Botschafter des Heils in Christo 1862
Das Mitgefühl und die Gnade des Herrn Jesus
In den beiden angeführten Schriftabschnitten sind uns zwei verschiedene Zustände des menschlichen Herzens vorgestellt, welche beide in dem Mitgefühl und der Gnade Jesu ihre Antwort finden. Lasst uns sie recht genau betrachten; und der Heilige Geist möge uns befähigen, aus ihrer köstlichen Belehrung einen reichen Nutzen zu ziehen.
Es war ohne Zweifel ein Augenblick des tiefsten Schmerzes für die Jünger Johannes, als ihr Meister durch das Schwert des Herodes gefallen war, als der eine, an den sie sich zu lehnen gewohnt waren, von dessen Lippen sie die gesegnetsten Belehrungen empfangen hatten, auf eine so traurige Weise von ihnen weggenommen war. Wir dürfen sicher überzeugt sein, dass dies ein Augenblick großen Kummers und tiefer Betrübnis für die Anhänger des Täufers war.
Doch einer war da, zu dem sie mit ihrem Kummer kommen, zu dessen Ohr sie ihre Trauerbotschaft bringen konnten – Einer, von dem ihr Lehrer oft gesprochen, zu dem er hingewiesen, und von dem er gesagt hatte: „Er muss wachsen; ich aber geringer werden.“ Zu Ihm wandten sich die beraubten Jünger, wie wir in Matthäus 14,12 lesen: „Und sie kamen herzu, nahmen den Leib und begruben ihn. Und sie kamen und berichteten es Jesu.“ Das war das Beste, was sie tun konnten. Es gab auf der ganzen Erde kein anderes Herz, in welchem sie eine solche Antwort würden gefunden haben, als in dem Herzen – dem zärtlichen und liebenden Herzen Jesu. Sein Mitgefühl war vollkommen und Er kannte ihren ganzen Kummer; Er kannte ihren Verlust und wusste, was sie darüber fühlten. Gewiss, sie handelten weise, als „sie kamen und berichteten es Jesu.“ Sein Ohr war immer geöffnet, und sein Herz hatte immer Muße, zu lindern und mitzufühlen. Er verwirklichte vollkommen die Vorschrift, die später der Heilige Geist den Seinen gab: „Freut euch mit den Fröhlichen und weint mit den Weinenden“ (Röm 12,15).
O wie schätzbar ist wahres Mitgefühl! Sicher ist niemand fähig, den Wert von jemanden zu ermessen, der in Wirklichkeit alle deine Leiden und Freuden zu den seinigen machen kann. Und Gott sei Dank! Wir haben einen, der es vermag: unser geliebter Jesus. Sind wir auch nicht fähig, Ihn mit unserem leiblichen Auge zu sehen, so kann doch der Glaube Ihn genießen, und zwar in der ganzen Köstlichkeit und Macht seines vollkommenen Mitgefühls. Wir können, wenn anders unser Glaube einfältig und kindlich ist, von dem Grab, in welches wir soeben die Überreste eines innig geliebten Gegenstandes gelegt haben, zu den Füßen Jesu hineilen, und dort den Kummer eines beraubten und zerrissenen Herzens ausschütten. Wir werden dort keiner schnöden Abweisung begegnen, keinem herzlosen Tadel über unsere Torheit und Schwachheit in Betreff eines zu tiefen Gefühls, noch einer ungeschickten Bemühung, uns irgendetwas passendes zu sagen, uns auf eine oberflächliche Weise Beileid zu bezeugen. O nein; Jesus weiß wirklich mitzufühlen mit einem Herzen das unter dem schweren Gewicht des Kummers seufzt und niedergedrückt ist. Er hat ein vollkommen menschliches Herz. – Welch ein Gedanke! Welch ein Vorrecht, zu allen Zeiten, an allen Orten und in allen Umständen Zutritt zu haben zu einem vollkommenen menschlichen Herzen! Hienieden werden wir dieses vergeblich suchen, ja vergeblich nicht nur in der Welt, sondern auch in der Versammlung. Es mag in vielen Fällen ein Verlangen da sein, wirklich mitzufühlen; aber die Fähigkeit wird gänzlich mangeln. Ich kann in Stunden des Kummers mit jemanden zusammen sein, der nichts von meinem Kummer und dessen Quellen weiß, wie kann er Mitgefühl haben? Und wenn ich ihm mein Herz öffne, so ist möglicherweise sein Herz mit anderen Dingen beschäftigt, so dass er für meinen Schmerz keinen Platz und keine Muße hat.
Es ist aber nicht so mit dem vollkommenen Menschen Jesus Christus. Er hat beides, Platz und Muße, für jeden und für alles. Es bleibt sich gleich, wann, wie und womit du kommst, das Herz Jesu ist immer geöffnet. Er weist nie ab; und nie fehlt, noch täuscht Er. Was sollten wir deshalb tun, wenn irgendein Kummer unser Herz niederbeugt? Dasselbe, was die Jünger Johannes taten: „Hingehen und es Jesu sagen.“ Dies zu tun, ist stets das Beste. Lasst uns direkt vom Grab zu den Füßen Jesu eilen. Er wird unsere Tränen trocknen, unseren Kummer stillen, unsere Wunden heilen und unsere Leere ausfüllen. O möchte der Heilige Geist uns immer mehr ermuntern, in all unseren Umständen zuerst zu unserem geliebten Jesus zu kommen und vor Ihm unsere Herzen auszuschütten!
Wir wollen jetzt einen anderen Zustand des Herzens betrachten der sich uns in den zwölf Aposteln darstellt, als sie von einer erfolgreichen Mission zurückgekehrt waren. „Und es versammeln sich die Apostel zu Jesu, und sie erzählten Ihm alles, beides, was sie getan und was sie gelehrt hatten“ (Mk 6,30). In diesem Fall handelt es sich nicht um Kummer oder Beraubung, sondern um Freude und Ermunterung. Die Zwölf nahmen ihren Weg zu Jesu, um ihren Erfolg zu erzählen, sowie jene Jünger Johannes zu Ihm kamen, um Ihm ihren Verlust mitzuteilen. Jesus war für beides passend. Er konnte sowohl dem Herzen begegnen, das durch Kummer niedergebeugt, als auch dem Herzen, das stolz auf seinen Erfolg war. Er wusste das eine wie das andere zu behandeln, zu mildern und zu leiten. Gepriesen sei für immer sein herrlicher Name!
„Und Er sprach zu ihnen: Kommt ihr selbst an einen wüsten Ort besonders und ruht ein wenig aus! – denn es waren viele, welche kamen und fortgingen, und sie fanden nicht einmal Muße, um zu essen“ (V 31). Hier sind wir nun zu einem Punkt gebracht, wo die moralische Herrlichkeit Christi in einem ungewöhnlichen Glänze hervorstrahlt, und die Selbstsucht unserer armen, engen Herzen korrigiert. Wir werden hier mit unverkennbarer Klarheit belehrt, dass Jesus nie, wenn wir Ihn zum Aufbewahrer all unserer Gedanken und Gefühle machen, in uns einen Geist stolzer Selbstgenügsamkeit und Unabhängigkeit oder ein Gefühl der Verachtung gegen andere bewirkt. Ganz das Gegenteil. Je mehr wir mit Jesu zu tun haben, desto mehr werden unsere Herzen geöffnet sein, dem menschlichen Bedürfnisse in seinen verschiedenartigen Formen, die sich von Tag zu Tag unseren Blicken darstellen, zu begegnen. Wenn wir zu Jesu kommen und unser ganzes Herz vor Ihm ausschütten, wenn wir Ihm unseren Schmerz und unsere Freuden mitteilen und unsere ganze Bürde zu seinen Füßen niederlegen, so werden wir in Wahrheit lernen, ein Gefühl für andere zu haben.
Eine wunderbare Schönheit und Kraft liegt in den Worten: „Kommt ihr selbst besonders.“ Er sagt nicht: „Geht.“ Dies würde Er nie tun. Es ist von keinem Nutzen, an einen wüsten Ort besonders zu gehen, wenn Jesus nicht dort hingeht. Ohne Jesus in die Einsamkeit zu gehen, ist nur, um unsere kalten und engen Herzen nur noch kälter und enger zu machen. Ich kann mich voll Unmut und getäuschter Erwartung von der Szene um mich her zurückziehen, um mich in eine unempfindliche Selbstsucht einzuhüllen; ich kann meinen, dass meine Umgebung nicht genug aus mir gemacht habe, und mich zurückziehen, um selbst recht viel aus mir zu machen; ich kann mich zum Mittelpunkt aller meiner Gedanken machen, und werde dann ein kaltherziges, verschlossenes und elendes Geschöpf sein. Wenn aber Jesus sagt: „Komm!“ so ist das eine andere Sache. Unsere schönsten, moralischen Aufgaben haben wir allein bei Jesu gelernt. Wir können die Atmosphäre seiner Gegenwart nicht einatmen, ohne dass unsere Herzen erweitert werden. Würden die Apostel ohne Jesus in die Wüste gegangen sein, so würden sie ohne Zweifel die Brote und Fische selbst gegessen haben; als sie aber mit Ihm hingingen, da lernten sie etwas anders. Er wusste sowohl dem Bedürfnis einer hungrigen Menge zu begegnen, als auch einer Anzahl niedergebeugter oder sich freuender Jünger; das Mitgefühl und die Gnade Jesu sind vollkommen. Er kann allen begegnen. Ist jemand beschwert, er kann zu Jesu gehen; ist jemand glücklich, er kann zu Jesu gehen; ist jemand hungrig, er kann zu Jesu gehen. Wir können mit allem zu Jesu kommen; denn in Ihm wohnt die ganze Fülle; und – gepriesen sei sein Name! – Er sendet nie jemand leer zurück.
Nicht aber war es so mit seinen Jüngern. Wie niedrig erscheint ihre Selbstsucht, wenn sie im Licht seiner anbetungswürdigen Gnade betrachtet werden. „Und als Jesus heraustrat, sah er eine große Volksmenge, und wurde innerlich bewegt über sie; denn sie waren wie Schafe, die keinen Hirten haben; und Er fing an, sie vieles zu lehren“ (V 34). Er war an einen wüsten Ort gegangen, um seinen Jüngern Ruhe zu geben; aber kaum zeigte sich das menschliche Bedürfnis, da strömte augenblicklich der tief fließende Strom des Mitleids aus seinem Herzen hervor.
„Und als es schon spät an der Zeit war, traten seine Jünger zu Ihm und sagten: Der Ort ist wüste, und es ist schon spät an der Zeit; entlass sie“ (V 35). Ach, welche Worte kommen hier von den Lippen der Menschen, die soeben von der Predigt des Evangeliums zurückgekehrt waren! „Entlass sie!“ Es ist sicher eine andere Sache, Gnade zu predigen, als Gnade auszuüben. Es ist ohne Zweifel gut, sie zu predigen, aber es ist auch gut, sie auszuüben; und in der Tat, wird die Predigt wenig Wert haben, wenn sie nicht mit der Ausübung verbunden ist. Es ist gut, den Unwissenden zu belehren; aber es ist auch gut, den Hungrigen zu speisen. Das Letztere ist oft mit mehr Verleugnung verbunden, als das Erstere. Es mag uns nichts kosten, jemandem zu predigen; aber es mag uns wohl etwas kosten, jemanden zu speisen; und wir lieben es nicht, unseren eigenen Vorrat zu verringern. Das Herz weiß oft tausend Entschuldigungen hervorzubringen: „Was soll es mit mir, was mit meiner Familie werden? Wir müssen weise handeln. Wir müssen auch an uns selbst denken. Wir können doch auch nicht alles tun.“ Diese und ähnliche Überlegungen bringt das selbstsüchtige Herz hervor, wenn sowohl die eigenen, als auch die Bedürfnisse anderer an uns herantreten.
„Entlass sie.“ Was bewog die Jünger, also zu sprechen? Was war die eigentliche Quelle dieser selbstsüchtigen Forderung? Einfach der Unglaube. Hätten sie daran gedacht, dass derjenige in ihrer Mitte war, der in der Wüste vierzig Jahre lang „sechshunderttausend Mann“ gespeist hatte, so würden sie sicher gewusst haben, dass Er nicht eine hungrige Menge entlassen würde. Gewiss, dieselbe Hand, die während einer so langen Zeit ein großes Heer ernährt hatte, konnte leicht fünftausend Mann mit einem einfachen Mal versorgen. Also würde der Glaube urteilen; aber ach! der Unglaube verfinstert den Verstand und verschließt das Herz. Nichts ist so hässlich, als der Unglaube, und nichts verschließt so sehr die Gefühle des Mitleids. Glaube und Liebe gehen immer zusammen, und in dem Maß, als jener wächst, wächst auch diese. Der Glaube öffnet die Schleuse des Herzens und lässt den Strom der Liebe hervorstießen. Der Apostel konnte zu den Thessalonichern sagen: „Euer Glaube wächst sehr, und die Liebe von euch allen zu einander ist überströmend.“ Das ist die göttliche Regel. Ein Herz, das mit Glauben erfüllt ist, ist fähig zu lieben; ein ungläubiges Herz aber ist zu nichts fähig. Der Glaube bringt das Herz in die unmittelbare Nähe des unerschöpflichen Schatzes Gottes, und erfüllt es mit den wohl wollendsten Gefühlen; der Unglaube führt das Herz zu sich selbst, und erfüllt es mit aller Art selbstsüchtiger Besorgnis. Der Glaube leitet uns in die reine, das Herz erweiternde Atmosphäre des Himmels; der Unglaube hüllt uns ein in die verdorbene Atmosphäre dieser herzlosen Welt. Der Glaube befähigt uns, auf die gnadenreichen Worte Christi zu horchen: „Gebt ihr ihnen zu essen;“ der Unglaube lässt uns unsere eignen herzlosen Worte aussprechen: „Entlass die Menge.“ Mit einem Wort, da ist nichts, was das Herz soweit macht, als der einfache Glaube, und nichts, was es so sehr verschließt, als der Unglaube. O, dass doch unser Glaube sehr wachsen möge, damit auch unsere Liebe immer mehr und mehr überströmend werde; und möchten wir aus dieser Betrachtung des Mitgefühls und der Gnade Jesu einen bleibenden Segen ernten.
Welch ein schlagender Gegensatz ist zwischen diesem: „Entlass die Menge!“ und diesem: „Gebt ihr ihnen zu essen!“ Und so ist es immer. Gottes Wege sind nicht unsere Wege; und je mehr wir seine Wege betrachten, desto mehr lernen wir unsere Wege richten; und je mehr wir Ihn betrachten, desto mehr lernen wir uns richten. Jesus korrigiert in dieser lieblichen Szene die Selbstsucht seiner Jünger, zuerst, indem er sie zu Kanälen macht, durch welche seine Gnade der Menge zuströmt, und dann, indem er sie „zwölf Körbe voll der übrigen Brocken“ für sich sammeln lässt.
Dies ist aber noch nicht alles. Nicht nur wird die Selbstsucht getadelt, sondern auch das Herz auf das gesegnetste unterrichtet. Die Natur möchte sagen: „Was können zwei Brote und zwei Fische für so viele helfen? Gewiss, wer eine solche Menge mit diesem kleinen Vorrat sättigen kann, der kann es auch ohne denselben.“ So möchte die Natur urteilen; aber Jesus belehrt uns, „dass jede Kreatur Gottes gut, und nichts verwerflich ist“ (1. Tim 4,4). Wir haben das zu benutzen, was wir durch Gottes Segnung empfangen haben. Dies ist eine schöne, moralische Aufgabe für das Herz. Die Frage ist: „Was hast du in deinem Haus?“ Es ist gerade das, und nichts anderes, was Gott benutzen will. Es ist leicht, freigebig mit dem zu sein, was wir nicht haben; aber es handelt sich darum, das hervorzubringen, was wir haben, und es mit Danksagung zu dem vorliegenden Bedürfnis anzuwenden.
Ebenso verhält es sich mit dem Sammeln der übrigen Brocken. das törichte Herz möchte sagen: „Warum ist es nötig, die Überbleibsel aufzubewahren? Wer ein solches Wunder tun kann, hat diese übriggebliebenen Brocken nicht nötig.“ Ja, aber wir haben die Kreatur Gottes nicht zu verschleudern. Wenn wir beim Gebrauch der Brote und Fische belehrt sind, die Kreatur Gottes nicht zu verachten, so sind wir beim Sammeln der übrigen Brocken belehrt, sie nicht umkommen zu lassen. Lasst uns der menschlichen Noch freigebig begegnen; aber lasst uns auch besorgt sein, dass nicht ein Krümmchen umkomme. Wie göttlich vollkommen, und – wie ungleich uns! Zu einer Zeit sind wir karg und zur anderen verschwenderisch. Jesus war nie, weder das eine noch das andere: „Gebt ihr ihnen zu essen;“ aber: „lasst nichts umkommen.“ Welch eine vollkommene Gnade und Weisheit! Mögen wir sie bewundern und Zugleich nachahmen! Mögen wir uns in dem Bewusstsein erfreuen, dass der, der alle diese Weisheit und Gnade offenbart, unser Leben ist! Christus ist unser Leben, und das praktische Christentum ist die Offenbarung dieses Lebens. Es ist nicht ein Leben, hervorgebracht durch Anordnungen und Vorschriften, sondern das Wohnen Christi im Herzen durch Glauben – es ist Christus, die Quelle des vollkommenen Mitgefühls und der vollkommenen Gnade.