Botschafter des Heils in Christo 1861
Die kananäische Frau
„Und Jesus ging aus von dort und zog sich zurück in das Gebiet von Tyrus und Sidon; und siehe, eine kananäische Frau, die aus jenem Gebiet hergekommen war, schrie und sprach: Erbarme dich meiner, Herr, Sohn Davids! Meine Tochter ist schlimm besessen. Er aber antwortete ihr nicht ein Wort. Und seine Jünger traten herzu und baten ihn und sprachen: Entlass sie, denn sie schreit hinter uns her. Er aber antwortete und sprach: Ich bin nur zu den verlorenen Schafen des Hauses Israel gesandt. Sie aber kam und warf sich vor ihm nieder und sprach: Herr, hilf mir! Er aber antwortete und sprach: Es ist nicht schön, das Brot der Kinder zu nehmen und den Hunden hinzuwerfen. Sie aber sprach: Ja, Herr; und doch fressen die Hunde von den Brotkrumen, die von dem Tisch ihrer Herren fallen. Da antwortete Jesus und sprach zu ihr: O Frau, dein Glaube ist groß; dir geschehe, wie du willst. Und ihre Tochter war geheilt von jener Stunde an.
Und Jesus ging von dort weg und kam an den See von Galiläa; und als er auf den Berg gestiegen war, setzte er sich dort“ (Mt 15,21–29).
Wie erquicklich ist es, den Pfad des Herrn Jesus hienieden zu verfolgen! Von einer Szene des Leidens und des Kummers ging Er zur anderen und spendete Segnungen mit offener Hand. Er begegnete jeder Noch, und erfüllte jede Bitte; nicht einen Bedürftigen schickte Er leer von sich. Und je vertrauensvoller der Glaube für irgendeine Segnung Ihm nahte, desto mehr erfreute sich sein Herz; denn Er war gekommen, um zu geben. Er hatte das Reich, wo alle Segnungen im Überfluss sind, verlassen, um den verdorbenen Sünder zu befreien, und um ihn jener Segnungen teilhaftig zu machen. – Obgleich aber der Herr seine Freude daran hat, den Glauben zu befriedigen, so gefällt es Ihm doch oft, denselben zuerst auf die Probe zu stellen. Er will haben, dass wir ganz auf Ihn vertrauen und viel von Ihm erwarten sollen; ebenso will Er haben, dass der Sünder seinen Platz vor Ihm, als ein Verworfener, nehme, als solcher, der keinen Anspruch auf seine Gnade habe.
Die Geschichte des kanaanäischen Weibes liefert uns für das Gesagte ein schönes Beispiel. Der Herr gewährt ihre ganze Bitte; aber zuerst übt Er sie im Empfang derselben. Sie war keine Jüdin. Sie gehörte einer Stadt an, welche als ein verderbter Ort bezeichnet war, und sie war von einem Geschlecht, auf welchem der Fluch ruhte (1.Mo 9,25). Sie hatte keine Ansprüche an den Herrn, sondern war im vollen Sinne des Worts eine Verworfene. Jedoch war sie in Not, und in ihrer Not hörte sie von dem Herrn Jesus. Sie glaubte an Ihn, als den verheißenen Erretter, den Sohn Davids; und als solchen rief sie Ihn an. Sie hatte gehört, wie viele Gnaden Er unter den Juden gespendet hatte, und sie kommt zu Ihm und bittet um Hilfe. Doch der Herr antwortet ihr nicht. Er nimmt von ihrer Anrufung keine Notiz; sein Ohr ist für ihre Bitte verschlossen. Warum das? Sie wandte sich an Ihn, als „Sohn Davids“, in seinem jüdischen Charakter, als wenn sie eine ans jenem bevorzugten Geschlecht gewesen wäre. Aber als „Sohn Davids“ konnte Er nichts mit einer Kanaaniterin zu tun haben, und in diesem Charakter konnte auch sie keinen Anteil an Ihm haben.
Die Jünger, beunruhigt durch ihren Kummer, wünschten sehr, dass der Herr sie durch Erhörung ihrer Bitte von sich lasse; aber Jesus blieb seinem Auftrag treu; Er beobachtete den Befehl Gottes. „Ich bin nicht gesandt“, erwiderte Er, „es sei denn zu den verlorenen Schafen von dem Haus Israel.“ Sie aber wurde durch diese Antwort nicht entmutigt und rief, zwar in einfachen: doch noch freien: Ausdrücken: „Herr hilf mir!“ Allein auch jetzt gewährt der Herr ihre Bitte nicht. Er antwortet: „Es ziemt sich nicht, das Brot den Kindern zu nehmen und es den Hunden hinzuwerfen. Ich bin zu den Kindern gekommen, um an dem jüdischen Weinstock, der Gottes Eigentum ist, Frucht zu suchen, und auf diesem Grund habt ihr Heiden keinen Anspruch.“ – Soweit die Wege Gottes äußerlich offenbart waren, waren die Juden sein Volk; und jene gehörte nicht zu diesem Volk. Sie war ein heidnischer Hund. Was hatte sie nun noch zu hoffen? Warum gab sie ihr Gesuch nicht auf? O nein; sie war in der Tat ein heidnischer Hund, und als ein solcher nahm sie jetzt ihren Platz vor dem Herrn ein. Sie gab jedes Recht und jeden Anspruch auf und warf sich ganz auf das freie Erbarmen in Jesu. Sie wusste, an wen sie sich wandte. Ihr Glaube ehrte Ihn als den Schatz der überströmenden Gnade Gottes, welche sogar die Bedürfnisse einer solchen, wie sie war, befriedigen konnte. „Ja Herr!“ erwiderte sie; „denn es essen ja auch die Hunde von den Brosamen, welche von dem Tisch ihrer Herren fallen.“ Ach! sie kannte den Herrn des Hauses; sie wusste, dass Er unendlich reich war. Sie kannte die Gnade Gottes in Jesu weit besser als die Jünger, die Ihm nachfolgten. Sie wusste, dass der Geringste in dem überschwänglichen Vorrat des Hauses des Herrn alle seine Bedürfnisse befriedigen konnte.
Wir werden nie wirklich verstehen, was Gott ist. bis wir unsere eigene Unwürdigkeit erkannt haben. Israel verstand nie die Gnade Gottes, wie diese arme, gläubige Kanaaniterin sie verstand. Erfüllt mit ihrem Selbstvertrauen verwarfen sie dieselbe. Diese dagegen wurde durch das Bewusstsein ihrer Verworfenheit und durch ihre Not zu Jesu geführt, und ihr Glaube entdeckte in Ihm, welcher herniedergekommen war, um den menschlichen Bedürfnissen zu begegnen, den Reichtum der Gnade Gottes. Sie wusste, dass Gott in der Fülle seiner Liebe sogar die heidnischen Hunde von der Teilnahme seiner Güte nicht ausschließen würde. Sie ehrte Gott als einen milden Geber, und dies ist sein Charakter, in welchem Er im Evangelium offenbart ist, und sie kam in dem Gefühl und mit dem Bekenntnis ihrer völligen Unwürdigkeit. Sobald sie dieses tat, nahm der Herr jede Scheidewand hinweg. Er der Freund und Heiland der Sünder, hob auf einmal jeden Unterschied zwischen sich und der Sünderin auf. Sein Schatz der überströmenden Gnade wurde für sie geöffnet; Er stellt seinen unendlichen Reichtum zu ihrer Verfügung. „O Weib, dein Glaube ist groß; dir geschehe, wie du willst!“
Und nun, mein geliebter Leser, hast auch du erkannt, was du bist und was Gott ist? Hast du deine eigene Unwürdigkeit im Angesicht Gottes gesehen? Hast du erkannt, dass du um nichts besser bist, als jenes kanaanäische Weib? Bist du ebenso arm zu Gott gekommen, wie sie – als ein solcher, der nichts Gutes in sich selbst hat, der durch seine Sünden nicht nur verdorben, sondern auch völlig unfähig ist, sich selbst zu helfen, – dann, ja dann wirst auch du erfahren haben, wie überschwänglich reich seine Gnade ist. Vertraust du aber noch, wie jene ungläubige Masse der Juden, auf dich selbst, auf dein Tun und Lassen und beharrst darin, so bist du für immer von jeglicher Segnung ausgeschlossen.
Gottes Freude ist es, zu geben; aber das Gefäß, welches Er erfüllt, muss leer sein. Der Sünder muss von aller eigenen Gerechtigkeit entblößt sein, ehe Gott ihn mit einem Kleid aus seinem Schatzhaus bekleidet. Er muss durch das Bewusstsein seines wahren Zustandes erniedrigt sein, ehe Gott ihn erhöht. Alle Gedanken von Würdigkeit müssen aufgegeben werden; denn zwischen dem Menschen und Gott ist kein Platz für sie.
In der Person Christi ist Gott zu den Menschen herniedergekommen. Er hat sich uns nicht offenbart unter den Donnern des Berges Sinai, welchen niemand, ohne zu sterben, anrühren konnte, noch in der Wolkensäule, noch zwischen den Cherubim im Allerheiligsten, noch auf einem königlichen Thron, welchem zu nahm wohl wenige gewagt hätten – nein, Gott ist in denselben Umständen zu uns herniedergekommen, in welchenwir sind; Er hat uns in unserem jämmerlichen Zustand hienieden besucht. Er hat die Strahlen seiner göttlichen Herrlichkeit hier unten in einer Knechtsgestalt verborgen, und ist uns in unserem tiefsten Verderben begegnet; ja, in unserem traurigen Elenden hat Er sich mit uns eins gemacht. Er ist nicht nur gnädig gewesen, sondern hat alle Gnade erzeigt, welche Er erzeigen konnte. Denn die Gnade in dem Sohn Gottes konnte nicht mehr tun, als den Platz mit dem Sünder zu vertauschen; und dies hat Jesus getan. Er hat dadurch die Sünde von uns weggenommen, dass Er sie auf sich nahm. Er hat unser Gericht getragen, damit Er uns zu Teilhaber seiner unendlichen Segnungen machen und auf seinen Thron erheben möchte. Sicher, eine solche Gnade hätte nie das Herz des Menschen ersinnen können – eine solche Gnade konnte ihren Ursprung nur in dem Herzen Gottes haben, und allein in der Person seines Sohnes offenbart werden. O möchte doch ein jeder Sünder im Bewusstsein seiner gänzlichen Verderbtheit und im Vertrauen auf diese unendliche Gnade, gleich jener armen Kanaaniterin, zu Jesu eilen, so würde er auch sicher die Worte hören: „Dir geschehe, wie du willst!“ Ja. Er würde empfangen, was er begehrte – Vergebung, Frieden, ewiges Leben und ewige Herrlichkeit.