Botschafter des Heils in Christo 1862
Saulus von Tarsus
Bei der Betrachtung des Charakters dieses höchst merkwürdigen Mannes werden uns einige der klarsten Grundsätze evangelischer Wahrheit entgegentreten, welche wert sind, mit Aufmerksamkeit betrachtet zu werden. Es scheint, dass gerade er besonders geeignet gewesen ist, zu zeigen, zuerst, was die Gnade Gottes zu tun vermag, und dann, was die größte Anstrengung gesetzlicher Tätigkeit nicht vermag.
Wenn es je einen Menschen auf dieser Erde gab, dessen Geschichte einen Beleg der Wahrheit gibt, dass „wir durch die Gnade errettet sind, ohne Gesetzes Werk“, so war Saulus von Tarsus dieser Mensch. In der Tat, es scheint fast, als ob Gott in der Person des Saulus hätte ein lebendiges Beispiel darstellen wollen, erstens, von der Tiefe, bis zu welcher ein Sünder fallen, und zweitens, von der Höhe, bis zu welcher ein gesetzlicher Mensch gelangen kann. Er war zu gleicher Zeit der allerschlechteste und der allerbeste der Menschen, der vornehmste der Sünder und der vornehmste der Gesetzesmenschen. Er fiel herab bis zu der niedrigsten Stufe menschlicher Gottlosigkeit, und er stieg hinauf bis zu dem höchsten Gipfel menschlicher Gerechtigkeit. Er war ein Sünder der Sünder, und ein Pharisäer der Pharisäer. Lasst uns ihn denn zuerst betrachten als den vornehmsten der Sünder.
„Das Wort ist treu, und aller Annahme wert, dass Christus Jesus in die Welt gekommen ist, Sünder zu retten, von welchen ich der vornehmste bin“ (1. Tim 1,15). Der Leser möge insbesondere bemerken, dass der Geist Gottes hinsichtlich Sauls von Tarsus es ausspricht, dass er der vornehmste der Sünder war. Es ist nicht der Ausdruck der Demut des Paulus, obgleich er ohne Zweifel, in dem Bewusstsein dessen, was er gewesen, demütig war. Wir haben uns nicht mit den Gefühlen eines vom Heiligen Geist getriebenen Schreibers zu beschäftigen, sondern mit den Berichten des Heiligen Geistes selbst, welcher ihn getrieben. Es ist gut, dies zu beachten. Sehr viele reden von den verschiedenen heiligen Schriftstellern in einer Weise, welche die Kraft und Bedeutung jener köstlichen Wahrheit: die völlige Eingebung der heiligen Schrift, abschwächt.
Sie mögen dies nicht beabsichtigen, aber in einer Zeit wie die gegenwärtige, worin sich so viel geistige Tätigkeit, so viel Vernunft, so viel menschliche Spekulation breitmacht, können wir uns nicht genug schützen gegen alles, was sich, selbst dem Schein nach, gegen die Reinheit und Unfehlbarkeit des Wortes Gottes auflehnen möchte. Wir sind ernstlich bemüht, dass unsere Leser die allerhöchsten Gedanken hinsichtlich dieses heiligen Buches unterhalten und hegen; dass sie es in der tiefsten Empfindung ihres Herzens schätzen, nicht als den Ausdruck menschlicher Gefühle, wie fromm und preiswürdig diese auch sein mögen, sondern als den Schatzkasten der Gedanken Gottes. „Denn die Weissagung ward niemals durch den Willen des Menschen hervorgebracht, sondern getrieben vom Heiligen Geist, redeten die heiligen Männer Gottes“ (2. Pet 1,21).
Indem wir daher 1. Timotheus 1,15 lesen, haben wir es nicht mit den Gefühlen eines Menschen, sondern mit der Urkunde Gottes zu tun; und diese Urkunde erklärt, dass Paulus der vornehmste der Sünder war. Es ist nicht ein einziges Mal von irgendeinem anderen gesagt, dass er der vornehmste der Sünder gewesen sei. Ohne Zweifel wird, in einem untergeordneten Sinne, ein jedes von der Sünde überführte Herz sich selbst, soweit seine Erkenntnis reicht, als das böseste Herz fühlen und bekennen; aber dies ist eine ganz andere Sache. Der Heilige Geist hat von Paulus, und von keinem anderen erklärt, dass er der vornehmste der Sünder sei, und die Tatsache, dass Er uns dies durch die Feder des Paulus selbst berichtet hat, trübt oder schwächt nicht im geringsten die Wahrheit und den Wert des Berichts selbst. Paulus war der vornehmste der Sünder. Wie schlecht irgendjemand auch sein mag, Paulus konnte sagen: „ich bin der vornehmste.“ Wie niedrig sich irgendjemand auch fühlen mag, wie tief versunken in den Abgrund des Verderbens – eine Stimme ertönt an sein Ohr von einer noch tieferen Stufe: „ich bin der vornehmste.“ Es kann keine zwei „vornehmste“ geben; denn wenn es so wäre, so konnte nur gesagt werden, dass Paulus einer von ihnen gewesen sei, während es mit der größten Bestimmtheit bezeugt wird, dass er der „vornehmste“ war.
Aber lasst uns die Wege Gottes mit dem vornehmsten der Sünder näher betrachten. „Deswegen aber habe ich Barmherzigkeit empfangen, auf dass an mir zuerst Jesus Christus die ganze Langmut erzeige, um ein Beispiel denen darzustellen, die an Ihn zum ewigen Leben glauben würden.“ – Der vornehmste der Sünder ist im Himmel. Wie kam er dorthin? Allein durch das Blut Jesu; und er ist sogar von Christus als ein „Beispiel“ dargestellt. Alle mögen ihn anschauen und sehen, auf welche Weise auch sie errettet werden sollen; denn in derselben Weise wie der „vornehmste“ errettet wurde, müssen alle nachfolgenden errettet werden. Die Gnade, die den vornehmsten erreichte kann alle erreichen. Das Blut, welches den vornehmsten reinigte kann alle reinigen. Das Recht, durch welches der vornehmste in den Himmel einging, ist das Recht für alle. Der verworfenste Sünder unter dem Himmel möge aufhorchen, wenn Paulus sagt: „ich bin der vornehmste, und dennoch habe ich Barmherzigkeit empfangen. Siehe in mir ein Beispiel der Langmut Jesu Christi.“ Es gibt keinen Sünder diesseits der Pforte zur Hölle, sei er ein Abtrünniger oder irgendetwas anders, der außerhalb des Bereichs der Liebe Gottes, des Blutes Christi, oder des Zeugnisses des Heiligen Geistes steht. Wir wollen jetzt zu der anderen Seite von Sauls Charakter zurückkehren, und ihn betrachten als den vornehmsten der Gesetzesmenschen.
„Ob ich schon habe, auch auf Fleisch zu vertrauen. Wenn irgendein anderer meint, dass er habe auf Fleisch zu vertrauen – ich noch mehr“ (Phil 3,4). Hier haben wir einen höchst wichtigen Punkt vor uns. Saul von Tarsus stand in der Tat auf dem wirklich erhabensten Felsen der Anhöhe menschlicher Gerechtigkeit. Er hatte die höchste Stufe auf der Leiter menschlicher Religion erreicht. Er wollte nicht einen einzigen Menschen über sich dulden. Seine religiösen Vorzüge waren wirklich von höchstem Rang; denn er sagt: „Und ich nahm zu im Judentum über viele meines Alters in meinem Geschlecht, indem ich übermäßig ein Eiferer war für die Überlieferungen meiner Väter“ (Gal 1,14). niemand übertraf ihn in dem Ringen nach einer Selbstgerechtigkeit. „Wenn irgendein anderer meint, dass er habe auf Fleisch zu vertrauen – ich noch mehr.“ Ist irgendein anderer, welcher auf seine Mäßigkeit „vertraut“? Paulus konnte sagen: „ich noch mehr.“ Ist irgendein anderer, welcher auf seine Moralität „vertraut“? Paulus konnte sagen: „ich noch mehr.“ Ist irgendein anderer, welcher auf Satzungen, auf Sakramente, auf religiöse Beobachtungen oder fromme Gebräuche „vertraut“? Paulus konnte sagen: „ich noch mehr.“ Ist irgendein anderer, der auf das pomphafte Gewand der Rechtgläubigkeit „vertraut“, in das er sich stolz einhüllt? Paulus konnte sagen: „ich noch mehr.“ Mit einem Wort: lasst einen Menschen die Anhöhe gesetzlicher Gerechtigkeit ersteigen, so hoch als der hochfliegendste Ehrgeiz oder der glühendste Eifer ihn zu führen vermag, und er wird aus einer noch größeren, Höhe eine Stimme an sein Ohr ertönen hören: „ich noch mehr.“
Alles dies verleiht der Geschichte Sauls von Tarsus einen besonderen Wert. Er lag in der tiefsten Tiefe des Abgrundes des Verderbens und er stand auf dem höchsten Gipfel der Selbstgerechtigkeit. So tief irgendein Sünder mag gesunken sein, Paulus noch tiefer. So hoch irgendein Gesetzesmensch mag gestanden haben, Paulus stand noch höher. Er vereinigte in seiner Person den allerschlechtesten und den allerbesten der Menschen. In ihm sehen wir mit einem Blick die Kraft des Blutes Christi und die äußerste Wertlosigkeit des schönsten Gewandes der Selbstgerechtigkeit, das jemals die Person eines Gesetzesmenschen bedeckte. Schaut man auf ihn – kein Sünder braucht zu verzweifeln; schaut man auf ihn – kein Gesetzesmensch kann sich rühmen. Ist der vornehmste der Sünder im Himmel, so kann auch ich dorthin gelangen. Ist der religiöseste, gesetzlichste und werkgerechteste Mensch, welcher jemals gelebt hat, herab gekommen von der Leiter der Selbstgerechtigkeit, so hat es keinen Wert für mich, hinauf zu steigen. Saulus von Tarsus kam herauf aus der Tiefe, und herab von der Höhe, und fand seine Ruhestätte zu den Füßen – den durchgrabenen Füßen Jesu von Nazareth. Seine Schuld war kein Hindernis, und seine Gerechtigkeit ohne Nutzen. Die erstere war hinweggewaschen durch das Blut, und die letztere in Unrat und Dreck umgewandelt durch die Herrlichkeit Christi. Es ist gleichgültig, ob von ihm es hieß: „ich vornehmster“ oder: „ich noch mehr;“ – das Kreuz war das alleinige Heilmittel. „Mir aber sei es ferne“, fügt dieser Vornehmste der Sünder und Fürst der Gesetzesmenschen hinzu, „mich zu rühmen, es sei denn in dem Kreuz Jesu Christi, wodurch mir die Welt gekreuzigt ist, und ich der Welt“ (Gal 6,14). Paulus dachte ebenso wenig daran, auf seine Gerechtigkeit zu vertrauen, als aus seine Übeltaten. Es war ihm erlaubt worden, in dem großen gesetzlichen Ringen mit „vielen seines Alters in seinem Geschlecht“ den Sieges–Lorbeer zu gewinnen, nur, damit er ihn als verwelktes, wertloses Ding am Fuß des Kreuzes niederwürfe. Es war ihm erlaubt worden, auf der dunklen Laufbahn der Sünde, alle zu übertreffen, nur damit er ein Beispiel der Kraft der Liebe Gottes und der Wirksamkeit des Blutes Christi sei. Das Evangelium hat eine zweifache Stimme. Es ruft den Sklaven des Lasters, der sich in dem Schlamm moralischer Befleckung wälzt, und sagt: „Komm herauf.“ Es ruft den geschäftigen Selbstgerechten, der sich vergeblich abmüht, den jähen Abhang des Sinai zu erklimmen, und sagt: „Komm herab.“ Saul war Christus nicht näher als der vornehmste der Gesetzesmenschen; wie er es war als der vornehmste der Sünder. Es war kein größerer Wert zu seiner Rechtfertigung in seinen edelsten Anstrengungen in der Schule des Gesetzes, als in seiner wildesten Verfolgung des Namens Christi. Er wurde errettet durch Gnade, errettet durch Blut, errettet durch Glauben. Es gibt keinen anderen Weg für den Sünder, wie für den Gesetzesmenschen.
Soviel von Saulus von Tarsus in seinem doppelten Charakter, als vornehmster der Sünder und vornehmster der Gesetzesmenschen. Es gibt aber noch einen anderen Punkt in seiner Geschichte, worauf wir in der Kürze einen flüchtigen Blick werfen müssen, um die lebendigen Früchte der Gnade Christi, wo immer diese Gnade erkannt wird, zu zeigen. Dies wird ihn unserer Betrachtung darstellen als
den arbeitsamsten der Apostel.
Als Paulus aufhören lernte, für seine Gerechtigkeit zu arbeiten, da lernte er auch anfangen, für Christus zu arbeiten. Wenn wir auf der Straße, die nach Damaskus führt, die zertrümmerten Bruchstücke des schlechtesten und besten der Menschen sehen – wenn wir diese feierlichen Worte aus der Tiefe eines gebrochenen Herzens hören: „Herr, wer bist du?“ – wenn wir diesen Mann sehen, wie er, Drohung und Mord schnaubend, eben Jerusalem verlassen hatte, und nun die Hand blinder Hilflosigkeit ausstreckt, um wie ein kleines Kind nach Damaskus geführt zu werden, so sind wir geneigt, uns die höchsten Erwartungen hinsichtlich seiner ferneren Laufbahn zu bilden; und wir werden nicht getäuscht. Man sehe den Fortschritt und die Zunahme dieses höchst merkwürdigen Mannes; sehe seine riesenhaften Arbeiten in dem Weinberg Christi; sehe seine Tränen, seine Mühen, seine Reisen, seine Gefahren, seine Kämpfe; sehe ihn, wie er seine goldenen Garben in die himmlische Scheuer bringt und sie zu den Füßen des Meisters niederlegt; sehe ihn die ehrende Bande des Evangeliums tragen, und endlich sein Haupt auf eines Märtyrers Block legen, und nun sage man, ob das Evangelium von der freien Gnade Gottes – das Evangelium von der freien Errettung Christi die guten Werke beseitigt oder ob es sie hervorbringt? Nein, lieber Leser, jenes Evangelium ist die allein wahre Grundlage, auf welcher das Gebäude guter Werke allein errichtet werden kann. Moralität ohne Christus ist eine eisige Moralität; Wohlwollen ohne Christus ist ein wertloses Wohlwollen; Satzungen ohne Christus sind kraftlos und nutzlos. Rechtgläubigkeit ohne Christus ist herzlos und fruchtlos. Wir müssen mit dem selbst zu Ende kommen, einerlei, ob es ein schuldiges oder religiöses Selbst ist, und müssen Christus als den allein befriedigenden Teil unserer Herzen finden, für jetzt und immerdar. Dann werden wir fähig sein, in Wahrheit zu sagen: „Ich fühl's, du bist's, dich muss ich haben,
Ich fühl's, ich darf für dich nur sein.
Nicht im Geschöpf, nicht in den Gaben,
Mein Ruheort ist in dir allein.“ Also war es mit Saulus von Tarsus. Er hatte sich selbst aufgegeben und sein alles in Christus gefunden, und wir hören daher, beim Betrachten seiner denkwürdigen Geschichte, aus der dunkelsten Tiefe moralischen Verderbens, die Worte: „ich bin der vornehmste“, – von der erhabensten Stufe gesetzlichen Wesens, die Worte: „ich noch mehr“, – und von dem goldenen Felde apostolischer Arbeit, die Worte: „ich habe mehr gearbeitet, denn sie alle.“