Botschafter des Heils in Christo 1887
Der Beweggrund und der Zweck der Fußwaschung
Der Herr ermahnt uns, einander die Füße zu waschen nach dem Beispiel, welches Er uns hinterlassen hat. Es ist dies ein glückseliger Dienst, wenn er in der rechten Weise ausgeübt wird; wie der Herr selbst sagt: „Glückselig seid ihr, wenn ihre tut.“ Aber um diesen Dienst nach den Gedanken unseres Herrn und Meisters und zum Wohl der Seelen ausüben zu können, ist es nötig, durch dieselben Beweggründe und Zwecke geleitet zu werden, welche den Herrn selbst in demselben leiteten. Alles, was Er für die Seinen getan hat und noch tut, hat seinen Beweggrund in seiner Liebe zu ihnen. „Da Er die seinigen, die in der Welt waren, geliebt hatte, liebte Er sie bis ans Ende.“ Nur Liebe trieb Ihn, für uns in den Tod zu gehen, als wir noch Sünder und Feinde waren; und nichts anderes als Liebe bewegt Ihn jetzt, uns die Füße zu waschen. Wie weit war der Abstand zwischen Ihm und uns in unserem natürlichen Zustand! Wir waren Sünder und Unreine; Er war der Heilige und Reine. Wir hassten Ihn; Er begegnete unserem Hass mit einer Liebe, die stärker war als der Tod, und die ein Werk vollbrachte, welches uns von allen unseren Sünden und Missetaten reinigt. Er selbst sagt: „Größere Liebe hat niemand, als diese, dass er sein Leben lässt für seine Freunde.“ Kein Mensch kann in seiner Liebe weitergehen, als dass er sein Leben für seine Freunde opfert. Der Herr hat das getan; aber Er ist in seiner Liebe noch viel weitergegangen. Er ist für die Seinen gestorben, als sie noch seine Feinde und gottlose Sünder waren. Auch der Apostel sagt: „Denn für den Gütigen möchte vielleicht jemand zu sterben wagen. Gott aber erweist seine Liebe gegen uns, indem Christus, da wir noch Sünder waren, für uns gestorben ist“ (Joh 15,13; Röm 5,7–8). Ein Mensch mag viel Liebe in seinem Herzen haben und offenbaren, aber Liebe für den Feind gibt es in dem natürlichen Herzen nicht; eine solche Liebe ist nur in dem Herzen Gottes zu finden, und darum ist diese Liebe vollkommen göttlich. Sie hat ihres Gleichen nicht im Himmel noch auf der Erde; ihre Beweggründe liegen in ihr selbst – Gott ist ihre Quelle.
Nur eine solche Liebe genügte, um das Werk der Erlösung zu vollbringen; und nur eine solche Liebe – die Liebe Gottes – genügt zu einer wirksamen und gesegneten Ausübung des Dienstes der Fußwaschung. Sie allein kann ihren Zweck in jeder Beziehung erreichen, wie groß auch die Hindernisse sein mögen, die sich ihr entgegenstellen. Diese Liebe kennt so zu sagen keine Hindernisse und erreicht ihren Zweck trotz derselben; weder die Welt noch die Sünde, weder der Tod noch die ganze Macht des Feindes kann sie aufhalten oder irgendwie schwächen. Sie triumphiert über alles. Wie anbetungswürdig ist diese Liebe!
So göttlich, wie die Natur und das Wesen dieser Liebe, so göttlich ist auch der Zweck, den sie verfolgt. Der Herr will, dass wir Gemeinschaft mit dem Vater und mit Ihm haben sollen. Sein Zweck steht in vollkommenem Einklang mit seiner Liebe. So unaufhaltsam diese in der Erreichung ihres Zweckes ist, so unumstößlich ist das Resultat, das sie im Blick auf die Stellung des Gläubigen bereits erreicht hat. Diese Stellung ist unerschütterlich. Der Gläubige ist in Christus Jesus auf immerdar in die Gemeinschaft mit dem Vater und mit seinem Sohn eingeführt. Niemand kann ihm je den höchsten Gegenstand des Vaters, den Sohn seiner Wonne, rauben. Und niemand kann ihm andererseits den Vater rauben, der die Freude und Wonne des Sohnes ist. Die Freude des Vaters und des Sohnes selbst sind das Teil des Gläubigen; er besitzt beide, den Vater und den Sohn, und somit das Höchste, was Himmel und Erde nicht zu umfassen vermögen. „Was wir gesehen und gehört haben, verkündigen wir euch, auf dass auch ihr mit uns Gemeinschaft habt; und zwar ist unsere Gemeinschaft mit dem Vater und mit seinem Sohn. Jesus Christus. Und dies schreiben wir euch, auf dass eure Freude völlig sei“ (1. Joh 1,3–4). Wie wunderbar ist diese Liebe und ihr Resultat! Kannst du Höh'res je uns geben,
Kann noch Liebe größer sein?
Und wir sollten unser Leben
Dir, o Gott, nicht völlig weiten? Der Herr will unser ewiges Glück; und diese seine Absicht ist betreffs unserer Stellung durch das Werk seiner unendlichen Liebe vollständig erreicht worden. Kein Preis war Ihm zu hoch, kein Lösegeld zu teuer, um das, was seine Liebe für uns ausersehen hatte, zu erwerben. Alles gab Er zu diesem Zweck dahin, selbst sein eigenes, kostbares Leben. Und jetzt will Er, dass wir dieses Glück auch genießen; und zwar nicht erst dann, wenn wir bei Ihm in der Herrlichkeit sein werden, sondern jetzt schon, während wir noch auf dieser Erde pilgern. Und in der Tat kann uns nichts an dem Genuss dieses Glücks hindern, weder Welt noch Teufel. „Weder Trübsal noch Angst, noch Verfolgung, noch Hungersnot, noch Blöße, noch Gefahr, noch Schwert; weder Engel noch Fürstentümer, weder Gegenwärtiges noch zukünftiges, noch Gewalten, weder Hohes noch Tiefes, noch irgendeine andere Kreatur vermag uns zu scheiden von der Liebe Gottes, die in Christus Jesus ist, unserem Herrn“ (Röm 8,36–39). Ja wahrlich, nichts kann uns an dem Genuss dieses Glücks hindern, es sei denn unsere eigene Nachlässigkeit und Untreue im Wandel. Wie schmerzlich und demütigend ist das für uns! Wie vorsichtig sollten wir sein! Mit Recht sagt Johannes gerade im Blick hierauf: „Meine Kinder, ich schreibe euch dieses, auf dass ihr nicht sündigt“ (1. Joh 2,1). Je höher und köstlicher unsere Vorrechte sind, desto größer und unersetzlicher ist der Verlust, den wir uns durch unsere Nachlässigkeit und Untreue zuziehen. Wir sollten daher nichts mehr fürchten und auf nichts ein wachsameres Auge haben, als auf die in uns wohnende Sünde, damit diese nicht wirksam sei und uns für den gesegneten Genuss unserer Gemeinschaft mit dem Vater und seinem Sohn unfähig mache.
Für die Liebe des Herrn wird selbst unsere traurige Nachlässigkeit und Untreue nur ein neuer Anlass zur Tätigkeit, um trotz allem seinen Zweck bei uns auch in praktischer Beziehung zu erreichen. Er kann nur dann befriedigt sein, wenn wir glücklich sind; anders lässt Ihn seine Liebe nicht rasten noch ruhen. Welche Mühe und Arbeit wir Ihm auch schon gemacht haben mit unseren Sünden und Missetaten, wie groß auch das Opfer ist, welches Er für uns gebracht hat, nichts kann Ihn hindern, immer wieder aufs Neue für uns tätig zu sein bei dem Vater, damit die unterbrochene Gemeinschaft mit Ihm wiederhergestellt werde. So ist der Herr und so seine Liebe. Aber vergessen wir nicht, dass unsere Sünden und nicht unsere Neue den Anlass zu dieser erneuten Tätigkeit der Liebe geben! So wie nur seine göttliche Liebe imstande war, uns zu erretten, als wir alle wie Schafe umherirrten und uns ein jeder auf seinen Weg wandten (Jes 53,6), so ist auch nur seine Liebe fähig, uns zurückzuführen und Neue und Selbstgericht in unseren Herzen wachzurufen, wenn wir nachlässig und gleichgültig geworden sind. Ware Er nicht allezeit in treuer Liebe mit uns und für uns beschäftigt, so würden unsere verblendeten und von Natur stolzen Herzen sich nie demütigen. Welch eine Geduld und Langmut kennzeichnen diese Liebe! Wie selbstlos ist sie! Sie bezweckt nichts anderes als unser vollkommenes Glück; und sie kann nur dann völlig befriedigt sein, wenn dieser Zweck erreicht ist.
Ja wahrlich, nur göttliche Liebe kann mit der ihr eigenen, unermüdlichen Ausdauer und Geduld einen solchen Zweck verfolgen und erreichen. Sie erhebt sich in der Gewissheit ihres endgültigen Sieges triumphierend über die Sünde und selbst über den Zustand der Kalte und Gleichgültigkeit ihrer Gegenstände. Erfüllt von dieser Liebe, konnte der Herr Jesus zu seinen Jüngern sagen: „Mit Sehnsucht habe ich mich gesehnt, dieses Passah mit euch zu essen, ehe ich leide“, obgleich gerade diese Jünger sich in jener feierlichen Stunde, und zwar in Gegenwart dessen, der sich so tief erniedrigt hatte und der im Begriff stand, für sie zu sterben, über ihre eigene Größe stritten (Lk 22,15). Der Herr in seiner Liebe sah sich im Geist schon mit ihnen an dem Ziel, welches Er für sie verfolgte. Und wie im Erlösungswerk, so sehen wir auch in der Fußwaschung die Liebe ihren Zweck verfolgen, wenngleich sie – für den Augenblick nicht verstanden wird. Der Herr musste dem Petrus sagen: „Was ich tue, weißt du jetzt nicht; du wirst es aber hernach verstehen.“
Geliebter Leser! Erst von dem Augenblick an, da wir in der Kraft des Geistes den Platz einnehmen, auf welchem der Herr uns haben will, werden wir in etwa verstehen, wie der Herr uns geliebt hat und liebt; erst dann werden wir die Größe seiner Liebe, sowie all die Mühe und Geduld, welche Er mit uns gehabt hat und noch hat, zu schätzen wissen; erst dann werden wir, in dem tiefen Gefühl unserer eignen Unwürdigkeit, wirklich erkennen und bekennen, dass nur Er würdig ist, der Gegenstand unserer Herzen zu sein. Und erst dann auch werden wir fähig sein, seinem Beispiel zu folgen. Das Herz hat alsdann seinen Ruheort gefunden in der Liebe Gottes, die in Christus Jesus ist, und fühlt sich, frei von allen selbstsüchtigen Interessen, glücklich in der Hingebung und Selbstaufopferung für andere.
Geliebter Leser, der Herr hat uns ein Beispiel hinterlassen; Er, der Herr und der Lehrer, hat uns gezeigt, was Liebe ist und was Liebe vermag; und Er ruft uns zu: „Auf dass, gleich wie ich euch getan, auch ihr tut.“ Lass uns nie vergessen, was Er an uns getan und wie Er uns geliebt hat! Ja, möchte die Liebe des Herrn und sein Beispiel lebendig vor unseren Augen stehen, damit wir fähig seien, mit dem Apostel zu sagen: „Geliebte, wenn Gott uns also geliebt hat, so sind auch wir schuldig, einander zu lieben“ (1. Joh 4,11). Nichts kann uns mehr verpflichten, nichts uns mehr befreien von aller Eigenliebe und Selbstsucht, von alledem, was uns zum Dienst für andere unfähig macht, als diese Liebe. Die Betrachtung des Beispiels unseres Herrn macht uns klein in unseren eigenen Augen, erweckt Bewunderung, Anbetung und Gegenliebe, und macht uns so fähig, uns zum Diener anderer zu machen, wie unser Herr und Lehrer es getan hat. Der Herr bewahre uns in Gnaden vor aller Gleichgültigkeit betreffs seiner gesegneten Person und aller derer, die seinem Herzen so teuer sind! Möchte sich nie etwas von der Gesinnung Kains in unseren Herzen finden, der dem Herrn auf seine Frage nach Abel antwortete: „Soll ich meines Bruders Hüter sein?“ Ach, die Gefahr liegt so nahe in diesen letzten schweren Tagen, als deren erstes Kennzeichen der Apostel die Eigenliebe nennt (vgl. 2. Tim 3,2).