Botschafter des Heils in Christo 1887
Abraham - Teil 3/3
Wenn wir die wechselvolle und ereignisreiche Geschichte Abrahams weiterverfolgen, so finden wir, dass er bis zum Ende hin auf demselben Boden steht und die früheren Siege davonträgt. Durch die Gnade aufrechterhalten, behauptet er die nämliche Stellung, welche er von Anfang an einnahm, als er durch Glauben der Berufung Gottes folgte.
Diese Berufung hatte mit oder vielmehr für Abraham Zweierlei getan: sie hatte ihn von Mesopotamien getrennt, und ihn doch in Kanaan als Fremdling gelassen. Aus seinem Land, aus seiner Verwandtschaft und aus seines Vaters Haus wurde er fortgeführt; aber doch sollte er inmitten des Landes und Volkes, zu welchem er kam, nur als Pilger weilen und, welchen Teil des Landes er auch durchziehen oder besuchen mochte, in einem Zelt wohnen.
Seine Stellung war eine heilige; seine Trennung eine zweifache: Zunächst von den natürlichen Verbindungen, in welchen er sich durch seine Geburt in Mesopotamien befunden hatte, und dann von dem Verderben, welchem er in Kanaan begegnete. Er stand unter der Berufung des Gottes der Herrlichkeit; und eine solche Berufung macht dem Fleisch oder der Welt keinerlei Zugeständnisse. Er war der Erbe des Landes, in welchem er sich als Fremdling aufhielt. Die Verheißung Gottes gehörte ihm ebenso sicher, wie die Berufung Gottes. Er wusste, dass er durch göttlichen, unantastbaren Vorsatz zu Würden hoher Art bestimmt war; allein bis zum Ende hin war er bereit, ganz und gar ungekannt zu bleiben.
Zu den Kindern des Landes redete er von sich selbst, als von einem Fremdling und Pilger. Er wollte nicht einen Fußbreit Boden von den Kindern Het unbezahlt annehmen. Er trachtete nicht danach, in ihrer Mitte etwas zu sein. Er sprach nie von den Würden, welche wie er doch während dieser ganzen Zeit wusste, sein verheißenes Teil waren. In späteren Tagen finden wir bei David etwas Ähnliches. Er hatte das Öl Samuels, die Salbung Gottes für den Thron Israels, bereits auf seinem Haupt, und dennoch wollte er in demselben Geist, wie Abraham, verborgen bleiben und dankte einem reichen Nachbarn in seiner Not für ein Stück Brot. Diese Männer Gottes wollten sich selbst nicht kennen. Derselben Tugend begegnen wir in vollkommener Weise bei dem, der in dieser gefallenen, bösen Welt sich zu nichts machte und der Diener aller wurde, obwohl Er der Gott des Himmels und der Erde war.
Welch herrliche Tugenden entfalten sich unter der Macht der Berufung Gottes durch den Heiligen Geist! Mesopotamien ist verlassen, Kanaan ein fremdes Land geworden, und die eigene Person ist vergessen und verborgen! Die Berufung Gottes bezweckt heute mit uns dasselbe, wie damals mit Abraham; sie möchte uns gern mit sich in Übereinstimmung bringen. Ihre Autoritär ist unumschränkt. Nicht dass Vaterland oder Verwandtschaft an und für sich notwendigerweise befleckend wären; die Natur erklärt sie für berechtigt, und selbst das Gesetz Gottes erkennt sie zu seiner Zeit an. Aber die Berufung Gottes ist unumschränkt und fordert eine Trennung von hoher und besonderer Art. Und diese Berufung richtete sich an Abraham in Mesopotamien, dem Ort seiner Geburt, seiner Verwandtschaft und seiner natürlichen Beziehungen; und sie hallte beständig in seinem Herzen wieder während der Zeit seines Aufenthaltes in Kanaan. Er war durchaus nicht berufen, jene Dinge als böse anzuerkennen; aber es waren Dinge, von denen die Berufung Gottes ihn getrennt hatte. Nicht länger bildete das moralisch Böse oder die Verderbtheit einer Sache die Richtschnur seines Handelns, sondern vielmehr die Unvereinbarkeit derselben mit der Berufung Gottes. Er mochte das Recht und die Ansprüche von tausenderlei Dingen zugestehen; aber nur die Stimme des Gottes der Herrlichkeit, auf welche er im Glauben schon gehorcht hatte, durfte ihn leiten und regieren. „Niemand, der seine Hand an den Pflug gelegt hat und zurückblickt, ist geschickt zum Reich Gottes.“ 1
Abraham entsprach dieser Berufung sehr treu. Gemäß derselben war er anfangs ausgezogen, nicht wissend, wohin er ging, und indem er alles verließ, was, abgesehen von dem wohlgefälligen Willen Gottes, selbst von der Natur für richtig gehalten und anerkannt werden musste. Er ging voran in der Kraft dieser Berufung, indem er in Zelten sich aufhielt, ungekannt und ohne Besitztum, als ein Fremdling in der Welt, ohne einen Schritt rückwärts zu tun. Und am Ende finden wir dieselbe Kraft seiner Berufung so frisch wie je in seiner Seele wirksam. Er handelt so ernst und so einfältig im 24. Kapitel, wie er es im 12. getan, und er befiehlt Elieser an, genau in derselben Weise zu handeln, wie er selbst von Anfang an gehandelt hatte. Abraham wollte Isaak auf dem Platz der Absonderung erhalten, mochte es kosten, was es wollte. Was auch die Folgen sein mochten, Isaak sollte weder nach Mesopotamien zurückgebracht, noch mit Kanaan verbunden werden. Waren die Umstände auch noch so schwierig, Isaak musste an seinem wahren Platze unter der Berufung Gottes erhalten bleiben. Diese Handlungsweise zeigt uns den Charakter Abrahams in außerordentlich klarem Licht.
Das herrliche 24. Kapitel enthält, wie wir wissen, auch ein höchst treffendes Vorbild von Christus und der Berufung seiner Braut; allein ich will an dieser Stelle hierauf nicht näher eingehen. Lieber möchte ich dem ernsten, einfältigen Pfade nachspüren, welchen der in unserem Vater Abraham wirkende Glaube von Anfang bis zu Ende hin verfolgte. Die Stimme des Gottes der Herrlichkeit wurde immer noch von ihm vernommen; er war nach wie vor der abgesonderte Mensch. Er zeigte deutlich, dass er ein himmlisches Vaterland suchte. Er hätte wohl Gelegenheit gehabt, in seine irdische Heimat zurückzukehren; gerade die Reise des Elieser zeigt, dass er den Weg dahin nicht vergessen hatte. Aber er kehrte nicht dahin zurück, und er wollte es auch nicht.
Diese Fremdlingschaft unseres Patriarchen auf der Erde ist in der Tat bewunderungswürdig. Er verließ Mesopotamien, hielt sich in Kanaan auf und verbarg und vergaß sich selbst! Er machte sich zu nichts und bekannte in Gegenwart der Kinder Het, dass er nichts weiter sei, als „ein Fremdling und Beisaß“, d. h. also ohne jedes Bürgerrecht in ihrer Mitte; und doch war er zu derselben Zeit derjenige, welchem kraft der Verheißungen Gottes das ganze Land gehörte. Alles das bewies eine wirkliche, aufrichtige Fremdlingschaft in dieser Welt. Das Bewusstsein seines himmlischen Bürgerrechtes machte Abraham so bereitwillig, hienieden ein Fremdling zu sein. Weil er Besitztümer in Aussicht hatte, brauchte er nichts in der Hand zu haben. Das Land der Verheißung war für ihn nur ein fremdes Land, weil es eben nur ein Land der Verheißung und nicht des Besitztums war. Er sah den Tag Christi und freute sich; aber er sah ihn „von ferne“ (Heb 11,9–14).
So finden wir also denselben Charakter, welchen Abraham im Anfang seiner Berufung offenbart hatte, bis zum Ende hin bei ihm hervortreten. Mochte er auch während des Weges nicht selten in der praktischen Betätigung des Glaubens fehlen, so ist er doch am Ende seiner Reise noch derselbe himmlische Fremdling, wie im Anfang. Und wahrlich, die nämliche Fremdlingschaft sollte bei uns gefunden werden, da ja ein wohlbekanntes Bürgerrecht in den Himmeln auch unser Teil ist; dieselbe Trennung von der Welt geziemt uns, weil wir mit einem schon auferstandenen Christus verbunden und eins gemacht sind. Dies kann, solange wir hienieden sind, durch nichts verändert werden; und wir sollten das Angesicht eines verworfenen Christus unverrückt anschauen, denn nur so kann diese Fremdlingschaft kräftig von uns aufrechterhalten werden. Nur insoweit Christus von größerem Wert für uns ist, als alles, was uns umgibt, werden wir den Geist und Charakter himmlischer Fremdlinge zur Schau tragen. Aber gerade weil es so viel an diesem steten Anschauen Christi fehlt, begnügen wir uns so gern mit der Welt und ihren Dingen. Wir haben noch nicht gelernt, was Mose gelernt hatte, nämlich „die Schmach Christi für größeren Reichtum zu halten, als die Schätze Ägyptens.“
Das zu lernen ist schwer, aber gesegnet. Abraham verstand etwas davon; er war ein Fremdling bis zum Ende seines Lebens hin. Er hätte nach Mesopotamien zurückkehren können. Er hatte, wie gesagt, den Weg dahin nicht vergessen, und kein Feind war da, um seine Reise zu verhindern. Aber die Berufung Gottes hatte sein Herz befestigt, und er richtete seinen Blick nur dahin, wohin diese ihn führte. Möchten unsere Seelen diese Dinge mit größerer Kraft festhalten! Wahrlich, unser Herz versteht wenig von denselben; und doch sind sie die köstliche Frucht der göttlichen Energie in den Auserwählten.
Wir kommen jetzt zu einem Ereignis in der Geschichte Abrahams, welches sich von allen vorhergehenden völlig unterscheidet. Ich meine seine Heirat mit Ketura. Diese Verbindung und die Kinder, welche aus derselben hervorgingen, bilden, wie ich nicht Zweifel, ein bestimmtes Vorbild. Abraham stellt hier einen neuen Zug der göttlichen Weisheit dar, ein weiteres Geheimnis in den Wegen der göttlichen Verwaltung der Zeiten. In diesen Kindern der zweiten Frau erblicken wir vorbildlich die Nationen, welche die Erde in den Tagen des tausendjährigen Reiches bevölkern werden, Zweige der großen Familie Gottes zu jener Zeit, und Kinder Abrahams. Sie mögen weit ab, gleichsam an den Enden der Erde, wohnen, aber sie haben ihren Anteil an den Segnungen des Reiches und werden anerkannt werden, als zu der einen ausgedehnten tausendjährigen Familie gehörig. „Frohlockt, ihr Nationen, mit seinem Volk!“ so wird zu ihnen gesagt werden. Die Enden der Erde werden dann ebenso gewiss das Erbteil Christi bilden, wie die Kirche in Ihm und mit Ihm in den Himmeln verherrlicht sein wird; sie werden ebenso gewiss Ihm gehören, wie der Thron Davids und das Erbe Israels, die in dem Land ihrer Väter wiederaufgerichtet und ins Leben gerufen sein werden. Kinder Abrahams werden über die ganze Erde hin zerstreut wohnen. Denn in jenen Tagen der Herrlichkeit wird der König Israels der Gott der ganzen Erde sein. Christus ist der „Vater der Ewigkeit.“ Und wenn Israel einst durch Ihn verherrlicht ist, so werden alle Nationen in Ihm gesegnet werden. Er ist sowohl „ein Licht zur Offenbarung der Nationen“, als auch „zur Herrlichkeit seines Volkes Israel.“ Die Kinder Keturas, in andere Länder zerstreut, stellen dieses Geheimnis vorbildlich dar. Sie werden allerdings nicht Israel gleichstehen, aber nichtsdestoweniger werden sie auserwählt und geliebt sein, wie wir hier lesen: „Und Abraham gab alles, was er hatte, dem Isaak; und den Söhnen der Nebenfrauen, die Abraham hatte, gab Abraham Geschenk, und entließ sie von seinem Sohn Isaak, während er noch lebte, ostwärts in das Land des Ostens“ (Kap 25,5–6). 2
Das ist, wie ich glaube, die vorbildliche Bedeutung dieser neuen Familie Abrahams; und mit diesem außergewöhnlichen und wunderbaren Gegenstand schließt seine Geschichte. Durch dieselbe hat Gott den großen und verschiedenartigen Offenbarungen seiner Ratschlüsse und Geheimnisse ein neues, und zwar sehr beachtenswertes Zeugnis hinzugefügt. Zu Zeiten wird in Abraham der Vater gesehen, so z. B. in seinem Verlangen nach Kindern, in der Opferung seines Sohnes, in der Sendung Eliesers, um für seinen Sohn ein Weib zu suchen; anderen Zeiten erblicken wir Christus in ihm, als den Einen, in welchem alle Geschlechter der Erde gesegnet werden sollen, als das Haupt der Nationen, als den Vater des tausendjährigen Zeitalters; dann wieder wird die Kirche oder das himmlische Volk in der Geschichte Abrahams dargestellt, und wieder zu anderen Zeiten befinden wir uns auf der Erde oder bei Israel.
Auf diese Weise hat unser anbetungswürdiger Gott und Vater, welchem alle seine Werke von Anbeginn der Welt an bekannt sind, in den Einzelheiten und mannigfaltigen Ereignissen des Lebens Abrahams verschiedene Teile seiner Wege vorbildlich vor unser Auge gestellt. In Sara und ihrem Samen, in Hagar und ihrem Samen, sowie in Ketura und ihrem Samen sahen wir das Geheimnis Jerusalems, als „unser aller Mutter“, dann Israel, welches mit seinen Kindern jetzt in Knechtschaft ist, und endlich die Sammlung der Nationen der ganzen Welt, als Zweigen der einen ausgebreiteten tausendjährigen Familie. Ein Geheimnis nach dem anderen wird so in dem Leben Abrahams behandelt, und wir empfangen über die verschiedensten Teile der „mannigfaltigen Weisheit Gottes“ darin Belehrung.
Es mag sein, dass die lebenden oder persönlichen Vorbilder ebenso wenig gewusst haben, was sie unter der Leitung Gottes darstellten, wie die sachlichen Bilder. Hagar war sich ihres vorbildlichen Charakters ohne Zweifel so wenig bewusst, wie das Gold, welches den Tisch der Schaubrote bedeckte, oder das Wasser, mit welchem das eherne Waschbecken angefüllt war. Aber die Lehre, welche für uns in den Personen wie in den Dingen liegt, wird dadurch nicht im Geringsten berührt. Wir erblicken die Herrlichkeit Christi in der Stellung Salomos und die tiefe und köstliche Vorsorge seiner Gnade in der goldenen Platte auf Aarons Stirne; aber wir denken nicht daran, zu untersuchen, was Salomo persönlich in dieser Beziehung war, ebenso wenig wie es uns in den Sinn kommt, dies bei dem Gold zu tun. Der schlafende Adam belehrt uns über den Tod des Christus Gottes, und das Entzücken des erwachenden Adam über Eva zeigt uns die Genugtuung und Freude Christi über die Frucht der Mühsal seiner Seele; aber wir fragen nicht danach, ob Adam auch gewusst habe, was er für uns war und tat. Wir können aus der Geschichte Hagars mancherlei Belehrungen über den ersten Bund schöpfen, sowie uns der war über das reinigende des Blutes Christi belehrt; aber beide waren sich dessen nicht bewusst. Ebenso forschen wir auch bei Abraham, wenn er inmitten all dieser verschiedenen und wunderbaren Geheimnisse seinen Platz einnimmt, nicht nach dem Maß seines Verständnisses über diese Dinge. Die Weisheit Gottes – Christus, welcher der Gegenstand der ewigen Ratschlüsse war – kann sagen: „Siehe, ich und die Kinder, die Jehova mir gegeben hat, sind zu Zeichen und zu Wundern“; aber inwieweit Abraham dies sagen konnte, und in welchem Maß er selbst in die Bedeutung des Vorbildes, welches er darstellte, oder in die Geheimnisse, die er wie in einer unbekannten Sprache ausdrückte, eingedrungen ist, haben wir nicht zu untersuchen. „Gott ist sein eigener Ausleger.“
Unser Patriarch ist jetzt an dem Ende seiner Wege und Übungen angekommen, und seine Augen schließen sich für dieses Leben, „Und dies sind die Tage der Lebensjahre Abrahams, die er gelebt hat, 175 Jahre. Und Abraham verschied und starb in gutem Alter, alt und lebenssatt, und ward versammelt zu seinen Völkern“ (Kap 25,7–8).
Er hatte das Land gesehen, aber er sollte es nicht besitzen. Er war der Mose eines früheren Geschlechts; er war, wie jener, ein himmlischer Mensch, ein Mann der Wüste, nicht des Erbteils, ein Mann des Zeltes, ein Kind der Auferstehung. Er wurde zu seinen Völkern versammelt, bevor das Land, der Verheißung gemäß, durch das Israel Gottes betreten wurde. Er sah das Land wie in dem Spiegel der Vorsätze Gottes und in dem Licht des Glaubens, aber er trat nicht in den Besitz desselben ein. Er starb als ein Fremdling, und ist bestimmt, mit Henoch vor ihm und Mose nach ihm, in der himmlischen Herrlichkeit des Sohnes des Menschen zu glänzen.
Hiermit haben wir den dritten Abschnitt des ersten Buches Mose beendet und damit die Szenen und Umstände des Lebens Abrahams. In diesen Bruchstücken, welche der Heilige Geist für uns gesammelt und aufbewahrt hat, haben wir den Glauben gesehen, wie er seine Siege erringt und seine Rechte kennt, wie er seine Großmut ausübt und seine Genossen erfreut, und endlich wie er seine Tröstungen und Verheißungen empfängt. Aber wir sind auch der Einsicht dieses Glaubens begegnet und haben erfahren, wie der Glaube in dem Licht oder entsprechend dem Urteil des Sinnes Christi wandelt.
Es ist außerordentlich schön, diese Verbindung in dem Mann des Glaubens zu sehen. Wir finden unter uns nicht oft die Einsicht des Glaubens mit der moralischen Kraft desselben vereinigt. In manchen Gläubigen ist eine ernste, ausharrende Kraft des Glaubens vorhanden, die gerade, treu und aufrichtig vorangeht, aber oft in dem Erkennen der Weisheit Gottes betreffs der Verwaltung der Zeiten fehlt. In anderen findet sich ein wohlunterrichteter Sinn, verbunden mit tiefem, geistlichem Verständnis und der Fähigkeit, in die Weisheit Gottes einzugehen, aber ohne die nötige Kraft zur Ausübung des Dienstes, welchen ein einfältigerer und ernsterer Glaube beharrlich ausüben würde. In Abraham dagegen finden wir diese beiden Dinge, wenn auch neben manchen Mängeln, mit einander vereinigt.
Nicht nur sollten unsere Herzen stets für die Gegenwart und Freude Gottes geöffnet, und unsere Gewissen für seine Forderungen und für seinen Willen empfänglich sein, sondern es sollte sich in unserem Wandel mit Gott ebenso sehr das Licht der Kenntnis seiner Gedanken offenbaren. Das Leben des Glaubens ist sehr unvollständig, wenn wir nicht, wie Abraham, die von Gott gekennzeichneten Zeiten verstehen, wenn wir nicht wissen, wann es nötig ist, zu kämpfen, und wann, stille zu sein; wann, das Unrecht eines Abimelech schweigend zu erdulden, und wann, es entschieden zurückzuweisen; wann, den Altar eines pilgernden Fremdlings zu errichten, und wann, den Namen des ewigen Gottes anzurufen. Mit anderen Worten, wir sollten wissen, was der Herr seinem eigenen ewigen Ratschluss entsprechend vorhat, und was Er in seiner mannigfaltigen Weisheit der Vollendung entgegenführt. Das ist wahrer, einsichtsvoller Gehorsam, wenn das Verhalten des Heiligen der Weisheit Gottes in Bezug auf die Verwaltung der betreffenden Zeiten entspricht. So war es in dem Leben Abrahams.
Doch die höchste Stufe moralischer Würde in ihm bestand darin, dass er ein Fremdling auf der Erde war. Das überstrahlt bei weitem alles andere. Gerade darum schämte sich Gott nicht, sein Gott genannt zu werden. Gott kann sich zu einer Seele bekennen, welche das Bürgerrecht in dieser abgefallenen, verdorbenen Welt zurückweist. „Gott liebt den Fremdling“ (5. Mo 10,18). Er liebt den armen, freundlosen Fremdling mit der Liebe des Erbarmens und der Gnade, und Er sorgt für ihn. Aber mit dem abgesonderten Fremdling, der diesem ganzen verdorbenen Schauplatz den Rücken gewandt hat, verbindet Gott seinen Namen und seine Ehre, und bekennt sich zu ihm, ohne sich seiner zu schämen (Heb 11,13–16).
Wie herrlich begann Abraham seine Reise! Der Herr und seine Verheißungen waren alles, was er besaß. Er verließ seine natürliche Heimat, ohne dass er erwartet hätte, an dem Ziel seiner Meise eine andere Heimat zu finden. Er wusste, dass er hienieden ein Fremdling und Pilger mit Gott sein sollte. Er verließ Mesopotamien, ohne Kanaan an dessen Stelle zu übernehmen. Demgemäß war er während seines ganzen Lebens, oder während seines ungefähr hundertjährigen Aufenthaltes in Kanaan, von allen daselbst wohnenden Völkern getrennt. Kanaan war für ihn, den himmlischen Menschen, die Welt, und er hatte während seines ganzen Lebens so wenig wie möglich mit ihr zu tun. Wenn die Umstände es erforderten, oder soweit seine Angelegenheiten ihn dazu nötigten, beschäftigte er sich mit dem Land. Er wird gewiss mit den Bewohnern Kanaans Handel getrieben haben, soweit dies erforderlich war; aber seine Zuneigungen besaßen sie nicht. Er bedurfte eines Begräbnisplatzes, und er kaufte ihn von den Kindern Het. Er trug kein Bedenken, mit ihnen wegen eines notwendigen Kaufs oder Verkaufs zu unterhandeln; aber er wollte lieber kaufen, als irgendetwas als Geschenk annehmen. Er wollte nicht ihr Schuldner sein, oder durch sie bereichert werden. Ebenso wenig waren sie seine Gesellschafter. Das nehmen wir überall wahr. Als Aner, Eskol und Mamre vielleicht (angezogen durch das, was sie in Abraham sahen) ein Bündnis mit ihm eingehen wollten, wies er ihre Bundesgenossenschaft allerdings nicht zurück; aber es war eine Gelegenheit von allgemeinem Interesse, welches von dem Gott, der ihn berufen hatte, anerkannt und gutgeheißen wurde. Aber niemals bildeten die Kanaaniter seine Gesellschafter. Diese bestanden in seinem Weib, seiner Haushaltung und seinem Miteiligen Lot, dem Sohn seines Bruders, der mit ihm aus Mesopotamien gekommen war – wenigstens solange dieser als ein abgesonderter Mensch in Kanaan wandelte. Sobald Lot sich nicht mehr von dem Volk des Landes unterschied, war auch er ebenso vollständig ein Fremder für Abraham, wie jene.
In diesem allen liegt eine ernste Lehre für uns. Zu Zeiten finden wir Engel in Abrahams Gesellschaft, und nicht selten den Herrn der Engel selbst; und zu allen Zeiten waren sein Altar und sein Zelt bei ihm, sowie die Geheimnisse oder Wahrheiten Gottes, wie sie ihm bekannt gemacht worden waren. Aber die Bewohner des Landes, die Menschen dieser Welt, waren nicht nach seinem Geschmack und erlangten deshalb weder seine Zuneigung, noch sein Vertrauen. Er war unter ihnen, aber nicht von ihnen; und lieber wollte er sein Haus ungebaut und Isaak unverheiratet sehen, als dass er ihm eine Tochter Kanaans zum Weib genommen hatte.
manchen unter uns, Geliebte, scheint ein solch entschiedener Bruch mit allem Irdischen und Natürlichen etwas Schreckliches zu sein; allein wenn Jesus mehr geliebt würde, so würden alle diese Dinge nicht so hoch angeschlagen werden. Würde sein Wert für uns innerhalb des Vorhangs mehr in unseren Herzen erwogen und geschätzt werden, so würden wir mit festerem und sichererem Schritt zu Ihm hinausgehen außerhalb des Lagers. „Ich habe erfahren“, hat einst ein Märtyrer gesagt, „dass es keine Freiheit gibt, welche derjenigen eines Herzens gleichkommt, das alles für Christus aufgegeben hat; keine Weisheit gleich derjenigen, welche zu seinen Füßen gelernt wird; keine Poesie, gleich der ruhigen Voraussicht auf die kommende Herrlichkeit.“
Von Abraham und seinen Gefährten in diesem Leben des Glaubens, welche bekannten, dass sie Fremdlinge und ohne Bürgerschaft auf der Erde seien, sagt die Schrift: „Die solches sagen, zeigen deutlich, dass sie ein Vaterland suchen. Und wenn sie an jenes gedacht hätten, von welchem sie ausgegangen waren, so hätten sie Zeit gehabt, zurückzukehren. Jetzt aber trachten sie nach einem besseren, das ist himmlischen. Darum schämt sich Gott ihrer nicht, ihr Gott genannt zu werden; denn Er hat ihnen eine Stadt bereitet“ (Heb 11,11–16).
Geliebte, wir sind berufen, Fremdlinge zu sein, solche Fremdlinge, zu denen Gott sich bekennen kann. Wenn die Welt nicht der Gegenstand der Wünsche und Zuneigungen Abrahams gewesen ist, so sollten wir fühlen, dass sie noch weit weniger der Gegenstand unserer Wünsche sein sollte. Die Berufung des Gottes der Herrlichkeit machte Abraham zu einem Fremdling hienieden; das Kreuz Christi, welches dieser Berufung noch hinzugefügt ist, sollte uns noch weit mehr zu Fremdlingen machen. „Ihr seid gestorben“, sagt der Apostel, „und euer Leben ist mit dem Christus verborgen in Gott.“ Das ist eine Fremdlingschaft der höchsten Art, die Fremdlingschaft des Sohnes Gottes selbst. „Deswegen erkennt uns die Welt nicht, weil sie Ihn nicht erkannt hat.“
Möchten wir in der Kraft dieser Fremdlingschaft „abstehen von den fleischlichen Lüften, welche wider die Seele streiten“, und in der Kraft unseres wohl bekannten Bürgerrechts in den Himmeln „den Herrn Jesus Christus als Heiland erwarten, der unseren Leib der Niedrigkeit umgestalten wird zur Gleichförmigkeit des Leibes seiner Herrlichkeit, nach der wirksamen Kraft, mit der Er vermag, auch alle Dinge sich zu unterwerfen!“
Fußnoten
- 1 Der Herr Jesus handelte in den Tagen seines Fleisches genauso, wie der Gott, der vor Alters Abraham berief. Er trat mit den unumschränkten Ansprüchen Gottes auf: „Wer Vater oder Mutter mehr liebt, als mich“, sagt Er, „ist meiner nicht wert.“ Und wiederum: „Folge mir, und lass die Toten ihre Toten begraben.“ Wer, außer Gott, könnte zwischen uns und solche Beziehungen und Verpflichtungen treten? Derartige Pflichten und Zuneigungen werden, wie oben bereits bemerkt, durch die Natur als richtig anerkannt, und durch das Gesetz Gottes selbst bekräftigt; aber die Berufung Gottes ist unumschränkt, und der Herr Jesus machte in den Tagen seiner Erniedrigung Anspruch auf diese Unumschränktheit.
- 2 Ich zweifle nicht, dass wir das nämliche Vorbild in der Heirat Moses mit der Äthiopierin und in derjenigen Salomos mit der Tochter des Pharao dargestellt finden. Moses zweite Frau steht, was ihre Würde betrifft, unter Zippora, die in 2. Mose 18 besondere Ehre empfängt; und die Tochter des Pharao, obgleich durch den König zu Jerusalem völlig anerkannt, erhalt keinen Platz in der Stadt Davids.