Botschafter des Heils in Christo 1887
Kein Unterschied
„Denn es ist kein Unterschied, denn alle haben gesündigt und erreichen nicht die Herrlichkeit Gottes“ (Röm 3,22–23). Das ist eine klare, deutliche Sprache, nicht wahr, mein Leser? Sie könnte nicht bestimmter und unzweideutiger sein. Und doch, wie klein ist die Zahl derer, welche diese Sprache verstehen und beherzigen! Warum das? Einmal ist der Mensch von Natur blind über sich selbst und taub gegenüber den ernsten Belehrungen des Wortes Gottes, und zum anderen ist ihm eine solche Sprache zu hart. Er will sie nicht hören. Und in der Tat, es ist nicht angenehm für den Menschen, aus dem Mund Gottes ein so ernstes, niederschmetterndes Urteil zu vernehmen. Die nackte, ungeschminkte Wahrheit ist bitter und demütigend für den Stolz des Menschen.
Kein Unterschied? Ob reich oder arm, gelehrt oder ungelehrt, moralisch oder unmoralisch, gebildet oder ungebildet, jung oder alt, gesund oder krank? Gar kein Unterschied? Wie ist das möglich? Ja, so unmöglich es scheinen und so hart es klingen mag, es ist die Wahrheit! Gott selbst erklärt es, und Er kennt uns besser, als wir uns kennen. Er legt einen anderen Maßstab an als der Mensch. Er urteilt nach seiner Gerechtigkeit und Heiligkeit. Und wie lautet sein Urteil? Alle haben gesündigt und erreichen nicht die Herrlichkeit Gottes. Wenn das von allen wahr ist, so bist auch du nicht ausgeschlossen, mein lieber unbekehrter Leser; dann hast auch du gesündigt, dann erreichst auch du die Herrlichkeit Gottes nicht.
Es ist gewiss wahr, dass es äußere Unterschiede unter den Menschen gibt. Es besteht ohne Zweifel ein großer moralischer Unterschied zwischen einem Trunkenbold und einem nüchternen, ehrbaren Mann; zwischen dem Weib am Jakobsbrunnen in Samaria und dem achtbaren, religiösen Lehrer in Israel, der zur Nachtzeit zu Jesu kam; zwischen einem sterbenden Räuber am Kreuz und einem Saulus von Tarsus, dem strengen, sittenreinen Pharisäer; zwischen der großen Sünderin, welche in der ganzen Stadt wegen ihres traurigen Lebenswandels bekannt war, und dem reichen Obersten, der von Jugend auf die Gebote gehalten hatte. Und dennoch ist in einer Beziehung kein Unterschied. Der Eine hat gesündigt, und der Andere hat gesündigt; der Eine bedarf so sehr, „von neuem geboren“ Zu werden, wie der Andere; der Eine muss so notwendig die Stimme Jesu hören, wie der Andere; der Eine erreicht die Herrlichkeit Gottes nicht, und der Andere erreicht sie nicht. Da ist kein Unterschied.
Leute, die nach ihrer Meinung wenig gesündigt haben, denken nicht selten, sie ständen der Errettung näher und hätten gegründetere Aussichten auf einen Platz in der Herrlichkeit Gottes, als solche, die viel gesündigt haben. Aber das ist ein verhängnisvoller Irrtum. Es ist, wenn wir so reden dürfen, viel eher das Gegenteil der Fall. Nicht als ob die Gnade Gottes nicht für beide ausreichte, oder als ob der Eine näher stände, als der Andere; nein, aber der Eine, welcher glaubt, etwas zu besitzen, was ihn für die Herrlichkeit Gottes passend mache, vertraut darauf, und geht verloren, während der Andere, im Bewusstsein, dass sein Leben schlecht ist und er nichts Gutes aufweisen kann, nach einem Erretter ausschaut, zu Jesu geführt und so errettet wird. Der junge Oberste, von dem wir oben redeten, ging mit allen seinen guten Werken, mit all seiner äußeren Frömmigkeit „traurig hinweg“, während die bußfertige Sünderin aus der Stadt mit friedeerfülltem Herzen und mit dem Bewusstsein, dass alle ihre Sünden vergeben seien, das Haus des Pharisäers verließ. Der reumütig heimkehrende verlorene Sohn wurde von dem Vater in der zärtlichsten Weise willkommen geheißen, mit dem vornehmsten Kleid bekleidet und unter Freude und Jubel ins Vaterhaus geführt, während der selbstgerechte ältere Sohn „nicht hineingehen wollte.“
Hast du schon einmal daran gedacht, mein Leser, dass eine einzige Sünde Adam und Eva aus dem Paradies und aus der Gegenwart Gottes vertrieb und Tod und Verderben über sie brachte? Keine einzige Sünde kann da geduldet werden, wo Gott ist. Es gibt keine Gemeinschaft zwischen Licht und Finsternis. Und ebenso gut könnte ein Ertrinkender sein Vertrauen ans die Wellen setzen, welche ihn zu verschlingen drohen, wie ein Sünder auf seine Nüchternheit, Ehrbarkeit, Nächstenliebe, oder wie er seine guten Werke sonst nennen mag. Das Eine ist so töricht wie das Andere.
Aber, wirst du vielleicht einwenden, wenn das wirtlich so ist, dann ist die Lage des Menschen ja eine schreckliche, eine ganz verzweifelte. Allerdings ist sie das. Soweit er in Betracht kommt, ist sie ganz und gar hoffnungslos; und wenn nur die oben besprochene Stelle im Wort Gottes stände, so würde kein Mensch jemals errettet werden können. Aber Gott sei Dank! dieselben Worte: „es ist kein Unterschied!“ finden sich noch in einer anderen Verbindung in demselben Briefe an die Römer. Wir lesen im 10. Kapitel: „Denn es ist kein Unterschied ..., denn derselbe Herr von allen ist reich für alle, die Ihn anrufen: denn jeder, der irgend den Namen des Herrn anrufen wird, wird errettet werden“ (V 12–13). In der ersten Stelle wird gleichsam die Tür für alle geschlossen, in der Zweiten wird sie für alle geöffnet. Die Erste sagt dem Menschen, dass er keine Gerechtigkeit habe und nichts besitze, was ihn für die Gegenwart Gottes passend machen könnte; in der Zweiten bereitet Gott selbst eine Gerechtigkeit für den Sünder. Nachdem sein geliebter Sohn gestorben und wieder auferstanden ist, heißt Er alle willkommen, die sich in Aufrichtigkeit des Herzens Ihm nahen. Er ist reich für alle, die Ihn anrufen. Wer da auch kommen mag, ob jung oder alt, ob vornehm oder gering; wie das Leben auch gewesen sein mag, ob gottlos oder ehrbar, ob im Unglauben oder in äußerer Rechtgläubigkeit und Religiosität: „Jeder, der irgend den Namen des Herrn anrufen wird, wird errettet werden.“ Gerade so wie in dem ersten „kein Unterschied“ Alle eingeschlossen sind, über alle dasselbe ernste Urteil gefällt wird, so werden auch in dem Zweiten „kein Unterschied“ Alle aufgefordert, zu Jesu zu nahen, um in dem Glauben an Ihn Vergebung und Heil, Errettung und ewiges Leben zu finden.
Doch woher kommt es nun, dass so manche den Namen des Herrn anrufen und doch nicht errettet werden? Woher kommt es, dass so viele Tag für Tag den Namen Gottes mit Ehrerbietung nennen, regelmäßig zu Ihm beten, und doch nicht die Gewissheit der Vergebung ihrer Sünden erlangen? In einzelnen Fällen mag es daran liegen, dass die Betenden, ohne dass sie es wollen und wissen, dem Wort Gottes nicht glauben, nicht das Vertrauen zu Gott haben, dass Er wirklich meint, was Er sagt, dass Er wirklich reich ist für alle, die Ihn anrufen, ja dass da, wo die Sünde überströmend geworden, die Gnade noch überschwänglicher geworden ist. Solche Beter sind aufrichtig, aber es mangelt ihnen der kindliche Glaube an das vollbrachte Werk Christi, das einfältige Vertrauen auf das Wort des lebendigen Gottes. Sie bleiben bei ihrer Unwürdigkeit und bei der Größe ihrer Sünden stehen, messen Gott und seine Gnade nach ihren eignen armseligen Begriffen, und bedenken nicht, dass Gott sich gerade umso mehr verherrlicht, je größer das Elend und Verderben des Sünders ist.
Aber in den meisten Fällen liegt die Ursache anderswo. Das Gebet wird nicht beantwortet, weil es nicht aufrichtig ist, weil es nicht aus dem tiefen Bedürfnis des Herzens hervorgeht, noch der Ausdruck und das Ergebnis der Zerknirschung der Seele ist. Das Gebet gleicht mehr oder weniger dem Gottesdienst Israels zurzeit des Herrn Jesus, von welchem schon der Prophet Jesaja geweissagt hatte: „Dieses Volk ehrt mich mit den Lippen, aber ihr Herz ist weit entfernt von mir.“ Die Sünde wird nicht gefühlt, der verlorene Zustand nicht erkannt, und darum auch nicht in Wahrheit der Name des Herrn angerufen. Es ist ein Anrufen mit den Lippen, aber nicht ein Flehen um Gnade und Erbarmen aus der Tiefe des Herzens.
Kann Gott ein solches bloß äußerliches Gebet erhören? Unmöglich! Kann ein solches Lippenwerk Ihm angenehm sein? Gewiss nicht! So sehr sein Herz danach verlangt, dem Sünder gnädig zu sein, so kann Er es doch nicht, wenn nicht Wirklichkeit und Aufrichtigkeit in der Seele vorhanden sind. Ach, das Herz blutet bei dem Gedanken an so viele Tausende und Hunderttausende in der so genannten Christenheit, welche äußerlich den Namen des Herrn bekennen und um keinen Preis für Ungläubige oder Verächter der Wahrheit Gottes gehalten werden möchten, die aber bei alledem in Gleichgültigkeit des Herzens vorangehen, nie wirklich in das Licht Gottes gekommen sind, sich nie als verlorene Sünder erkannt und deshalb auch noch nie in Wahrheit und Aufrichtigkeit den Namen des Herrn, als eines Heilands und Erretters der Verlorenen, angerufen haben. Was muss das Ende eines solchen Weges sein? Das Ende ist die ewige Verdammnis! Denn da ist kein Unterschied: Alle haben gesündigt und erreichen nicht die Herrlichkeit Gottes. Nur „die Erlösung, die in Christus Jesus ist“, vermag den Sünder zu erretten, den Ungerechten zu rechtfertigen. Wer dieser Erlösung nicht teilhaftig wird, wer nicht an den Sohn Gottes glaubt, auf ihm bleibt der Zorn Gottes! Ernste, erschütternde Tatsache!
Schon im Alten Bunde ist diese Wahrheit in vielen Vorbildern und Schatten dargestellt worden. So musste z. B. bei der Musterung des Volkes Israel jeder, der zu den Gemusterten überging, von zwanzig Jahren und darüber, „als Sühnung für seine Seele“ einen halben Schekel Silber geben. Der Reiche hatte nicht mehr zu geben, und der Arme nicht weniger. Der Sühnungspreis war für alle gleich. Der Reiche und der Arme standen in dieser Beziehung auf ein und demselben Boden. Der Reiche hatte vielleicht gern mehr gegeben, und der Arme weniger; aber nein, beide mussten dasselbe bezahlen, da war kein Unterschied. Wer den halben Schekel nicht gab, über den kam „die Plage Jehovas“ (vgl. 2. Mo 30,11–16).
Welch ein treffendes Bild von der Wahrheit, dass auch heute alle auf demselben Boden und unter denselben Bedingungen des Heils teilhaftig werden! Nicht als ob der Sünder heute einen halben Schekel Silber zu bezahlen hätte (Wie mancher würde gern eine große Summe Geldes, ja vielleicht sein ganzes Vermögen hergeben, wenn er auf diese Weise Vergebung seiner Sünden und ewiges Leben erlangen könnte; wie mancher opfert tatsächlich große Summen für mildtätige Zwecke, für die Mission usw., in dem eitlen Wahn, sich dadurch einen Platz im Himmel erkaufen zu können!). Nein, der Sünder, ob reich oder arm, ob jung oder alt, hat nicht das Geringste zu bezahlen. Wie könnten auch die armseligen Dinge dieser Welt, Silber und Gold, einen heiligen und gerechten Gott befriedigen? Allerdings, die Schuld muss bezahlt, die Heiligkeit Gottes muss befriedigt werden. Aber das zu vollführen, liegt nicht in der Macht des Menschen. Darum welch ein Glück, sagen zu können, dass Gott selbst den Sühnungspreis für den Sünder vorgesehen, und dass Er einen Weg bereitet hat, auf welchem jeder Glaubende, unbeschadet der Gerechtigkeit Gottes, ja, auf Grund derselben, errettet werden kann. Muss ich dem Leser sagen, worin dieser Sühnungspreis besteht? Es ist das kostbare Blut Jesu Christi, eines Lammes ohne Fehl und ohne Flecken. Christus bezahlte die ganze Schuld; und nichts, weder Großes noch Kleines, ist für den Gläubigen zu tun übriggeblieben. Gott ist vollkommen befriedigt und verherrlicht worden durch das, was sein Geliebter getan hat; und Er selbst fordert den Sünder auf, an diesen Jesus zu glauben und sich durch Ihn versöhnen zu lassen.
So wie einst bei Israel, so muss auch jetzt ein jeder versöhnt werden. Wer den Sühnungspreis nicht bringt, oder mit anderen Worten, wer nicht an Jesus glaubt und in diesem Glauben an sein vergossenes Blut Frieden und Vergebung findet, über den kommt die Plage Jehovas, das Gericht Gottes. Aber ein jeder kann auch versöhnt werden. Keiner ist ausgeschlossen; wer da will, ist eingeladen, zu kommen und von dem Wasser des Lebens umsonst zu trinken. „Wer mein Wort hört“, sagt der Herr Jesus, „und glaubt dem, der mich gesandt hat, hat ewiges Leben und kommt nicht ins Gericht“ (Joh 5,24). So ist das Heil Gottes einem jeden Sünder nahegebracht, und es wird ihm angeboten „ohne Geld und ohne Kaufpreis.“ Deshalb hat niemand eine Entschuldigung. Die ewige Errettung liegt gleichsam in dem Bereich eines jeden. Denn was sagt die „Gerechtigkeit aus Glauben?“ Sie spricht so: „Das Wort ist dir nahe, in deinem Mund und in deinem Herzen; das ist das Wort des Glaubens, welches wir predigen, dass, wenn du mit deinem Mund Jesus als Herrn bekennen, und in deinem Herzen glauben wirft, dass Gott Ihn aus den Toten auferweckt hat, du errettet werden wirst“ (Röm 10,6–9).
Und nun, mein Leser, erlaube mir die Frage: Glaubst du an den Herrn Jesus? Ich meine nicht, ob du glaubst, dass Jesus aus dem Himmel herniedergekommen und auf Golgatha für Sünder gestorben ist. Das ist noch kein Glaube an Jesus; das ist kein wahrer, errettender Glaube. Diesen Glauben haben Millionen und erhöben dadurch nur ihre ernste Verantwortlichkeit. Nein, meine Frage hat einen ganz anderen Sinn. Glaubst du an den Herrn Jesus? d. h. bist du als ein verlorener, verdammungswürdiger Sünder zu Jesu, deinem Erretter, gekommen, und hast du Ihn am Stamm des Kreuzes gesehen, als im Gericht stehend für deine Schuld? Hast du jemals dein Herz in aufrichtigem Bekenntnis vor Gott ausgeschüttet und dann durch den Glauben an den Gestorbenen und Auferstandenen die Gewissheit der Vergebung deiner Sünden empfangen? Sage nicht: „Das ist unmöglich; niemand kann wissen, ob seine Sünden vergeben sind!“ Diesen Einwurf hat der Feind stets gemacht, um die Seelen zu betören und von Jesu fern zu halten. Horche nicht auf ihn; denn er ist „ein Lügner von Anfang!“ Das Wort Gottes redet anders. Der Apostel Johannes sagt: „Ich schreibe euch, Kinder, weil euch die Sünden vergeben sind um seines Namens willen“; und: „Wer an den Sohn Gottes glaubt, hat das Zeugnis in sich selbst. ... Und dies ist das Zeugnis: dass Gott uns das ewige Leben gegeben hat, und dieses Leben ist in seinem Sohn“ (Joh 5,10–13). „Dies habe ich euch geschrieben, auf dass ihr wisst, dass ihr das ewige Leben habt“ (1. Joh 2,12).
Du siehst also, mein Leser, dass die Gewissheit der Vergebung der Sünden zu erlangen ist; ja, Gott will, dass alle diejenigen, welche an Jesus glauben, in voller Gewissheit des Glaubens, mit glücklichen und dankbaren Herzen ihren Weg durch diese Welt gehen, dass sie ohne Furcht und Zagen zu Ihm, als ihrem Gott und Vater in Christus Jesus, aufschauen und Ihm als Erlöste und teuer Erkaufte in kindlicher Liebe und Ehrfurcht dienen. Darum ruhe nicht eher, bis auch du diese kostbare Gewissheit erlangt Haft. Lass dich durch nichts zurückhalten. Denke auch nicht, du seist zu gut oder nicht gut genug für Jesus. Keiner ist zu gut, keiner zu schlecht für Ihn, den Heiland der Sünder. Gerade weil alle abgewichen und untauglich geworden sind, weil da keiner ist, der Gutes tue, auch nicht einer, sandte Gott seinen eingeborenen Sohn, um für alle zu sterben, damit diejenigen, welche an Ihn glauben, errettet werden möchten.