Botschafter des Heils in Christo 1887
Das Buch Jona - Teil 4/4
Am Schluss des 3. Kapitels sahen wir die Entfaltung der Gnade Gottes, ja, wir können sagen, die Offenbarung des Herzens Gottes selbst: Er verschonte die Bewohner von Ninive, weil sie Buße taten auf die Predigt des Propheten. In dem 1. Verse des 4. Kapitels nun tritt uns in unmittelbarem und schroffem Gegensatz damit das Herz des Menschen entgegen: Jona offenbart, was in seinem Herzen ist. Gott hat, wie wir an einer anderen Stelle lesen, kein Gefallen an dem Tod des Sünders; seine Freude ist es, zu vergeben und Gnade zu beweisen. Aber was hören wir von Jona? „Und es missfiel Jona mit großem Missfallen, und er ward zornig.“ Nicht nur befand er sich nicht in Gemeinschaft mit den Gedanken Gottes, sondern er offenbarte auch eine Gesinnung, die schnurstracks diesen Gedanken entgegenlief. Er wurde zornig, weil Gott gnädig war. Gerade wie der ältere Bruder in dem Gleichnis vom verlorenen Sohn, ergrimmte auch er darüber, dass diejenigen, welche keinerlei Ansprüche an Gott zu machen hatten, Erbarmen und Gnade fanden. Er zeigte dadurch, dass er nicht fähig war, in die Gedanken der Gnade einzugehen. Ach, und wie oft können wir bei uns genau dasselbe wahrnehmen! Trotz der Tatsache, dass wir selbst die Gegenstände einer schrankenlosen Gnade sind, und dass wir ohne das unendliche Erbarmen Gottes keinen Platz vor Ihm haben könnten, wünschen wir nicht selten, in der Torheit unserer natürlichen Gedanken und Gefühle, dass andere auf dem Boden der Gerechtigkeit behandelt werden möchten.
Wie auffallend diese Gesinnung schon in den ersten Tagen des Christentums zu Tage trat, sehen wir in den Kämpfen des Apostels Paulus. Selbst Petrus fürchtete sich, die Grundsätze der Gnade aufrecht zu halten (Gal 2); und daher widerstand Paulus, geleitet durch den Heiligen Geist, nicht nur dem Petrus ins Angesicht, sondern er bewies auch, sowohl in dem Brief an die Galater, als auch in demjenigen an die Römer, mit klaren und ausführlichen Worten, dass der Jude ebenso wenig Ansprüche an Gott zu machen habe, wie der Heide, und dass der erstere, wenn Gott auf dem Boden der Gerechtigkeit mit Israel hätte handeln wollen, seinem Gericht ebenso sicher verfallen wäre, wie auch der letztere. Aber jetzt hat Gott alle zusammen, sowohl Juden als Heiden, „in den Unglauben eingeschlossen, auf dass Er alle begnadige“ (Röm 11,32). Ja, der natürliche Mensch kann nimmer die Gnade Gottes verstehen.
Doch lasst uns noch ein wenig tiefer gehen und nach den besonderen Gründen des Zornes des Propheten forschen. Wir lesen: „Und er betete zu Jehova und sprach: Ach, Jehova! war dies nicht mein Wort, als ich noch in meinem Land war? Darum kam ich zuvor, indem ich nach Tarsis entfloh; denn ich wusste, dass du ein gnädiger und barmherziger Gott bist, langsam zum Zorn und groß an Güte, und der sich des Übels gereuen lässt. Und nun, Jehova, nimm doch meine Seele von mir; denn es ist mir besser, zu sterben, als zu leben“ (V 2–3).
Das heißt also, Jona war bange, Gott möchte der Stadt Ninive Barmherzigkeit widerfahren lassen; und da er selbst Gericht und Zerstörung wünschte, so wollte er nicht der Überbringer der göttlichen Botschaft sein. Welch eine Engherzigkeit, ja, welch eine Härte des Herzens! Und doch ist das noch nicht alles. Was dieses törichte Gebet am schärfsten kennzeichnet, ist das unverblümte Hervortreten des eignen lchs in seiner hässlichsten Gestalt, und, damit naturgemäß verbunden, das Suchen der eignen Ehre. Jona wäre völlig bereit gewesen, der gottlosen Stadt die Botschaft des Gerichts zu bringen, wenn er nur die Gewissheit gehabt hätte, dass das Gericht auch wirklich kommen würde; denn das würde Jona in seinen eigenen Augen und in den Augen aller derer, welche an seine Sendung glaubten, erhoben haben. Ach, was ist der Mensch! Selbst Jakobus und Johannes fragten einst den Herrn Jesus: „Herr, willst du, dass wir Feuer heißen vom Himmel herabfallen und sie verzehren, wie auch Elias tat?“ (Lk 9,54) Aber der Herr wandte sich um und strafte sie; denn Gott hatte seinen Sohn nicht in die Welt gesandt, um die Welt zu richten, sondern damit die Welt durch Ihn errettet würde. Jona war von demselben Geist beseelt, wie jene Jünger; nur ging er noch weiter und widersetzte sich gar der Offenbarung der Gnade Gottes. Und warum? Ach, er dachte, anstatt für Ninive besorgt zu sein, nur an seinen eigenen Ruf als Prophet. Denn so wie die Ankündigung eines schonungslosen Gerichts den Prediger erhob, so setzte die Entfaltung der Gnade den Boten völlig beiseite und verherrlichte Gott.
Wie ist doch das Herz des Menschen so verdorben, so unfähig, sich zu der Güte Gottes zu erheben! Jonas Gedanken waren nur mit seiner Person und mit seiner Ehre beschäftigt, und die schreckliche Eigennützigkeit seines Herzens verbarg ihm völlig den Gott aller Gnade, der in Übereinstimmung mit seiner Liebe zu seinen Hilflosen Geschöpfen handeln wollte. Und wir dürfen hinzufügen, dass Jona durchaus keine Entschuldigung hatte. Er selbst sagt: „Ich wusste, dass du ein gnädiger und barmherziger Gott bist, langsam zum Zorn und groß an Güte usw.“; und doch war er zornig und unzufrieden mit dem Charakter Gottes, den er kannte.
Seine Enttäuschung und sein Zorn waren so groß, dass er zu sterben wünschte. Trauriger Zustand der Seele! Lieber wollte er sterben, als dass Gott Ninive verschonte, und dass er und seine Predigt von dem Vordergrund verschwänden! So klein – und eng ist das menschliche Herz, wenn es mit seinen eigenen Dingen, mit seiner Wichtigkeit, mit seiner Ehre und seinem Ruf beschäftigt ist. Die Handlungsweise des Propheten Elia, obwohl sie auf den ersten Blick viel Ähnlichkeit mit derjenigen Jonas zu haben scheint, ist doch eine sehr verschiedene. In seinem Kleinmut wähnte Elia, sein Werk sei völlig vergeblich gewesen, und er beantwortet deshalb die Frage des Herrn: „Was machst du hier, Elia?“ mit den Worten: „Ich habe sehr geeifert für Jehova, den Gott der Heerscharen, denn die Kinder Israel haben deinen Bund verlassen, deine Altäre haben sie niedergerissen und deine Propheten mit dem Schwert erschlagen; und ich bin allein übriggeblieben, und sie trachten nach meiner Seele, sie wegzunehmen“ (1. Kön 19,10). Da er die Macht des Feindes auf allen Seiten überhandnehmen sah, so hatte er für einen Augenblick sein Vertrauen auf Gott verloren. Ohne Zweifel fühlte auch er sich enttäuscht, dass der Herr nicht in richterlicher Weise auf den Schauplatz trat, um die Ehre seines Namens zu rächen. Aber das war etwas ganz anderes, als der Wunsch Jonas. Jona dachte weder an die Ehre des Herrn, noch an das arme, schuldige Ninive, sondern nur an sich und an seinen Ruf als Prophet Jehovas. Wahrlich, nichts könnte demütigender sein, als ein solcher Zustand des Herzens.
Und wenn wir jetzt die andere Seite betrachten, was könnte schöner sein, als die zärtliche, geduldige Güte, mit welcher der Herr seinen abgeirrten Knecht behandelt? Für den Augenblick begnügt Er sich mit einem einzigen Worte, mit der kurzen Frage: „Ist es billig, dass du zürnst?“ Das ist alles. Er handelt gerade so, wie eine Mutter mit ihrem störrigen Kind handeln würde. Sie weiß wohl, dass es nutzlos ist, mit ihm zu reden, solange es gereizt ist, und schenkt deshalb seinen törichten Bitten und Wünschen kein Gehör; wenn aber seine verdrießliche Stimmung vorüber ist, dann stellt sie ihm das Törichte und Verkehrte seines Verhaltens vor. Genau so macht es der Herr mit dem armen Propheten. Ach, und wie oft mögen auch wir, in demselben Geist wie Jona, es gewagt haben, die Wege unseres Gottes zu berichtigen und unsere törichten Wünsche seinen weisen Absichten voranzustellen, welche vielleicht, wenn Gott sie uns gewährt hätte, Kummer und Schmerz für unser ganzes Leben über uns gebracht haben würden! Doch der Herr liebte uns mehr, als selbst wir uns in solchen Augenblicken liebten.
Jona erwiderte nichts auf den zärtlichen Vorwurf des Herrn; er war zu zornig dazu. „Und Jona ging zur Stadt hinaus und setzte sich gegen Osten der Stadt und machte sich daselbst eine Hütte, und saß darunter im Schatten, bis dass er sähe, was mit der Stadt geschehen würde.“ Armer Mann! Er hoffte offenbar immer noch, dass der Herr Ninive zerstören würde, trotzdem es aufrichtig Buße getan hatte; so wenig verstand er das Herz dessen, der ihn mit einer Botschaft an die Stadt betraut hatte. Aber Gottes Gedanken waren für den Augenblick nicht mehr mit Ninive beschäftigt. „Er hatte sich des Übels gereuen lassen, das Er geredet, ihnen zu tun; und Er tat es nicht.“ Das war unwiderruflich, und Er konnte deshalb, in Übereinstimmung mit seinem heiligen Namen, die bösen Wünsche seines Knechtes nicht beachten. Vielmehr war jetzt seine Aufmerksamkeit in Liebe und Gnade auf Jona gerichtet, um ihn zu belehren und von seinem Unmut zu heilen, sowie seine eignen Wege ihm zu erklären und vor ihm zu rechtfertigen. Wir lesen deshalb: „Und Gott Jehova bestellte einen Wunderbaum und ließ ihn über Jona aufschießen, dass Schatten wäre über seinem Haupt, um ihn von seinem Missmut zu retten; und Jona freute sich über den Wunderbaum mit großer Freude“ (V 6).
Es ist überaus rührend zu sehen, in welcher Weise Gott über seinen eigenwilligen Diener wacht und für ihn sorgt, und wie viel Mühe Er sich gibt, ihn von der Unbilligkeit seines Zürnens zu überzeugen. Warum freute sich der Prophet jetzt mit so großer Freude? Wegen der Erfrischung, welche ihm der Schatten des Wunderbaumes gewährte. Wie sein Zorn, so war seine Freude ganz und gar selbstsüchtig. Deshalb „bestellte Gott einen Wurm, des anderen Tages beim Aufsteigen der Morgenröte, der stach den Wunderbaum, dass er verdorrte. Und es geschah, als die Sonne aufging, da bestellte Gott einen schwülen Ostwind, und die Sonne stach Jona aufs Haupt, dass er ermattete; und er wünschte seiner Seele zu sterben, und sprach: Es ist mir besser, zu sterben, als zu leben.“ Nur mit sich und mit seinen Interessen beschäftigt, fühlt sich Jona ganz elend und matt, ist unmutig und böse. Glaubte er sich vorher in seiner Ehre gekränkt, so ist er jetzt missmutig über die Vernichtung des Wunderbaumes, der ein Trost und eine Erquickung für ihn gewesen war. Dabei stach ihn die Sonne aufs Haupt und verursachte ihm körperliche Leiden.
Das war der Punkt, zu welchem Gott seinen Knecht leiten wollte; und jetzt tritt Er noch einmal hervor und fragt Jona: „Ist es billig, dass du zürnst um den Wunderbaum? Und er sprach: Billig zürne ich bis zum Tod!“ Jona war zornig gewesen, weil Ninive nicht zerstört worden war, und jetzt ist er zornig, weil Gott den Wunderbaum zerstört hatte; in beiden Fällen entsprang sein Zorn der Wirkung, welche das Tun Gottes auf ihn hatte. Sein eigenes Ich bildete den Mittelpunkt all seines Denkens und Fühlens. Ach, wie böse ist das arme, enge Herz des Menschen! Um ihn hierauf aufmerksam zu machen, sagt der Herr zu ihm: „Du erbarmst dich des Wunderbaumes, an welchem du nicht gearbeitet und den du nicht groß gezogen hast, der als Sohn einer Nacht entstand, und als Sohn einer Nacht verging; und ich sollte mich nicht erbarmen über Ninive, die große Stadt, in welcher mehr als hundert und zwanzig tausend Menschen sind, die keinen Unterschied wissen zwischen ihrer Rechten und ihrer Linken, und viel Vieh?“ (V 10–11)
Auf diese Weise wurde Jona aus seinem eignen Mund gestraft und überführt; und Gott wurde gerechtfertigt, ja überströmend gerechtfertigt durch das Erbarmen, welches Jona für den Wunderbaum fühlte, mit welchem er doch in keinerlei Verbindung stand, und den er nur geschätzt hatte wegen des Nutzens, welchen derselbe ihm gewährte. So überwand Gott, (wie Er es stets tun wird) als Er gerichtet wurde (vgl. Röm 3,4). Es gab zwei Dinge, welche der Prophet – und wir dürfen wohl hinzufügen, auch viele Christen – noch nicht gelernt hatte. Das Erste ist, dass „Jehova gut ist gegen alle, und dass seine Erbarmungen über alle seine Werke sind“ (Ps 145,9). Wie schön tritt dies in den Worten: „und viel Vieh“ ans Licht! Dieses Erbarmen Gottes wird sich dereinst, wenn Christus seine rechtmäßige Herrschaft antreten und über die Erde regieren wird, in seiner ganzen Fülle und Herrlichkeit entfalten. Allein das Herz Gottes war von jeher dasselbe, und Er hat dies darin bewiesen, „dass Er seinen eingeborenen Sohn gegeben, auf dass jeder, der an Ihn glaubt, nicht verloren gehe, sondern ewiges Leben habe“; sowie ferner in der Tatsache, dass Christus den Tod für alles geschmeckt hat (Heb 2), dass die Zeit der Gnade unter der Langmut Gottes immer noch währt, weil Er nicht will, dass irgendwelche verloren gehen, sondern dass alle zur Buße kommen; und endlich in seinem Vorsatz, durch den Tod Christus „alle Dinge mit sich zu versöhnen, es seien die Dinge auf der Erde oder die Dinge in den Himmeln“ (Kol 1,20). Aber um das wirklich verstehen und genießen zu können, müssen wir uns selbst aus dem Auge verlieren, alle selbstsüchtigen Gedanken und Wünsche verurteilen und mit göttlichen Gedanken und Zuneigungen erfüllt sein.
Die zweite Sache, welche Jona noch nicht gelernt hatte, war die, dass „Jehova gut ist und zum Vergeben bereit, und groß an Güte gegen alle, die Ihn anrufen“ (Ps 86,5). Dieselbe Wahrheit hatte Petrus am Pfingsttag in Jerusalem die Juden zu lehren (Apg 2,21), musste Paulus den jüdischen Gläubigen seiner Zeit ernstlich ans Herz legen (Röm 10,11–13), und dieselbe Wahrheit Mte in der gegenwärtigen Zeit von dielen Gläubigen mit größerer Lebendigkeit und Kraft festgehalten werden, als es gewöhnlich geschieht. Während die Lippen diese Wahrheit aussprechen, ist das Herz oft mit ganz anderen Gefühlen erfüllt, und infolge dessen stimmt unsere Handlungsweise nicht mit unseren Worten überein. Die Gnade Gottes ist unumschränkt und unbegrenzt; sie kennt keine Schranken und strömt deshalb ans, wohin Gott will. O, wie oft gleichen wir dem Propheten Jona; wie oft begrenzen und verengen wir gleichsam, in derselben törichten Weise wie er, das Herz Gottes! Aber am Ende wird Gott zeigen, dass Er über allen unseren Gedanken steht, und dass seine Gnade weit über unsere schwachen Begriffe hinausgeht. Möchten wir uns jedoch inzwischen, zur Belehrung und zum Trost für unsere Herzen, stets daran erinnern, dass jeder, der in Wahrheit den Namen des Herrn anruft, errettet werden wird!
Es war, um dies noch zum Schluss zu bemerken, keine geringe Ehre für Jona, trotz seines Ungehorsams, seines Eigenwillens und Zornes, von Gott als ein Gesäß benutzt zu werden, durch welches das Herz und die Gedanken Gottes ans Licht gestellt wurden. Aber auch das war ein Ergebnis der Gnade, und deshalb gebührt alle Ehre, aller Preis unserem anbetungswürdigen Gott. „Ihm sei die Herrlichkeit in Ewigkeit! Amen.“