Botschafter des Heils in Christo 1887
Das Buch Jona - Teil 2/4
In dem ersten Vers unseres Kapitels wird uns erzählt, dass der Herr einen großen Fisch bestellte, um Jona zu verschlingen, und dass Jona drei Tage und drei Nächte in dem Bauch dieses Fisches war. Diese Tatsache gibt uns den Schlüssel zur Erklärung des ganzen Kapitels in die Hand, denn der Herr selbst verbindet ausdrücklich diesen Umstand mit seinem Tod. Er sagt: „Gleichwie Jona drei Tage und drei Nächte in dem Bauch des großen Fisches war, also wird der Sohn des Menschen drei Tage und drei Nächte in dem Herzen der Erde sein“ (Mt 12,40). Und es ist äußerst interessant, die Art und Weise zu betrachten, in welcher Jona, unter dem Gericht Gottes, ein Vorbild von Christus wird in seiner Verwerfung und in seinem Tod.
Wir haben in unserer Betrachtung des 1. Kapitels gesehen, dass Jona ein Bild der jüdischen Nation ist, oder besser des Überrestes, der vor Gott stets den Platz der ganzen Nation einnimmt. Infolge ihrer Untreue im Blick auf ihre Sendung an die Welt, hat Gott sie als sein Gefäß des Zeugnisses verworfen und die Wogen und Wellen seines Zornes über sie hingehen lassen; und in dieser Stellung sehen wir sie, vorgebildet durch Jona, im Anfang des 2. Kapitels. Nun, gerade dieser Platz war es, auf welchen Christus in Gnade und in seiner unauslöschlichen Liebe für sein Volk herabstieg. Er wurde verworfen, d. h. nicht von Gott, – fern sei uns ein solcher Gedanke! – sondern von „den seinen“, zu welchen Er kam. Ihre Gottlosigkeit indes, so schrecklich sie sein mochte, erfüllte schließlich doch nur die Ratschlüsse Gottes und wurde zu gleicher Zeit der Anlass zur Offenbarung alles dessen, was in dem Herzen Christi für sie war. Die unergründlichen Tiefen dieses Herzens wurden umso mehr aufgedeckt, je höher der Hass und die Feindschaft des Volkes stiegen. In derselben Nacht, in welcher Er überliefert ward, nahm Er Brot, dankte und brach es, und gab es seinen Jüngern; und von dem Kelch sagte Er: „Dieses ist mein Blut, das des Neuen Bundes, welches für viele vergossen wird zur Vergebung der Sünden“ (Mt 26,28). So ließ Er sich wie ein Lamm zur Schlachtbank führen und stellte sich freiwillig unter das ganze Gericht Gottes, um Sühnung zu tun für die Sünden des Volkes. Alle die Wogen und Wellen des göttlichen Zornes schlugen über seinem Haupt zusammen. Sie sind über den Überrest hingegangen, oder werden es noch tun wegen seiner Sünden; sie gingen über Christus hin, weil Er in Gnade den Platz des Volkes vor Gott einnahm und für die Nation starb, so dass Gott dereinst, auf Grund des vollbrachten Versöhnungswerkes, in gerechter Weise alle seine Gnadenratschlüsse bezüglich seines alten Volkes ausführen kann.
In dieser Weise wird Jona in dem Bauch des Fisches ein Vorbild von Christus im Grab. Er gebraucht auch, geleitet durch den Geist Gottes, Ausdrücke in seinem Gebet, die eine viel weitere Anwendung finden, als nur auf seine eigenen Umstände. Werfen wir z. B. einen Blick auf Psalm 42. Dieser Psalm steht an der Spitze des zweiten Buches der Psalmen, in welchem der Überrest betrachtet wird als vertrieben aus Jerusalem, während die Stadt der Willkür und Bosheit der Gottlosen preisgegeben ist. Der Überrest befindet sich infolge seiner Sünden unter den Gerichten Gottes, und er gebraucht, in Übereinstimmung damit, dieselben Worte, welche wir in dem Gebet Jonas finden: „Alle deine Wogen und deine Wellen sind über mich hingegangen“ (Ps 42,7). Doch die volle Bedeutung dieser Worte werden wir erst dann verstehen, wenn wir sie in Verbindung mit dem Platz betrachten, welchen unser Herr einnahm, als Er sich nicht nur mit seinem Volk, sondern auch mit ihren Sünden eins machte, und als Er diese an seinem eignen Leib auf das Holz trug.
Nachdem wir dies festgestellt haben, können wir den Wegen Gottes mit Jona, wie mit dem Überrest, so wie sie uns in der hier gebrauchten Sprache vorgestellt werden, weiter nachspüren. Wir lesen in dem 2. Verse unseres Kapitels: „Und Jona betete zu Jehova, seinem Gott, ans dem Bauch des Fisches.“ Sein Antlitz ist jetzt dahin gewandt, wohin es sich von Anfang an hatte wenden sollen. Ach, Er hatte Jehova den Rücken gekehrt; aber jetzt, unter den Streichen der göttlichen Zuchtrute, wird er nicht nur in seinem Weg aufgehalten, sondern seine Augen richten sich auch auf den, dessen Gegenwart er zu entfliehen versucht hatte. Gesegnete Wirkung der Züchtigung, wenn die Seele ihre Abhängigkeit anerkennt und sich unter die gewaltige Hand Gottes beugt! „Leidet jemand unter euch“, sagt Jakobus, „er bete!“ Ja, gerade so wie ein Lobgesang der Kanal ist, durch welchen sich die Freude der Seele ergießt, so ist das Gebet der Ausdruck und gleichsam das Gefäß ihres Schmerzes. So sagt Jona: „Ich rief aus meiner Bedrängnis zu Jehova, und Er antwortete mir; ich schrie aus dem Bauch des Scheol, du hörtest meine Stimme.“ Und dann erzählt der Prophet, was die Wege Gottes in seinem Innern hervorgebracht hatten, und wie seine Seele wiederhergestellt worden war (V 3–8). Es ist nützlich und belehrend für uns, die verschiedenen Stufen dieses Vorgangs in der Seele des Propheten zu betrachten.
Zunächst erkennt er die Hand des Herrn an. „Du hattest mich“, sagt er, „in die Tiefe, in das Herz des Meeres geworfen.“ Jona beschäftigte sich nicht mit der Aufsuchung aller möglichen zweiten und dritten Ursachen, wie wir es so gern tun und wodurch wir alten Segen der Handlungen des Herrn mit uns verlieren. Er dachte weder an den Sturm, noch an die Seeleute. Es war der Herr, der ihn in die Tiefe geworfen hatte. Ebenso war es mit unserem Herrn, in einer weit gesegneteren und vollkommeneren Weise, als Er auf dem Kreuz litt. „Du legst mich in den Staub des Todes“, sagte Er (Ps 22). Und welch eine Ruhe gibt es dem Herzen, wenn wir alles, was uns begegnet, aus der Hand des Herrn annehmen, wie es unser Vorrecht ist, zu tun! Das bringt jedes Murren zum Schweigen, öffnet das Ohr für die göttliche Stimme und versetzt die Seele in den passenden Zustand, um aus der Züchtigung, durch welche wir vielleicht gehen, wahren Nutzen zu ziehen.
Ferner bekennt Jona, dass die Hand des Herrn in richterlicher Weise auf ihm ruht. Alle die Bilder, welche er gebraucht: das Meer, die Wasser, die Wogen und Wellen, obwohl sie in seinem Fall buchstäblich zu verstehen sind, erklären dies. Denn sie alle dienen in der Schrift stets zur Bezeichnung des richterlichen Zornes Gottes. Die Wirkung davon war das Gefühl in seiner Seele, dass er aus den Augen Gottes verstoßen sei; seine Seele verschmachtete in ihm (V 5.8). Er hatte, wie Paulus, obgleich in einem anderen Sinne, das Urteil des Todes in sich. Er wurde zu einem Bewusstsein seines äußersten Nichts vor Gott gebracht, und dies umso mehr als die Züchtigung eine Folge seiner Sünde war. Aus einem Widerspenstigen, welcher der göttlichen Gegenwart zu entfliehen trachtete, ist er ein Reumütiger und Bußfertiger geworden, der das, was er getan hat, in keiner Weise rechtfertigt, sondern den Platz eines Menschen einnimmt, welcher nichts hat und nichts anders als Gericht verdient. Und das ist der allein richtige Platz sowohl für den Sünder, als auch für den Gläubigen, wenn er gefehlt hat, und der einzige Platz, auf welchem Gott der Seele, auf Grund des vollbrachten Versöhnungswerkes, in vergebender und wiederherstellender Gnade begegnen kann.
Lasst uns jetzt sehen, in welcher Weise der Herr auf den Schrei des Propheten antwortet. Jona sagt: „Ich schrie ..., und du hörtest meine Stimme“; und: „Als meine Seele in mir verschmachtete, gedachte ich an Jehova, und mein Gebet kam zu dir, zu dem Tempel deiner Heiligkeit“ (V 3.8). Was könnte die Gnade unseres Gottes treffender darstellen, oder die zärtliche Liebe seines Herzens herrlicher entfalten? Nachdem der Zweck seiner Wege erreicht ist, antwortet Er sofort auf den Ruf seines Knechtes. Wie oft sind wir in der Torheit unseres Unglaubens versucht, zu denken, dass Er uns nach unseren sündhaften und widerspenstigen Irrwegen nicht mehr vergeben könne. Aber seine Gnade hört nimmer auf; nein, Er wartet auf die Seinen, und sein Ohr ist stets für ihr Schreien geöffnet; denn sein Verhalten gegen uns ist nicht davon abhängig, was wir sind, sondern einzig und allein von dem, was Er in sich selbst ist. Satan möchte uns heute noch ebenso gern betrügen, wie er einst Eva im Garten Eden betrogen hat, und darum ist es so überaus wichtig, den Charakter und die Wege Gottes aus seinem Wort und aus der Offenbarung kennen zu lernen, welche Er in Christus Jesus von sich gegeben hat. Mit leichter Mühe könnten wir eine Reihe von Beispielen aus der Schrift anführen dafür, dass Er stets bereit ist, auf das Rufen der Seinen zu hören, trotz ihres verkehrten Betragens und ihrer eignen Wege. Psalm 107 besteht aus einer Sammlung solcher Beispiele; vergleiche auch Hosea 14 und vor allem die Botschaft unseres Herrn an Petrus am Morgen seiner Auferstehung (Mk 16,7).
Die Worte des Propheten: „Ich rief aus meiner Bedrängnis zu Jehova, und Er antwortete mir; ich schrie aus dem Bauch des Scheol, du hörtest meine Stimme!“ sollten sich deshalb tief in unsere Herzen einprägen. Sie enthalten eine kostbare, gesegnete Ermunterung für furchtsame Seelen, und vor allem für solche, die zurückgegangen sind und nun zur Erkenntnis ihres traurigen Weges kommen. Sie belehren uns, dass Gott, wenn wir uns verirrt haben, auf nichts anderes wartet, als dass wir zu Ihm zurückkehren. Wenn wir die einfache Wahrheit gelernt haben, dass Gott sein Verhalten gegen uns nie verändert, wenn wir wirklich verstanden haben, dass seine Liebe stets dieselbe bleibt, ob wir nun in eine Sünde gefallen sind, oder in dem Genuss des Lichtes seines Vaterantlitzes wandeln – so haben wir einen Anker gefunden, welchen kein Sturm zu lockern vermag. Und gerade diese unveränderliche Liebe Gottes ist der Grund, weshalb Er, wenn es nötig ist, ernste, züchtigende Wege mit uns geht. „Denn wen der Herr liebt, den züchtigt Er; Er geißelt aber jeden Sohn, den Er aufnimmt.“ Nach diesem Grundsatz handelte Gott auch mit unserem Propheten, und das Resultat war, dass Jona erklären konnte: „Ich fuhr hinab zu den Gründen der Berge, der Erde Riegel schlössen sich hinter mir auf ewig; aber du hast mein Leben aus dem Verderben herausgeführt, Jehova, mein Gott“ (V 7).
So wiederhergestellt, kann der Prophet jetzt ein Zeugnis ablegen von der Torheit der Sünde: „Die sich an falsche Nichtigkeiten halten, verlassen ihre Gnade“ (V 9). Und sicher, dieses Zeugnis ist wahr. Wir werden alle von ganzem Herzen unser Siegel unter diesen Ausspruch des Propheten setzen. Haben wir nicht die Wahrheit desselben erfahren, so oft wir uns durch die eitlen, lügnerischen Nichtigkeiten des Fleisches, der Welt oder des Teufels haben verleiten lassen? Ach, „da ist ein Weg, der dem Menschen gerade scheint“, (wenn er unter der Macht dieser verführerischen Nichtigkeiten steht) „aber das Ende desselben sind Wege des Todes“ (Spr 14,12). Gnade ist niemals auf dem Weg der Sünde zu finden. Unter dem mächtigen Eindruck dieser Wahrheit, einem Eindruck, der in Jonas Herzen durch praktische Erfahrung hervorgebracht ist, ruft er aus: „Aber ich werde dir opfern mit der Stimme der Danksagung; was ich gelobt habe, werde ich bezahlen.“ Er erkennt in dieser Weise die Quelle seiner Bewahrung und Segnung an und lobt und preist Gott.
Dann geht er noch einen Schritt weiter, indem er sagt: „Bei Jehova ist Rettung.“ Und in unmittelbarer Verbindung mit diesen Worten wird uns erzählt: „Und Jehova sprach zu dem Fisch, und er spie Jona ans Land.“ Dies ist ohne Zweifel eine bemerkenswerte vorbildliche Darstellung von der Wahrheit der Befreiung. Alle die Übungen, durch welche die Seele Jonas gegangen ist, leiten ihn zu dem schönen Schlüsse: „Bei Jehova ist Rettung“; und sobald diese Worte aus seinem Mund gegangen sind, wird er in Freiheit gesetzt. Genauso ist es mit dem Menschen, der uns in Römer 7 beschrieben wird. Ermüdet von allen seinen vergeblichen Anstrengungen, ruft er, der Verzweiflung nahe, aus: „Ich elender Mensch! Wer wird mich retten von diesem Leib des Todes?“ Die Antwort ist: „Ich danke Gott durch Jesus Christus, unseren Herrn.“ Und damit ist die Befreiung erreicht und genossen. Ja, welch ein gesegneter Schluss, möchten wir wiederholen, sowohl für den Sünder, als auch für den geängstigten Gläubigen: „Bei Jehova ist Rettung!“ Er bringt Frieden in die Seele, stillt alle Zweifel und beantwortet alle Fragen; er macht der Beschäftigung mit dem eignen Ich ein Ende und richtet das Auge empor zu der einzigen Quelle der Segnung und Befreiung. Die Kenntnis dieser Wahrheit ist von der wesentlichsten Wichtigkeit für das ganze christliche Leben, gibt der Seele eine unaussprechliche, süße Ruhe und befreit sie von allen Bürden und Kämpfen. „Bei Jehova ist Rettung!“ Wenn diese Wahrheit verstanden und im Herzen genossen wird, so haben wir mit jenem israelitischen Könige nichts anderes zu sagen, als: „Wir wissen nicht, was wir tun sollen; aber auf dich sind unsere Augen gerichtet“ (2. Chr 20,12); und wir werden, wie er, die Erfahrung machen, dass Jehova mit seiner befreienden Gnade ins Mittel treten wird, in einer Weise, die alle unsere Gedanken und Erwartungen weit übertrifft.
Die prophetische Anwendung der Befreiung Jonas auf den jüdischen Überrest in zukünftigen Tagen liegt auf der Hand. Wir haben schon auf die Übereinstimmung zwischen den Ausdrücken des Propheten und denjenigen des Überrestes in Psalm 42 aufmerksam gemacht. Der Weg des Herrn mit letzterem wird genau seinem Verhalten in der Geschichte Jonas entsprechen. Indem Er alle seine Wogen und Wellen über sie hingehen lässt, und auf diese Weise ihre Seelen übt, wird Er ihre Gewissen erreichen, das Gefühl ihrer Schuld und völligen Hilflosigkeit in ihnen erwecken und, indem Er ihre Augen auf seine Person richtet, in ihren Herzen Bitten und Flehen um Hilfe und Befreiung wachrufen. Und so wie bei Jona, wird der Herr, der mit verlangender Liebe und mit erbarmendem Mitgefühl schon lange auf sein Volk gewartet hat, auch dann augenblicklich ihr Schreien beantworten und zu ihrer Befreiung und Errettung erscheinen. Und dann werden sie jubelnd rufen: „Siehe, das ist unser Gott; wir haben Ihn erwartet, und Er wird uns erretten. Das ist Jehova, wir haben Ihn erwartet; wir werden frohlocken und uns freuen in seiner Errettung!“ (Jes 25,9; vgl. auch Jes 11; 12;26; Sach 12–14)