Botschafter des Heils in Christo 1861
Geliebter Bruder
Du fragst, wie es mir in eurer Mitte gefallen habe, und ich kann dir antworten, dass ich im Allgemeinen unter euch sehr erquickt und gesegnet war. Besonders erfreute mich die gegenseitige Offenheit. Es ist gewiss eine schöne Sache, wenn einer dem anderen ins Herz schauen darf. Der Charakter des brüderlichen Verhältnisses erfordert, dies auch, ohne einmal daran zu erinnern, dass in Christus noch innigere Bande uns vereinigt haben. Und ich kann dir sagen, dass ich mich immer beengt fühle, wenn es unter Brüdern so fremd und kalt hergeht, wenn einer den anderen fürchtet, wenn jeder schweigt, aus Furcht, er möchte sich nicht schön und gelehrt genug ausdrücken. Das ist mir immer peinlich, und ist sicher nicht, wie Jakobus sagt, die Weisheit von oben. Ich meine immer, die Herzen müssten sich begegnen und nicht nur die freundlichen Blicke. Und wer sich so gern versteckt, mag wohl zusehen, ob er nicht das Licht scheut. Damit will ich aber nicht sagen, dass der, der sein Herz zu sehr auf der Zunge trägt und in den Tag hineinspricht, nicht oberflächlich und leichtfertig sei.
Was nun das gegenseitige Aussprechen, wie ihr es nanntet, betrifft, so hat es gewiss seinen großen Segen, wenn es immer im rechten Geist geschieht. Doch darüber haben wir sehr zu wachen. Ist der Geist des Richtens wirksam, so geht es gewiss ohne Schaden nicht her. Wer von diesem Geist geleitet wird, der schweige lieber und denke erst an seinen Balken im Auge. Solange dieser vorhanden ist, sehen wir nicht gut, um den Splitter aus des Bruders Auge wegnehmen zu können. Ohne Mitgefühl, oder sogar Wohlgefallen daran zu finden, jemandes Fehler ans Licht zu stellen, beweist in der Tat nur den traurigen Zustand des eigenen Herzens. Das ist nicht der Geist Christi. Der Charakter seines Geistes offenbart sich in Liebe, Gnade und Sanftmut. In dieser Gesinnung handelt Er stets gegen die Seinen, und gegen die schwächsten am meisten, weil sie es am meisten bedürfen. Und sicher geziemt sich auch keine andere Gesinnung für uns, die wir sein sind und von seinem Geist geleitet werden. Was könnte auch den fehlenden Bruder bessern, wenn nicht die Liebe? Wodurch könnte er gewonnen werden, wenn nicht durch den Geist der Sanftmut und Gnade? In der Tat sollte bei einem fehlenden Bruder, wenn er von einem anderen ermahnt wird, nie der Gedanke Raum gewinnen können, dass er vor einem Richter, sondern dass er vor einem geliebten Bruder stehe. Leitet uns bei der Beschäftigung mit den Fehlern anderer nicht allein die Liebe und die Ehre Gottes, so sind wir zu diesem Dienst unfähig. Nur Liebe zum Herrn und Liebe zu den Seinen kann die einzige gesegnete Triebfeder all unserer Handlungen sein. Ohne Liebe hat nichts vor Gott Wert. Darum ist auch durch den Heiligen Geist seine Liebe in unsere Herzen ausgegossen; und der Apostel fügt die herzliche Ermahnung hinzu: „So liebt einander mit Inbrunst aus reinem Herzen.“ Wir werden aber umso geschickter dazu, je mehr wir die vollkommene Liebe dessen betrachten, der mit seinem eignen Blut uns von unseren Sünden abgewaschen hat, und der uns stets mit vollkommener Liebe pflegt und trägt. Je mehr wir in Erkenntnis seiner Liebe zunehmen, desto mehr werden unsere Herzen weit in Liebe gegen andere. Seine Liebe ist die alleinige Quelle und das allein würdige Vorbild der unsrigen. O möchten unsere Herzen nur recht begierig sein, stets zu schöpfen und anzuschauen!
Jetzt möchte ich, geliebter Bruder, mit wenigen Worten noch auf etwas kommen, was keinen guten Eindruck auf mich gemacht hat; und du wirst es in Liebe aufnehmen, wenn ich auch darüber mich ganz offen ausspreche. Es schien mir nämlich, als wenn bei eurem Zusammenkommen, die Herzen zu wenig von dem Gefühl der Gegenwart des Herrn durchdrungen waren. Dies fiel mir besonders kurz vor und nach dem eigentlichen Kultus auf. Es war fast auf den meisten Gesichtern der Eintretenden deutlich zu lesen, dass sie nicht von dem Gedanken erfüllt waren: Ich gehe dahin, wo Jesus mit den seinen versammelt ist. Selbst das Benehmen, wenn es auch nicht gerade ungeziemend war, und die Unterhaltungen vieler verrieten deutlich, dass dies Bewusstsein seiner Gegenwart nicht vorhanden war, oder doch nicht auf eine würdige Weise geschätzt wurde. Ebenso war es nach vollendetem Kultus. Es schien oft, als wenn das, was noch kurz vorher die Herzen bewegte, plötzlich verschwunden sei. Benehmen und Unterhaltung trugen meist einen mehr weltlichen Charakter, und man hätte oft leicht veranlasst werden können, zu glauben, man sei auf einmal in eine ganz andere Versammlung versetzt worden – in eine Versammlung, die nicht soeben aus der Gegenwart des Herrn komme. Ich verwerfe gewiss allen gesetzlichen Ernst, alles gemachte Wesen; aber es geziemt uns, stets so zu erscheinen, wie es der Gegenwart des Herrn angemessen und vor Ihm wohlgefällig ist; und dies besonders, wenn wir uns im Namen Jesu versammeln. Wenn wir vor allen bekennen, dass wir, frei von allen menschlichen Formen und Satzungen, uns allein auf Grund des Namens Jesu versammeln und von seiner Gegenwart jede Segnung erwarten, so ist es auch nötig, zu beweisen, dass uns das Bewusstsein dieser Gegenwart mit dem ihr angemessenen Ernst erfüllt. Anders hat die Erkenntnis dieser gesegneten Wahrheit keinen Wert für uns, und dient vielmehr zur Unehre des Herrn.
Ich weiß nun, geliebter Bruder, dass es euer aller Begehren ist, dem Herrn in allem wohlzugefallen, und bin deshalb versichert, dass auch diese Zeilen, Dir und den übrigen Brüdern Veranlassung geben werden, über diesen beherzigenswerten Gegenstand nachzudenken. Die Gnade des Herrn wolle euch darin leiten!
Es grüßt dein in Christus verbundener Bruder usw.