Botschafter des Heils in Christo 1861
Geliebter Bruder in dem Herrn
Dein lieber Brief ist mir zu Teil geworden, und es tut mir recht leid, dass dein Herz so beschwert und niedergeschlagen ist. Es würde mich sehr freuen, wenn ich dich ein wenig aufrichten und ermuntern könnte. Ich weiß, dass dies eins von unseren gesegneten Vorrechten ist; und deshalb hoffe ich, dass der treue Herr auch jetzt mir diese Freude wird zu Teil werden lassen.
Es gibt Dinge auf der Erde, die unser Herz wohl mit Trauer und Schmerz erfüllen können. Der gegenwärtige Zustand der Versammlung, wovon du schreibst, ist vornehmlich ein Gegenstand dieser Art. Wer ein Herz für Jesus hat, wer seine Gefühle und Gesinnungen für die Versammlung teilt, der kann nur mit tiefem Schmerz an die traurige Zersplitterung und Verwirrung, an den allgemein herrschenden Parteigeist in der Versammlung denken. Auf diesen Zustand gleichgültig Hinblicken zu können, verrät nur ein Herz, was auch gleichgültig gegen seinen Herrn ist. Nun weiß ich aber auch aus eigener Erfahrung, dass es im Blick auf diesen traurigen Zustand Gefühle gibt, die mehr Unruhe und Mutlosigkeit als göttliche Traurigkeit ausdrücken. Das eigene Herz hat alsdann seinen wahren Ruhepunkt verloren, und gedenkt nicht mehr der gesegneten Ermahnung des Apostels: „Sorgt um nichts, sondern in allen Dingen lasst durch Gebet und Flehen mit Danksagung euer Begehren vor Gott kundwerden.“ Fehlt unserem eigenen Herzen die wahre Ruhe, so sind wir nie fähig, uns in der rechten Weise mit den Fehlern und Mängeln anderer zu beschäftigen. Nur dann, wenn unser Herz ruhig und glücklich in der Gegenwart dessen ist, der uns liebt und alle die Seinen in vollkommener Liebe trägt, so sind wir fähig, den Heiligen ihre Füße zu waschen. Wir haben deshalb nötig, recht wachsam und nüchtern zu sein. Das Herz ist sehr geneigt, seine eigene Unruhe mit den traurigen Zuständen anderer zu bedecken, hinter den Gebrechen anderer seine eigenen zu verbergen. Wir können oft sogar eine gewisse Befriedigung darin finden, über du Mängel und Gebrechen unserer Mitbrüder zu urteilen. Es wäre aber dann weit nötiger, die ernsten Worte des Herrn zu beherzigen: „Nimm zuerst den Balken aus deinem Auge weg, und dann wirst du gut sehen, den Splitter aus deines Bruders Auge wegzunehmen.“ – Es kommt in der Tat sehr darauf an, mit was für einem Herzen wir die Mängel anderer betrachten. Magen wir, wenn das eigene Herz seinen wahren Ruhepunkt verloren hat, noch so sehr meinen, die traurigen Zustände der Versammlung richtig zu beurteilen, so erscheint doch alles wie verändert, wenn wir persönlich in der Gegenwart Gottes wandeln. Ach! wie oft habe ich selbst diese Erfahrung gemacht. Wir sehen alsdann die Mängel und Gebrechen anderer oder der Versammlung wohl weit klarer, fühlen sie viel tiefer; aber dies Gefühl drückt sich nicht durch liebloses Richten oder selbstgefälliges und nutzloses Seufzen und Klagen aus, sondern es offenbart sich vor Gott mit Gebet und Flehen, erweckt die Gnade und Liebe im eigenen Herzen und macht uns eifrig im Dienen. Es führt uns zuerst zur wahren Quelle nicht nur, weil von dort allein alle Hilfe und aller Segen kommt, sondern weil wir selbst auch nur dann für andere ein gesegneter Diener sind, wenn sich unsere Herzen in der Gemeinschaft Gottes befinden. Wenn wir von dort kommen, wo alle Fülle ist, bringen wir immer für andere etwas mit, nicht aber, wenn wir von unten kommen, wo nichts ist. O der Herr gebe uns viel Gnade, geliebter Bruder, zu jeder Zeit selbst in Gemeinschaft mit der Quelle zu sein, so werden wir auch stets in den Mängeln und Gebrechen der Versammlung gesegnete Diener sein! Wir werden alsdann auch immer besser lernen, alles mit dem Herzen Jesu zu fühlen und mit Gnade und Liebe zu behandeln. Alles andere ist nutzlos für die Versammlung; all unser Urteilen, Seufzen und Klagen bleibt ohne Segen für sie. Kommen wir aber im Namen Jesu, kommen wir in seinem Geist und in seiner Gesinnung, so werden wir bald die gesegneten Früchte davon merken. Hiervon habe ich etwas erfahren, und ich wünsche es immer mehr zu tun. Ich teile es dir, geliebter Bruder, aber in der Hoffnung mit, dass es dir in deiner gegenwärtigen Stellung zum Segen gereichen möge. Ich weiß, dass du Liebe für die Versammlung hast; aber ich weiß auch, dass es nötig ist, dass unsere Liebe immer mehr an Einsicht und Erkenntnis reich werde.
Jetzt möchte ich noch mit wenigen Worten auf einen anderen Gegenstand deines Briefes eingehen. Du schreibst von dem kleinen H., dass sein Herz in der letzten Zeit gegen Jesus kälter geworden sei. Diese Mitteilung hat mich lief geschmerzt, denn du weißt, welch innige Teilnahme ich an dem Knaben nehme. Der geliebte Heiland hat ihn so früh und so schnell aus seinem verdorbenen Wesen errettet. Ich war Zeuge davon, und denke immer gern an jene gesegneten Stunden zurück, besonders aber an die Freude der Eltern. Ich hoffe aber auch zuversichtlich zum Herrn, dass Er ihn bald wieder wacker machen wird. Es wird mir aber schwer, deine Meinung in dieser Beziehung zu teilen, dass nämlich von den Bekehrungen der Jugend nicht viel zu halten sei. Ich wenigstens halte davon, was ich auch von den Bekehrungen der Alten halte, dass nämlich jede wahre Bekehrung, mag sie an einem Jungen oder Alten geschehen, ein Werk des Geistes Gottes ist ich freue mich immer, wenn Gott wirkt, mag es unter Kindern oder Erwachsenen sein, und ich vertraue seinem Wirken völlig. Warum auch beten wir für die Bekehrung unserer Kinder, wenn wir von der Erhöhung unseres Gebets nicht viel halten? Ich kann dir sagen, geliebter Bruder, dass ich mich unendlich freue, und dass ich den Herrn preise, dass Er in der gegenwärtigen Zeit so viel unter den Kindern wirkt, und die vielen Gebete der Seinen in dieser Beziehung so reichlich erhört. Ich bin aber auch überzeugt, dass deine ausgesprochene Meinung nur eine vorübergehende ist, wozu dich die augenblicklichen Umstände verleitet haben. Ich weiß ja, dass dir gerade die Bekehrungen der Kinder bisher am Herzen lagen, und dass du das Werk Gottes unter ihnen mit Fremden begrüßt. Es hat aber deine Mitteilung über den kleinen H. andere ernste Gedanken in mir hervorgerufen. Ich glaube, dass oft die gläubigen Eltern und andere Gläubige, in deren Mitte solche Kinder leben, viel Schuld daran haben, wenn ihre Herzen wieder erkalten. Die Kinder finden oft im elterlichen Haus so wenig Nahrung für ihre Seele. Es fehlt an Erbauung, an Ermunterung und an rechter Ermahnung. Das Wort Gottes ist nicht reichlich vorhanden, wie Paulus ermahnt; es fehlt auch an erbaulicher Unterhaltung und herzlichem Verkehr. Dagegen sind die Herzen vieler gläubigen Eltern mit Sorge und Unruhe in Betreff des Irdischen erfüllt. Das Kind hört oft den ganzen Tag von nichts anderem reden, als von Dingen des täglichen Lebens. Es findet wohl kein Interesse daran, aber auch keine Nahrung für seine Seele. Es bedarf der Pflege, und oft ist niemand da, der sie ihm, weder im Haus noch außer demselben, auf die rechte Weise zu Teil werden lässt. Die Christen sind im Allgemeinen zu wenig kindlich, um mit einem Kind auf gesegnete Weise umzugehen. Ist es nun da zu verwundern, wenn das Herz eines solchen Kindes nach und nach erkaltet? Ist aber eine solche Erfahrung nicht meist eine ernste Mahnstimme und selbst eine schmerzliche Züchtigung für die Eltern? O der Herr möge vielen Eltern in dieser Beziehung die Augen recht öffnen! Es ist auch vielfach der Fall, geliebter Bruder, dass von gläubigen Eltern oder in den Versammlungen mehr für die Bekehrung der Kinder gefleht wird, als für die Bewahrung derer, die bekehrt sind. Auch das ist ein großer Fehler. Es wird nicht tief genug erkannt, dass das bekehrte Kind, und jeder Bekehrte, ebenso völlig der Gnade Gottes zu seiner Bewahrung bedarf, als es sie auch zu seiner Bekehrung bedurfte. Gottes Gnade allein kann uns bekehren und Gottes Gnade allein uns bewahren. Das ist meine völligste Überzeugung.
Ich schließe nun mit dem herzlichen Wunsch, dass der Herr uns in allem mehr Licht und Einsicht schenken möge, um stets nach seinem wohlgefälligen Willen zu wandeln. Seine Gnade sei auch reichlich mit Dir und den Deinigen!
Es grüßt dich dein in der Liebe Christi verbundener Bruder usw.