit, fleischliche Begierden, Unordnungen beim Abendmahl und falsche Lehre. Satan suchte alles zu verderben zuerst das Leben und dann die Lehre; zuerst die Gerechtigkeit und dann den Glauben. Es ist deshalb wohl zu begreifen, dass das Herz des Apostels über sie besorgt und beschwert war, umso mehr, wenn wir an die väterliche Liebe und Zärtlichkeit denken, womit er an ihnen hing. Ihr Zustand war in der Tat ein höchst trauriger; aber er diente dazu, alle die Gefühle und Liebe seines Herzens, die er sonderlich zu den Korinthern hatte, hervorströmen zu lassen, wie uns dies namentlich im zweiten Briefe so deutlich hervortritt. Auch in diesem Kapitel redet er sie auf eine sehr liebreiche und Vertrauen erweckende Weise an, gibt ihnen Anweisungen in Betreff eines Dienstes für die dürftigen Heiligen in Jerusalem und ermuntert sie dazu. Er gibt ihnen die Weisung, für jene eine Kollekte zu veranstalten, wie solches unter den Aposteln verabredet war, zurzeit als Paulus, als anerkannter Apostel der Nationen, Jerusalem verließ. Er bittet, dass, an jedem ersten Wochentag, ein jeder nach seinem Vermögen etwas bei sich zurücklege; und später, wenn er bei ihnen war, wollte Er etliche Brüder, die sie für tüchtig erkannten, mit Briefen nach Jerusalem senden, um ihre zusammengelegte Gabe der Liebe hinzubringen; auch war er bereit, selbst hinzureisen, wenn es gut war (V 1–4).
Ungeachtet ihres traurigen Zustandes wollte also dennoch der Apostel von ihrem Dienst Gebrauch machen; und dies ist wahrlich sehr tröstlich und lehrreich für unsere Herzen. Er betrachtet und behandelt sie noch immer als Christen; sie standen noch immer auf dem Boden der Wahrheit, und bildeten die Versammlung Gottes zu Korinth; und diese Tatsache veranlasst den Apostel, ihnen mit einem umso größeren Ernst zu schreiben. Doch obwohl sein Herz durch das Schreiben dieses Briefes einigermaßen erleichtert worden war, indem er vertraute, dass der Herr es an ihren Herzen segnen würde, so konnte er sich doch noch nicht entschließen, persönlich dort hinzukommen, was zuerst sein Vornehmen gewesen war. Er wollte nämlich durch Korinth nach Mazedonien reisen, und sie dann auf der Rückkehr von dort zum zweiten Male sehen (2. Kor 1,15–16). Er unterlässt es aber, ohne ihnen einen weiteren Grund darüber anzugeben; auch spricht er mit Ungewissheit über seinen Aufenthalt bei ihnen: „Vielleicht aber werde ich bei euch bleiben oder auch überwintern, denn ich hoffe, einige Zeit bei euch zu bleiben, wenn es der Herr erlaubt“ (V 7). Im zweiten Briefe teilt er ihnen mit, dass ihr gegenwärtiger Zustand die Ursache gewesen, warum er nicht zu ihnen gekommen sei. Paulus gedachte bis Pfingsten in Ephesus zu bleiben; „denn“ sagte er „eine große und wirkungsvolle Tür steht mir offen, und der Widersacher sind viele“ (V 8–9). Diese beiden Tatsachen – „die geöffnete Tür und die vielen Widersacher“ – waren für ihn eine Ursache, zu bleiben, und sie sind zu jeder Zeit ein sehr beachtenswertes Kennzeichen für den Arbeiter im Werk des Herrn. Die geöffnete Tür ist ein Beweis, dass Gott da ist und die Wirksamkeit gutheißt, und die Tätigkeit des Widersachers macht das Bleiben um des Feindes willen notwendig. Man hält oft den Widerstand für eine geschlossene Tür; allein diese ist nur dann geschlossen, wenn kein Bedürfnis da ist, um das Wort zu hören, und Gott nicht wirkt, um die Aufmerksamkeit zu erwecken. Wenn aber Gott wirkt, so ist der Widerstand des Feindes nur eine Ursache, um das Werk nicht aufzugeben. Es scheint, dass Paulus schon viel zu Ephesus gelitten hatte (Kap 15,32), und dennoch setzte er das Werk fort. Der Aufruhr, den Demetrius hervorrief (Apg 19), Schloss die Tür und ließ Paulus von dort weggehen.
Wir wissen aus Apostelgeschichte 19,22, dass Paulus den Timotheus nach Mazedonien gesandt hatte, und war, wie wir in diesem Kapitel sehen, der Meinung, dass er bis Korinth durchreisen würde. Er gibt deshalb die Ermahnung: „Wenn aber Timotheus kommt, so seht zu, dass er ohne Furcht bei euch sei; denn er treibt das Werk des Herrn, wie auch ich. Es verachte ihn denn niemand. Geleitet ihn aber in Frieden usw“ (V 10–11). zu dieser Ermahnung gab wohl besonders die Jugend des Timotheus Veranlassung. Paulus musste befürchten, dass sie ihren Mangel an Unterwürfigkeit, wie dies leider oft geschieht, durch die Jugend des Arbeiters zu rechtfertigen suchen würden. Deshalb erinnert er sie, dass Timotheus, wie er selbst, das Werk des Herrn treibe; und wahrlich, er trieb es mit großer Treue. Und dies allein ist genug, uns für unsere Unterwürfigkeit völlig verantwortlich zu machen. – Was den Apollos betraf, so hatte der Apostel ihn sehr gebeten, dass er mit den Brüdern nach Korinth gehen möchte, und dies bewies, wie frei seine Seele von allem Neid war. Er wusste, dass Apollos unter den Korinthern im Segen gewirkt hatte, und dies erwartete er auch ferner. Apollos war aber bis jetzt noch nicht entschlossen, dorthin zu reisen. Wie es scheint, wollte er nicht durch seine Gegenwart Veranlassung geben, zu denken, dass er das Wegbleiben des Apostels tadele, besonders da sich etliche daselbst nach seinem Namen nannten (V 12).
Nach diesen verschiedenen Anordnungen und Mitteilungen wendet sich dann der Apostel noch einmal mit einer lieblichen, aber Zugleich sehr ernsten Ermahnung an die Korinther: „Wacht, steht im Glauben, seid männlich, seid stark. Alles lasst bei euch in Liebe geschehen“ (V 13–14). Wie weit umfassend sind diese wenigen Worte! Es war der dringendste Wunsch des Apostels, dass sie bis zum Ende fest und treu bleiben und dass die Liebe die Quelle aller ihrer Handlungen sein möchte. Er liebte die Korinther mit väterlicher Liebe; denn sie waren seine Kinder, die er durch das Evangelium gezeugt hatte; und so groß auch ihre Gebrechen sein mochten, so blieben sie doch stets seinem Herzen teuer.
Weiter finden wir in diesem Kapitel einen deutlichen Beweis, dass sich ein jeder, ohne besonderen Beruf, allein durch die Kraft des Heiligen Geistes zum Dienst der Versammlung widmen kann, und dass, wenn ein solcher treu dient, die anderen schuldig sind, ihn anzuerkennen und sich ihm zu unterwerfen. „Ich ermahne euch aber, Brüder: Ihr kennt das Haus des Stephanas, dass es die Erstlinge von Achaja sind, und dass sie sich selbst den Heiligen zum Dienst verordnet haben; auf dass auch ihr solchen und jedem, der mitwirkt, und sich bemüht, untertan seid“ (V 15–16). Der Herr selbst erkennt solche freiwillige Arbeiter an, die, getrieben durch die Liebe Christi und geleitet durch den Heiligen Geist, sich dem Dienst der Heiligen widmen, und Er erwartet auch von uns die Anerkennung eines solchen Dienstes und die Unterwürfigkeit unter solche Arbeiter. Dies ist von großer Wichtigkeit, besonders auch für die gegenwärtige Zeit, wo man oft einen solchen freiwilligen Dienst nur als einen Eingriff in irgendein geistliches Amt betrachtet, und an nichts weniger als an Anerkennung und Unterwürfigkeit denkt, indem man nur solche zu jenem Dienst berechtigt glaubt, die durch eine besondere Berufung und Einweihung dazu gelangt sind. Im Wort Gottes aber finden wir das Gegenteil. – Ebenso hören wir nichts von einer besonderen Berufung des Apollos. Er war in Bezug auf andere ein ganz und gar unabhängiger Arbeiter. Zum Teil durch andere Arbeiter unterwiesen, handelte er frei nach der empfangenen Gnade, wie er es vor Gott wohlgefällig hielt.
Zugleich möchte ich hier noch auf eine andere, sehr beachtenswerte Sache aufmerksam machen, die mit dem vorhin Gesagten mehr oder weniger in Verbindung steht. Dieser Brief, obwohl er in alle die Einzelheiten des inneren Zustandes der Versammlung zu Korinth eingeht, erwähnt jedoch mit keinem Wort der Nettesten oder anderer angestellten Personen, die doch im Allgemeinen vorhanden waren. Gab es nun auch in Korinth solche, so hätte man erwarten sollen, dass der Apostel, bei den vielfachen Mängeln und Gebrechen in der Versammlung, sich namentlich an jene gewandt und sie zur Treue und Wachsamkeit ermuntert und an ihre Verantwortlichkeit erinnert hätte; aber im Gegenteil, er machte alle verantwortlich; und dies ist sehr zu beherzigen. Wir haben das Wort, und in diesem Wort hat Gott für den Wandel einer Versammlung zu aller Zeit gesorgt, und hat auch, wie wir gesehen haben, darin Ermahnungen gegeben, alle anzuerkennen und sich allen zu unterwerfen, die sich durch die Kraft des Geistes zum Dienst der Heiligen mit Treue widmen, ohne auf eine besondere Weise berufen oder angestellt zu sein. Weder der allgemeine Verfall der Kirche, noch der Mangel solcher angestellten Personen wird diejenigen, welche dem Wort gehorchen wollen, verhindern können, es in allen Dingen, die für die christliche Ordnung nötig sind, zu befolgen. Der Herr wird zu aller Zeit, auch inmitten aller Verwirrung und Trennung, uns das darreichen, was wir zu unserer Erbauung nötig haben, wenn wir uns nur einfach an seinem Wort halten und uns durch seinen Geist leiten lassen.
Der Apostel erwähnt hier drei Personen, die durch ihre persönliche Teilnahme und ihren persönlichen Dienst sein Herz erfreut und erquickt hatten. „Ich freue mich aber über die Ankunft des Stephanas und des Fortunatus und Achaikus; denn was eurerseits mangelte, haben diese erstattet. Denn sie haben meinen Geist erquickt und den euren. Erkennt solche an“ (V 17–18). Es scheint nach diesen Versen nicht, dass sie sein Herz durch angenehme Berichte über die Versammlung oder durch einen Beweis deren Liebe zu ihm erfreut hätten. Sein Herz war vielmehr durch jene persönlich erquickt worden; und er wollte, dass die Korinther hieran Teil haben möchten, indem er voraussetzte, dass sie Liebe genug für ihn besaßen, um durch seinen Trost nun getröstet zu werden. Ihre Liebe hatte vorher nicht darüber gedacht; aber er spricht sein Vertrauen aus, dass sie sich an dem Gedanken, dass er erquickt worden sei, erfreuen würden. Es ist rührend zu sehen, wie die Liebe des Apostels bemüht ist, in den Herzen der Korinther das Gefühl der Liebe und der Gemeinschaft durch die Mitteilung zu erwecken, dass diese drei Brüder der Versammlung ihm gedient hätten, und wie er seine Freude mit der ihrigen zu verbinden sucht, um auf diese Weise das Band der Gemeinschaft zu erneuern und zu befestigen.
Wie groß auch die Unordnung der Versammlung zu Korinth sein mochte, so erkennt dennoch der Apostel, wie wir schon bemerkt haben, die Glieder derselben als wahre Christen an, und er will, dass sie sich auch unter einander durch den Kuss der Liebe der allgemeine Ausdruck der brüderlichen Zuneigung als solche anerkennen möchten. „Grüßt einander mit heiligem Kuss“ (V 20). Es mag hier auch bemerkt werden, dass der Apostel, wie wir in Vers 21 und anderen Stellen sehen, Einige gebrauchte, um für ihn zu schreiben. Der Brief an die Galater macht davon eine Ausnahmt. Er bewahrheitete seine Briefe an die Versammlungen dadurch, dass er die Grüße am Ende derselben mit eigener Hand schrieb.
Am Schluss des Briefes haben wir noch einmal Gelegenheit zu sehen, wie völlig der Apostel die Korinther anerkannte. Er sprach ein feierliches Anathema über alle aus, welche den Herrn Jesus nicht liebhatten (V 22). Wenn es solche gab, so wollte er sie nicht anerkennen; aber weit davon entfernt, dies bei ihnen vorauszusetzen, schreibt er ihnen im Gegenteil im letzten Verse: „Meine Liebe sei mit euch allen in Christus Jesus“ (V 24). Wenn mm schon das Herz des Apostels mit solch inniger Zuneigung an einer Versammlung hing, deren Zustand doch so schwach und mangelhaft war, wenn es ihm ein großer Trost war, fähig zu sein, sie alle in Liebe anzuerkennen, wie vielmehr konnten sie dann, und wir mit ihnen, überzeugt sein von der Liebe dessen, der, um uns vom ewigen Verderben zu erretten, sein teures Leben in den schmählichen Kreuzestod dahingegeben hat, und der, obwohl Er mit heiligem Ernst uns ermahnt und züchtigt, uns zu gleicher Zeit mit so vieler Geduld, Liebe und Sanftmut trägt und leitet. Auch dieser Brief ist ein Zeugnis seiner innigen Liebe und Fürsorge gegen uns. Er hat die traurigen Zustände in Korinth benutzt, um uns mancherlei Unterweisungen zu geben, um uns in vielen Stücken, sowohl in Betreff unserer selbst als auch in Betreff der Versammlung, seinen wohlgefälligen Willen verstehen zu lassen. O möchten auch durch die Gnade unsere Herzen recht willig und bereit sein, nicht allein mit Eifer seinen wohlgefälligen Willen zu erforschen, sondern ihn auch durch die Kraft des Heiligen Geistes mit Treue zu erfüllen!