Botschafter des Heils in Christo 1887
Das Opfer Christi
Es ist schon oft darauf aufmerksam gemacht worden, dass es in dem Tod Christi zwei Haupt Gesichtspunkte gibt, welche im Blick auf das Versöhnungswerk, das Er vollbracht hat, wohl zu unterscheiden sind. Einerseits hat Christus in seinem Tod Gott vollkommen verherrlicht, und deshalb kann Gott heute gegen alle Menschen nach dem Wert des kostbaren Blutes seines Geliebten in Gnade und Langmut handeln; und andererseits hat Er die Sünden seines Volkes getragen, war für sie in Tod und Gericht, so dass ihre Errettung jetzt eine vollkommene, für ewig vollendete Tatsache ist. Wir beschäftigen uns, entsprechend der Neigung unserer Herzen, immer zuerst an uns zu denken, meist mit der letzteren Seite des Werkes der Versöhnung, mit dem, was dieses Werk uns gebracht hat, während wir weniger an das gedenken, was es für Gott ist. Und doch ist die letztere Seite die wichtigste. Nachdem die Sünde in die Welt gekommen war, hätte Gott, seiner unbeugsamen Gerechtigkeit entsprechend, den Sünder richten müssen; allein wenn Er es getan hätte, wo wäre dann seine Liebe geblieben? Wie wären seine Gnadenratschlüsse erfüllt worden? Wie hätte Er seine Bereitwilligkeit kundgeben können, dem Sünder zu vergeben? Wie hätte Er sich als der Gott der Liebe verherrlichen können?
Wir reden jetzt nicht von Personen, die zu erretten waren, sondern von der Verherrlichung Gottes. Der Tod Christi, das Hineintragen seines Blutes in das Heiligtum Gottes, hat alles, was in Gott ist, ans Licht gebracht. Er ist durch denselben in einer Weise verherrlicht worden, wie alle die gewaltigen Werke der Schöpfung es nie zu tun vermocht hätten. Seiner Wahrheit ist in dem vollkommensten Maße in Christus entsprochen worden, denn Er hat das Urteil des Todes über sich ergehen lassen. Seine Majestät, seine Gerechtigkeit gegenüber der Sünde, seine unendliche Liebe – alles, alles hat sich in einer Weise offenbart, wie es nur in jenem gesegneten Tod möglich war. Gott fand in demselben ein Mittel, seine Gnadenratschlüsse zu erfüllen, indem Er zu gleicher Zeit die ganze Majestät seiner Gerechtigkeit und göttlichen Würde aufrecht hielt.
Diese vollkommene, freiwillige Hingabe des Sohnes Gottes, um Gott zu verherrlichen, seine Erniedrigung bis zum Tod, ja, zum Tod des Kreuzes, damit den gerechten Forderungen Gottes volle Genüge geschehe; mit einem Wort, sein Herniedersteigen aus der Herrlichkeit des Himmels bis in den Staub des Todes hat der Liebe Gottes einen freien Ausgang verschafft, hat ihr einen Weg geöffnet, um frei und ungehindert tätig zu sein. Im Blick darauf sagte der Herr nicht lange vor seinem Tod: „Ich habe aber eine Taufe, womit ich getauft werden muss; und wie bin ich beengt, bis sie vollbracht ist!“ (Lk 12,50) Sein liebeerfülltes Herz verlangte danach, sich rückhaltlos zu offenbaren; allein es wurde zurückgestoßen und gehindert durch die Sünde des Menschen, der diese Liebe nicht wollte. Sobald aber das Versöhnungswerk vollbracht war, konnte sie, in der Erfüllung der Gnadenratschlüsse Gottes, ungehindert zu dem verlorenen, feindseligen Sünder ausströmen. Zu gleicher Zeit gab Jesus durch diese freiwillige Hingabe, durch seinen Gehorsam bis in den Tod des Kreuzes, dem Vater einen Beweggrund, Ihn zu lieben. Nicht als ob Er nicht von Ewigkeit her der Gegenstand der Liebe und Wonne des Vaterherzens gewesen wäre. Wir wissen, dass Er dies war. Allein sein freiwilliger Tod, um Gott zu verherrlichen und zugleich der Liebe seines Herzens zu einer verlorenen Welt freien Ausgang zu verschaffen, hatte einen so unendlichen Wert vor Gott, war so unaussprechlich kostbar für das Herz des Vaters, dass Jesus sagen konnte: „Darum liebt mich der Vater, weil ich mein Leben lasse, auf dass ich es wiedernehme“ (Joh 10,17). Er sagt nicht: „Weil ich mein Leben lasse für meine Schafe“, obwohl das ja, Gott sei Dank! eine ewige, unumstößliche Wahrheit ist; nein, die Sache selbst, der Tod Christi an und für sich, die Bereitwilligkeit dessen, der Gewalt hatte, sein Leben zu lassen und es wieder zu nehmen, um der Verherrlichung Gottes willen zu sterben, war für den Vater so wohlgefällig und kostbar.
Wir reden mit aller Ehrerbietung von diesen Dingen; aber es ist gut, davon zu reden. Denn die Herrlichkeit Gottes und dessen, den Er in diese Welt gesandt hat, strahlt uns aus denselben in wunderbarem Glanz entgegen; und die Beschäftigung mit diesen Dingen bringt uns dahin, weniger unser eigenes Ich und unsere Segnungen zum Gegenstand unserer Betrachtung zu machen, als Gott und seine Verherrlichung. Dass wir durch dasselbe Opfer errettet und erlöst sind, dass unsere Sünden in dem Tod Christus für ewig hinweggetan, und wir selbst, nach den Ratschlüssen der göttlichen Gnade, in einen Platz, der höchsten Segnung versetzt wurden, ist eine ewige und für uns so kostbare wie wichtige Wahrheit; allein diese Dinge bilden nicht den hervorragendsten Teil des Werkes Christi, wenn überhaupt bei einer Sache, die in allen ihren einzelnen Teilen göttlich vollkommen ist, von einem Unterschied geredet werden darf. Wenigstens ist der Gegenstand dieser Seite des Werkes, die Errettung des Sünders, niedriger, obwohl das Werk selbst nach jeder Seite hin vollkommen ist. Da ist nicht ein Zug des Charakters Gottes, nicht ein Teil seines Wesens, der nicht in all seiner Vollkommenheit offenbart und völlig verherrlicht worden wäre in dem, was zwischen Gott und Christus auf dem Kreuz vorgegangen ist.