Botschafter des Heils in Christo 1887
Freut euch in dem Herrn allezeit!
„Freut euch allezeit!“ – welch eine bemerkenswerte, ja, welch eine erstaunliche Aufforderung in einer Welt voll Elend, Sünde, Not und Kummer, umso erstaunlicher, als sie aus dem Mund eines Mannes kam, der die Trübsale und Leiden dieser Zeit in der ausgiebigsten Weise gekostet hatte, und der sich in jenem Augenblick in der trübsten Lage befand, in welcher ein Mensch sein kann. Er saß im Kerker, war getrennt von allen seinen Lieben, herausgerissen aus dem Werk, dem er mit der innigsten Liebe und Hingebung zugetan war, und der Willkür eines grausamen, tyrannischen Kaisers preisgegeben. Und doch fordert er andere auf, sich mit ihm zu freuen, ja, sich allezeit zu freuen.
Was war denn eigentlich der Gegenstand seiner Freude? Waren es die Dinge dieser Welt? War es Besitz an Hab und Gut, oder die Hoffnung auf irdischen Gewinn? Nein, von irdischen Gütern besaß er gar nichts; vielmehr war er in Bezug auf seinen Unterhalt allein auf den Herrn und seine Haushalter angewiesen. Waren es Ehre und Ansehen in dieser Welt? Auch nicht; Ehre und Ansehen, ja, alles, was für den natürlichen Menschen Gewinn ist, hatte er freiwillig aufgegeben und war zum „Auskehricht der Welt“ geworden. War es der Gedanke an seine treuen, teilnehmenden Freunde? Nein; denn obwohl es Einzelne gab, die in herzlicher Liebe seiner gedachten, so hatten doch die Meisten ihm den Rücken gewandt; viele suchten gar seinen „Banden noch Trübsal zuzufügen“, indem sie „aus Neid und Streit“ in dem Werk arbeiteten, das ihm so sehr am Herzen lag. Was war es denn, das sein Herz mit solch überströmender, nie endender Freude erfüllte? Mein Leser, es war etwas, das völlig außerhalb dieser Welt lag. Es war ein Gegenstand in den Himmeln droben, allerdings nicht sichtbar dem natürlichen Auge, aber darum nicht weniger wirklich und nicht weniger kostbar. Es war ein verherrlichter Christus zur Rechten der Majestät in der Höhe und alles, was in Ihm und in seinem vollbrachten Werke das Teil des armen, von der Welt verachteten und verworfenen Gefangenen war. Es war zugleich ein Gott und Vater, der mit inniger Liebe und Fürsorge auf sein schwergeprüftes Kind herniederblickte und in allem seiner gedachte.
„Freut euch in dem Herrn allezeit!“ Siehe da das Geheimnis, mein Leser. In diesem geliebten Herrn fand der Apostel allezeit eine nie versiegende Quelle der Freude; und in diesem geliebten Herrn ist auch heute noch dieselbe Fülle von Freude zu finden für einen jeden, der an Ihn glaubt und Ihm vertraut. Kein Mensch in dieser Welt, auch nicht der beste, der reichste und geehrteste, hat Ursache, sich allezeit zu freuen; keiner kann sich allezeit freuen. In allem, was diese Welt bieten kann, so schön und glänzend es scheinen mag, ist eben keine wahre Freude zu finden. Alles vergeht, alles ist durch die Sünde verdorben, alles ist eitel und nichtig. Der Christ allem hat Ursache, sich allezeit zu freuen; er darf, ja, er sollte sich allezeit freuen in dem Herrn, in seiner Person und in seinem Werk.
Wohin wir blicken mögen, wir finden nur Ursache zu inniger, dankbarer Freude. Denken wir zunächst an die große Errettung, die uns in Christus Jesus zu teil geworden ist. Von Natur arme, verlorene Sünder, feindselig und verdorben, ohne alle Kraft, ja sogar tot in Sünden und Vergehungen, hatten wir von Seiten des heiligen und gerechten Gottes nichts anders zu erwarten als ein ewiges Gericht, eine ewige Verdammnis. Gott aber, der die Liebe ist, hat sich über uns erbarmt und seinen eingeborenen, geliebten Sohn für uns dahingegeben, und uns durch den Glauben an Ihn eine vollkommene Vergebung, eine ewige Erlösung und ein neues, unvergängliches Leben geschenkt. Durch das Blut Christi sind alle unsere Sünden für immer getilgt; Gott will ihrer nie mehr gedenken. Durch sein vollbrachtes Werk sind wir ans unserer alten Stellung, als Kinder Adams, herausgenommen und in eine ganz neue gebracht; wir stehen jetzt in Christus vor Gott. Wir haben aufgehört, Sklaven der Sünde zu sein, und befinden uns nicht mehr unter der Herrschaft Satans. Durch Glauben an Ihn haben wir ewiges Leben empfangen – das Leben, welches bei dem Vater war und durch Christus hienieden in seiner ganzen Schönheit und Kraft offenbart worden ist – das Leben, welches der Tod nicht anzutasten vermochte, das ungeschwächt und siegreich in der Auferstehung hervorstrahlte. Könnte bei dem Gedanken an diese große Errettung etwas anderes als Freude, Lob und Dank unsere Herzen erfüllen?
„Nein“, antwortest du vielleicht; „aber haben wir nicht, solange wir als Erlöste hienieden pilgern, eine Wüste zu durchschreiten, in welcher es allerlei Schwierigkeiten und Versuchungen für uns gibt?“ Ganz gewiss; ja, wir haben zu gleicher Zeit, wenn wir anders unsere Stellung in Christus verstehen und verwirklichen, einen ernsten Kampf mit den geistlichen Mächten der Bosheit in den himmlischen Örtern zu bestehen. Aber kann uns das unglücklich machen? Ist das eine Ursache, verzagt zu sein? Nein, wenn unser Blick nach Oben gerichtet ist, wird unser Herz trotz alledem stets mit Ruhe, Trost und Freude erfüllt sein.
Wir sind die Gegenstände der Liebe und Zuneigung des Vaters, seiner Freude und Wonne. Wir sind seine geliebten Kinder, von welchen Er sein Auge nie abwendet. Er ermuntert uns, um nichts besorgt zu sein, sondern alle unsere Sorgen auf Ihn zu werfen, alle unsere Anliegen durch Gebet und Flehen mit Danksagung vor Ihm kund werden zu lassen; dann soll sein Friede, der allen Verstand übersteigt, unsere Herzen und Sinne bewahren in Christus Jesus (Phil 4,6–7). Er will uns nicht versäumen, noch verlassen, sondern stets unser Helfer sein (Heb 13,5–6). Welche Prüfungen und Schwierigkeiten wir auch hienieden antreffen mögen, sie sollen stets für uns zum Guten mitwirken. Wenn wir daran gedenken, so verstehen wir, dass wir sogar Ursache haben, uns der Trübsale zu rühmen, der mancherlei Versuchungen uns zu freuen; denn sie kommen von Ihm, der uns vollkommen liebt und aus dessen Hand uns nichts zu rauben vermag, und sie haben keinen anderen Zweck, als uns zu segnen.
Und so wie der Vater, so ist auch der Sohn, unser teurer Herr und Heiland, allezeit mit und für uns beschäftigt. Er liebt uns, wie der Vater Ihn liebte, als Er selbst diese versuchungsreiche Welt durchschritt. Er denkt allezeit an uns und ist fort und fort für uns besorgt. Als ein barmherziger Hohepriester hat Er Mitleid mit unseren Schwachheiten (Heb 4,15–16), und als ein treuer Sachwalter ist Er allezeit bei dem Vater für uns beschäftigt, wie der Apostel Johannes schreibt: „Wenn jemand gesündigt hat: wir haben einen Sachwalter bei dem Vater, Jesus Christus, den Gerechten.“ Haben wir uns auf dem Weg durch diese Welt verunreinigt, so wäscht Er unsere Füße und stellt so die Gemeinschaft mit dem Vater und Ihm wieder her. Diese überaus gesegnete Gemeinschaft, in welche wir durch das Leben, das bei dem Vater war und uns geschenkt worden ist, eingeführt worden sind, ist jetzt schon unser herrliches Vorrecht. Ist das alles nicht geeignet, mein Leser, dein Herz mit tiefer, überströmender Freude zu erfüllen? „Dies schreiben wir euch“, sagt Johannes, „dass eure Freude völlig sei“ (1. Joh 1,4). Was könnte köstlicher sein, als Gemeinschaft zu haben mit dem Vater und mit seinem Sohn Jesus Christus? Nicht nur mit ruhigem, glücklichem Herzen, ohne Angst und Furcht, in der Nähe eines heiligen und gerechten Gottes stehen zu können, nicht nur als Knechte in seinem Haus zu weilen, sondern als Söhne in die tiefsten Geheimnisse des Vaterherzens eingeweiht zu sein und mit Ihm und dem Sohn dieselben Gegenstände der Liebe und des Interesses zu haben? – Und das ist das gesegnete Teil eines jeden Kindes Gottes.
Aber das ist noch nicht alles. Nicht nur sind wir errettet und in die Gemeinschaft des Vaters und des Sohnes eingeführt; sondern in Christus ist auch Fürsorge für alle unsere Bedürfnisse hienieden getroffen. Er nährt und pflegt uns (Eph 5,29), Er lagert uns auf grünen Weiden und führt uns zu stillen Wassern. Er ist der gute Hirte, der sein Leben für seine Schafe gelassen, der uns mit seinem kostbaren Blut erkauft hat, und nun auf Schritt und Tritt uns begleitet und für alle unsere Bedürfnisse in der Zärtlichsten Weise Sorge trägt. Wir sind in seiner Hand; und so wie uns nichts aus der Hand des Vaters rauben kann, so kann uns auch keine Macht der Welt oder der Hölle seiner Hand entreißen. Wir sind durch ein unauflösliches Band mit Ihm verbunden, ja, wir sind ein Teil von Ihm, Glieder seines Leibes. Welch eine gesegnete Stellung! Welch eine Liebe zu solch wertlosen und feindseligen Geschöpfen, wie wir von Natur waren! Ich frage nochmals: Ist das nicht geeignet, Freude, Lob und Anbetung in jedem Herzen zu erwecken, welches diese Stellung und diese Liebe kennt?
Auch ist uns der Heilige Geist geschenkt, um uns in alle Wahrheit zu leiten, uns in den Versuchungen der Wüste aufrecht zu halten und im Kampf des Glaubens zu stärken. Er nimmt sich unserer Schwachheit an; Er bittet für uns in unaussprechlichen Seufzern (Röm 8,26); Er ermahnt und straft, ermuntert und belebt uns; unter seiner Führung werden wir in allem überwinden. Durch Ihn wohnt Gott selbst in uns, durch Ihn ist die Liebe Gottes ausgegossen in unsere Herzen. Durch Ihn sind wir versiegelt, und in Ihm besitzen wir das Unterpfand unseres Erbes; nie wird Er von uns weggenommen werden, und wenn Er nicht durch unser Verhalten betrübt ist, so wirkt Er in uns, um unsere Herzen mit Freude und Frohlocken zu erfüllen. Er ist es auch, der unsere Herzen hinlenkt auf das, was droben ist, und der die Hoffnung auf unser ewiges Teil droben lebendig erhält. Er hat uns Mitteilungen gemacht über den Zustand nach dem Tod, und Er richtet auch unseren Blick auf den glänzenden Morgenstern, der bald erscheinen wird. Entschlafen wir, so werden wir bei Christus sein, „ausheimisch von dem Leib und einheimisch bei dem Herrn“; befinden wir uns bei seiner Ankunft zur Aufnahme der Seinen noch in unserem Leib, so werden wir verwandelt und mit allen Heiligen Ihm entgegengerückt werden, um dann für immer bei Jesu zu sein. Droben werden wir alles mit Ihm teilen, was Er als Mensch von Gott empfangen hat, und wir werden seine Herrlichkeit schauen, die Er vor Grundlegung der Welt schon besaß; ja, ewige Glückseligkeit wird unser Teil sein. Er selbst hat dafür gesorgt, dass wir dem Tag des Gerichts, der für alle, die nicht durch den Glauben an Ihn errettet sind, schrecklich sein wird, mit Freimütigkeit entgegensehen können; „denn wie Er ist, so sind auch wir in dieser Welt.“ Welch eine Sicherheit gibt uns das!
Wohin wir also unsere Blicke auch richten mögen, ob in die Vergangenheit, da wir noch Sünder und Gottlose waren, oder in die Gegenwart, seitdem wir erlöst sind, oder in die Zukunft, wenn wir verherrlicht sein werden, überall begegnen wir einer Fülle von Gnade und Liebe, die alle unsere Gedanken weit übersteigt, und die jedem Bedürfnis vollkommen begegnet ist. Je mehr wir befähigt sind, in den überströmenden Reichtum dieser Gnade und Liebe hineinzuschauen und davon zu genießen, desto mehr wird unser Herz vor Freude überströmen und Lob und Anbetung dem darbringen, welchem wir dies alles zu verdanken haben.
Doch so gesegnet und herrlich alle diese Dinge auch sein mögen, so ist und bleibt der Herr selbst doch stets der höchste Gegenstand unserer Freude. Er ist der Gegenstand und Mittelpunkt aller Gedanken und Ratschlüsse Gottes. Er ist Mensch geworden; und als Er hienieden in Demut und Gehorsam wandelte, um den Namen des Vaters zu verherrlichen und das Ihm aufgetragene Werk zu vollbringen, da öffnete sich der Himmel über Ihm, und eine Stimme sprach: „Du bist mein geliebter Sohn; in dir habe ich Wohlgefallen gefunden.“ Er war von jeher die Freude und Wonne des Vaters; aber als Er auf diese Erde gekommen war, um als Mensch den Willen des Vaters, was es auch kosten möge, zu erfüllen, da konnte der Vater nicht anders, als seinem besonderen Wohlgefallen an Ihm Ausdruck geben. In Ihm, welcher der Gegenstand der Anbetung aller himmlischen Heerscharen, aller Erlösten ist und in Ewigkeit sein wird, wohnt eine Fülle von Herrlichkeit, die nur der Vater völlig zu erkennen vermag. „Niemand kennt den Sohn, als nur der Vater.“ Kein Engel, kein Mensch, auch selbst nicht der geistlichste, vermag seine Fülle zu ergründen. Sobald in Offenbarung 5 inmitten des Thrones das geschlachtete Lamm erscheint, gerät alles, was im Himmel und auf Erden ist, in Bewegung; ja, die ganze Schöpfung ist mit Lob und Anbetung erfüllt. Und in der Tat, nichts ist imstande, das Herz so glücklich zu machen, wie die Beschäftigung mit der Person des Herrn selbst. Ihn zu betrachten auf seinem Weg aus dem Schoß des Vaters bis zum Kreuz, und von da wieder bis zu seinem Platz zur Rechten der Majestät in der Höhe, seine holdseligen Worte zu vernehmen, sein Tun anzuschauen. Seine Gnade und Liebe, Demut und Niedriggesinntheit, sein Mitgefühl und Erbarmen, seine Reinheit und Heiligkeit, seine Herrlichkeit und Macht zu betrachten, an seinem liebenden Herzen zu ruhen – das ist etwas, was das Herz über Umstände und Schwierigkeiten, über Leiden und Trübsale erhebt, was Sorgen und Kümmernisse verscheucht und eine unaussprechliche, selige Freude erweckt.
niemand unter den Erlösten hat dies wohl tiefer erkannt, diese Freude wohl mehr genossen, als der Apostel Paulus. Der Anblick des Herrn der Herrlichkeit führte den entscheidenden Wendepunkt in seinem Leben herbei. Nachdem er auf dem Weg nach Damaskus Jesus gesehen hatte, achtete er alles für Verlust wegen der Vortrefflichkeit der Erkenntnis Christi Jesu, seines Herrn; nur Ketten und Bande waren sein Teil in dieser Welt, aber er achtete weder Leiden noch Tod, um zu Ihm hin zu gelangen (Phil 3,8–11). Das Leben für Ihn war Christus, und das Sterben Gewinn; denn der Tod führte ihn zu dem hin, den seine Seele liebte, nach dem er sich sehnte mit der ganzen Glut der ersten Liebe. Die Verherrlichung Christi bildete sein sehnlichstes Verlangen. Wenn es, wie wir oben bemerkten, etliche gab, die während seiner Gefangenschaft aus Neid und Streit Christus verkündigten, so freute er sich dennoch, weil doch Christus verkündigt wurde (Phil 1). Sollte er wie ein Trankopfer gesprengt werden über das Opfer und den Dienst des Glaubens der Philipper, so freute er sich. Alles, was irgendwie zur Verherrlichung Christi ausschlug, erfüllte sein Herz mit Freude, weil er in Ihm selbst seine ganze Freude und Wonne fand. Und in der Tat, „die Freude im Herrn ist“, wie die Schrift sagt, „unsere Stärke.“ Das Auge des Glaubens bleibt auf Ihn gerichtet, und das Herz findet in Ihm einen Schatz, der es völlig befriedigt und glücklich macht. Alles hienieden verliert dann seinen Reiz und Wert für uns; man ist weder mit sich noch mit den Umständen beschäftigt. Gibt es Leiden, sie werden willig und geduldig ertragen; gibt es Versuchungen und Schwierigkeiten, wir sind mehr als Überwinder und gehen siegreich aus jedem Kampf hervor. Obwohl äußerlich in keinen beneidenswerten Umständen, war das Herz des Apostels dennoch getrost und glücklich, ja es strömte über von Freude. Wie wunderbar sind seine Worte: „Freut euch in dem Herrn allezeit! Wiederum will ich sagen: Freut euch!“ Welch einen Widerhall werden sie gefunden haben in den Herzen der Philipper, seiner geliebten Kinder im Glauben! O möchten sie doch auch in unseren Herzen einen Widerhall finden, und möchte in Wahrheit die Person unseres Herrn von Tag zu Tage köstlicher für uns werden, umso mehr als der Augenblick seiner Ankunft so nahe ist!