Botschafter des Heils in Christo 1887
Friede euch!
In der oben angeführten Schriftstelle begegnen wir dem Wort „Friede“ gewissermaßen in einem doppelten Sinne; zunächst wird es angewandt auf das innere, und dann auf das äußere Leben des Jüngers Christi. Wir lesen: „Als es nun Abend war an jenem Tag, dem ersten der Woche, und die Türen, wo die Jünger waren, aus Furcht vor den Juden verschlossen, kam Jesus und stand in der Mitte und spricht zu ihnen: Friede euch! Und als Er dies gesagt hatte, zeigte Er ihnen seine Hände und seine Seite.“
Das Werk war vollbracht, der Kampf beendet, der Sieg errungen. Der Sieger stand in der Mitte seiner Jünger, Er, der wahre David, mit dem Haupt des Philisters in seiner Hand. Alle Ursache zur Furcht war für immer hinweggetan. Der Friede war gemacht und auf einer Grundlage errichtet, die nie erschüttert werden kann. Keine Macht der Erde oder der Hölle könnte je die Grundlage des Friedens antasten, welchen der auferstandene Heiland seinen Jüngern verkündigte. Er hatte Frieden gemacht durch das Blut seines Kreuzes. Er war den Fürstentümern und Gewalten der Hölle begegnet, und hatte sie ausgezogen und öffentlich zur Schau gestellt (Kol 2,15). Die ganze Flut des gerechten Zornes Gottes wider die Sünde war über sein Haupt dahingerollt. Er hatte dem Tod seinen Stachel genommen und dem Grab seinen Sieg geraubt. Mit einem Wort, der Triumph war vollständig, und während sich der glorreiche Sieger den Augen und Herzen seiner geliebten Jünger darstellt, tönen die Worte in ihre Ohren: „Friede euch!“
Beachten wir dann, von welch einer bezeichnenden Handlung diese Worte begleitet wurden: „Er zeigte ihnen seine Hände und seine Seite.“ Der Herr bringt die Seinen auf diese Weise in unmittelbare Berührung mit sich selbst. Er offenbart ihren Seelen seine gesegnete Person und weist sie zugleich hin auf die untrüglichen Zeichen seines Leidens und Sterbens, auf die wunderbaren Merkmale einer vollbrachten Erlösung. Es ist ein auferstandener Heiland, der hier vor seinen Jüngern steht, und Er trägt an seinem Leib die Zeichen jenes Todes, durch welchen Er für sein Volk gegangen war.
Das ist das wahre Geheimnis des Friedens. Es ist weit mehr, als die Gewissheit zu haben, dass unsere Sünden vergeben und wir von allem gerechtfertigt sind, so gesegnet dies sicherlich ist. Nein, vor unserem Glaubensauge steht die Person eines auferstandenen Christus, und wir vernehmen von seinen Lippen die süße Botschaft des „Friedens“; und indem wir so die Person unseres Befreiers vor uns sehen, haben wir in uns das heilige Bewusstsein, dass wir befreit sind, befreit von der Gewalt des Todes und dessen, der die Macht des Todes hat, sowie befreit von der Herrschaft der Sünde. Ja, nicht nur haben wir das Bewusstsein, dass wir gerechtfertigt und befreit sind, sondern unsere Herzen sind auch in lebendige Verbindung gebracht mit dem, der das ganze große Werk vollbracht hat, und wir schauen durch den Glauben die geheimnisvollen Merkmale dieses vollendeten Werkes. Das ist Friede, wahrer, unerschütterlicher Friede.
Aber das ist nicht alles. Wir lesen weiter: „Und die Jünger freuten sich, als sie den Herrn sahen. Jesus sprach nun wiederum zu ihnen: Friede euch! Gleichwie mich der Vater gesandt hat, sende ich auch euch.“ Hier haben wir das äußere Leben des Christen, seine Sendung in eine arge, feindliche Welt. Er ist in diese Welt gesandt, so wie Jesus von dem Vater gesandt war. Er ist ein Gesandter Jesu, so wie Jesus ein Gesandter Gottes war; und ehe er die Erfüllung dieser hohen und heiligen Mission beginnt, wird er durch den Herrn in jenen vollkommenen Frieden gestellt, welchen Er durch seinen Tod gemacht hatte. Dieser Friede bildet somit den Ausgangspunkt seiner Sendung. Mit diesem Frieden bekleidet, beschuht an seinen Füßen „mit der Bereitschaft des Evangeliums des Friedens“, geht er in die Welt hinaus, gleich wie Jesus einst in diese Welt gekommen ist. Erfüllt mit dem Genuss des Friedens, verkündigt er einem jeden Frieden, welcher das Zeugnis der Gnade annehmen will.
Welch eine Sendung! Welch eine hohe Anschauung von dem Leben eines Christen! Und wir dürfen nicht denken, dass die Worte des Herrn sich nur auf die Apostel beschränkten. Das wäre ein großer Irrtum. Die Stelle, mit welcher wir beschäftigt sind, redet nicht von Aposteln. Sie redet von „Jüngern“, ein Ausdruck, der sicherlich alle Kinder Gottes einschließt. Der schwächste Jünger hat das Vorrecht, sich als einen Boten des Herrn betrachten zu dürfen, der in diese Welt gesandt ist, gleich wie Jesus von dem Vater gesandt war. Welch ein Vorbild für das eingehende Studium unserer Herzen ist Er! Welch ein Gegenstand für unser Leben! Wie gesegnet, Ihn, den Auferstandenen, zu betrachten, in welchem wir Leben und Frieden gefunden haben, und, gleichsam von seinen Füßen ausgehend, Ihm in dieser Welt zu dienen, so wie Er dem Vater gedient hat, und von dem Frieden zu zeugen, der durch seinen Tod unser Teil geworden ist!
Und noch einmal: Das alles hat Bezug auf den jüngsten Gläubigen in der Kirche Gottes, auf das jüngste Kind in der Familie Gottes. Wir heben dies so nachdrücklich hervor, weil man häufig behaupten hört, es handle sich in dieser Stelle um einen amtlichen Auftrag, um etwas, das nur für die Apostel bestimmt gewesen sei. Jene Behauptung stützt sich hauptsächlich auf den 23. Vers. Aber es ist Tatsache, dass die Apostel niemals Sünden vergeben haben in einer amtlichen Weise. Von einer Sündenvergebung, welche für die Ewigkeit Gültigkeit habe, kann ja überhaupt nicht die Rede sein; denn in Bezug darauf sagen die Pharisäer und Schriftgelehrten mit allem Recht: „Wer kann Sünden vergeben, als allein Gott?“ In dieser Stelle handelt es sich vielmehr um das Recht und die Macht einer Versammlung von Gläubigen, von Jüngern Christi, Zucht auszuüben, Sünden zu vergeben oder zu behalten. Mit dem Herrn in ihrer Mitte, handeln sie, geleitet durch den Heiligen Geist, in dem Namen und der Autorität des Herrn Jesus Christus. Wenn z. B. die Versammlung in Korinth den Bösen aus ihrer Mitte hinaustat, so war das ein Behalten der Sünden; sie vergab dem Bösen nicht. Sobald sie ihn aber, auf Grund seiner aufrichtigen Buße, wieder aufnahm, vergab sie seine Sünden. In beiden Fällen handelte nicht der Apostel, sondern die Versammlung; obwohl der Apostel das Böse aufdeckte und auf die Notwendigkeit der Zucht aufmerksam machte, so handelte er doch nur in Gemeinschaft mit der Versammlung (vgl. 1. Kor 5,4; 2. Kor 2,10).
Von dieser Art der Sündenvergebung ist also in Johannes 20,23 die Rede. Es handelt sich, wie gesagt, nicht um die ewigen Beziehungen der Seele zu Gott, sondern um ihre gegenwärtige Beziehung zu der Versammlung. Wir sollten uns daher die kostbare Belehrung, welche der ganze Abschnitt uns gibt, nicht durch die falsche Erklärung eines einzelnen Verses rauben lassen. Lasst uns vielmehr, in dem steten Genuss des kostbaren Friedens, den unser Herr und Heiland gemacht hat, und in dem Anschauen seiner gesegneten Person, als seine Gesandten durch diese Welt pilgern und mit aller Treue und allem Fleiß unsere Sendung erfüllen, und dies umso mehr, je näher der Augenblick seiner Ankunft kommt!