Das Buch Daniel
Daniel 5
Gottlosigkeit
Wir haben bereits gesehen, dass der Götzendienst ein herausstechendes Merkmal der großen Weltreiche ist, denen die Herrschaft während der Zeiten der Nationen übertragen worden war. Darüber hinaus haben wir gesehen, dass dieser Götzendienst die Rechte Gottes beiseitesetzt und auf dem menschlichen Gewissen herumtrampelt (Kapitel 3).
Ein zweites Merkmal ist die Selbstverherrlichung oder der Stolz, mit dem diese Weltreiche ihre Macht zu ihrer eigenen Ehre anstatt zur Ehre Gottes gebrauchen (Daniel 4).
Aus Daniel 5 lernen wir, dass ein drittes Merkmal die Gottlosigkeit ist, die nicht nur die Rechte Gottes verletzt, sondern Gott öffentlich herausfordert.
„Der König Belsazar machte seinen tausend Gewaltigen ein großes Festmahl, und er trank Wein vor den Tausend. Belsazar befahl, als der Wein ihm schmeckte, dass man die goldenen und die silbernen Gefäße herbeibrächte, die sein Vater Nebukadnezar aus dem Tempel in Jerusalem weggenommen hatte, damit der König und seine Gewaltigen, seine Frauen und seine Nebenfrauen daraus tränken. Dann brachte man die goldenen Gefäße, die man aus dem Tempel des Hauses Gottes in Jerusalem weggenommen hatte; und der König und seine Gewaltigen, seine Frauen und seine Nebenfrauen tranken daraus. Sie tranken Wein und rühmten die Götter aus Gold und Silber, aus Kupfer, Eisen, Holz und Stein“ (5,1–4).
Der Anlass, der dieses ernste Merkmal der Zeiten der Nationen ans Licht bringt, ist ein großes Fest, das Belsazar, der König von Babylon, für seine Gewaltigen gibt. Dieses Fest war gekennzeichnet durch einen Ausbruch von Gottlosigkeit, welcher offensichtlich durch die Wirkung des Alkohols beim König ausgelöst wurde. „Als der Wein ihm schmeckte“, befahl er, die goldenen Gefäße des Tempels Gottes zum Fest zu bringen. Bis zu einem gewissen Grad kann der Mensch die bösen Leidenschaften seines Herzens zügeln, doch wenn er durch irgendeinen schlechten Einfluss die Kontrolle über sich selbst verliert, kommt all die Boshaftigkeit seines Herzens ans Licht. Gott ließ es zu, dass sein Volk in Gefangenschaft geführt, sein Tempel zerstört und die heiligen Gefäße nach Babylon verschleppt und ins Haus des chaldäischen Götzen gebracht wurden (1,2). Die babylonischen Könige sahen die züchtigende Hand Gottes über seinem Volk nicht und betrachteten diesen Sieg über Israel als einen Triumph ihrer Götter über den Gott Israels (Hab 1,11–17). So nutzt Belsazar die Gelegenheit dieses großen Festes, um dem Ausdruck zu geben, was er für den Sieg seiner falschen Götter hält. Der König und seine Fürsten entweihen nicht nur die heiligen Gefäße, die für Jehova abgesondert worden waren, indem sie sie für ihr Trinkgelage missbrauchen, sondern sie preisen auch ihre heidnischen Götter jeden Ranges. Dies war eine unverschämte und offene Herausforderung Gottes.
„In demselben Augenblick kamen Finger einer Menschenhand hervor und schrieben, dem Leuchter gegenüber, auf den Kalk der Wand des königlichen Palastes; und der König sah die Hand, die schrieb. Da veränderte sich die Gesichtsfarbe des Königs, und seine Gedanken ängstigten ihn; und die Bänder seiner Hüften lösten sich, und seine Knie schlugen aneinander“ (5,5.6).
Eine solche Gottlosigkeit muss das Gericht Gottes herbeiführen. Augenblicklich nimmt Gott die Herausforderung an. Still, ohne eine Stimme oder eine Vision, macht Gott seine Gegenwart unmissverständlich deutlich. Die Finger einer Menschenhand schreiben stumm den Satz des Gerichts an die Wand des königlichen Palastes. Trotz der Betrunkenheit des Königs wird dieser mit einem Mal von seinem Gewissen befallen. Sein Gesichtsausdruck verrät seinen Schrecken, seine Gedanken ängstigen ihn und er zittert von Kopf bis Fuß.
„Der König rief mit Macht, dass man die Sterndeuter, die Chaldäer und die Wahrsager hereinbringe; und der König hob an und sprach zu den Weisen von Babel: Jeder, der diese Schrift lesen und ihre Deutung mir anzeigen wird, der soll mit Purpur bekleidet werden, mit einer goldenen Kette um seinen Hals, und er soll als Dritter im Königreich herrschen. Dann kamen alle Weisen des Königs herbei; aber sie vermochten nicht, die Schrift zu lesen und dem König ihre Deutung kundzutun“ (5,7.8).
In seinem Schrecken wendet er sich an die Weisen Babylons. Er verspricht große Belohnungen für die Deutung der Worte, jedoch vergeblich.
„Da geriet der König Belsazar in große Angst, und seine Gesichtsfarbe veränderte sich an ihm; und seine Gewaltigen wurden bestürzt. Infolge der Worte des Königs und seiner Gewaltigen trat die Königin in das Haus des Gelages. Die Königin hob an und sprach: O König, lebe ewig! Lass deine Gedanken dich nicht ängstigen und deine Gesichtsfarbe sich nicht verändern! Es ist ein Mann in deinem Königreich, in dem der Geist der heiligen Götter ist. Und in den Tagen deines Vaters wurden Erleuchtung und Verstand und Weisheit wie die Weisheit der Götter bei ihm gefunden; und der König Nebukadnezar, dein Vater, hat ihn zum Obersten der Wahrsagepriester, der Sterndeuter, der Chaldäer und der Wahrsager erhoben – dein Vater, o König –, weil ein außergewöhnlicher Geist und Kenntnis und Verstand, ein Geist der Traumdeutung und der Rätselerklärung und der Knotenlösung bei ihm gefunden wurde, bei Daniel, dem der König den Namen Beltsazar gegeben hat. So werde nun Daniel gerufen, und er wird die Deutung anzeigen“ (5,9–12).
Nachdem seine Weisen ihn im Stich gelassen haben, verfällt der elende König in noch tieferen Schrecken. Die Königin hört von dem Schrecken des Königs und kommt zu dem Fest. Offensichtlich hatte sie sich an dieser gottlosen Szene nicht beteiligt. Es ist darauf hingewiesen worden, dass sie nicht die Frau des Königs war, denn seine Frauen waren beim Fest anwesend (5,2.3). Möglicherweise war sie die Königswitwe. Offenbar war sie mit Daniel und den großen Ereignissen, die in den Tagen Nebukadnezars stattgefunden hatten, wohlvertraut. Sie ist in der Lage, dem König von der Anwesenheit Daniels im Königreich zu berichten.
„Darauf wurde Daniel vor den König geführt. Der König hob an und sprach zu Daniel: Bist du Daniel, einer der Weggeführten von Juda, die der König, mein Vater, aus Juda hergebracht hat? Und ich habe von dir gehört, dass der Geist der Götter in dir ist und dass Erleuchtung und Verstand und außergewöhnliche Weisheit bei dir gefunden werden. Und nun sind die Weisen, die Sterndeuter, vor mich geführt worden, damit sie diese Schrift läsen und mir ihre Deutung kundtäten; aber sie vermögen nicht, die Deutung der Sache anzuzeigen. Ich habe aber von dir gehört, dass du Deutungen zu geben und Knoten zu lösen vermagst. Nun, wenn du diese Schrift zu lesen und mir ihre Deutung kundzutun vermagst, so sollst du mit Purpur bekleidet werden, mit einer goldenen Kette um deinen Hals, und du sollst als Dritter im Königreich herrschen“ (5,13–16).
Daraufhin wird Daniel vor den König gebracht. Der König hatte von der Weisheit Daniels durch seine Traumdeutung in den Tagen Nebukadnezars gehört, doch offensichtlich hatte er sich nicht für eine Bekanntschaft mit diesem jüdischen Gefangenen interessiert. Doch Gott erniedrigt in seinen Wegen die Weisen dieser Welt und erhöht den verachteten Gefangenen. Beim Volk Gottes wird trotz der Gefangenschaft Weisheit gefunden.
„Da antwortete Daniel und sprach vor dem König: Deine Gaben mögen dir verbleiben, und deine Geschenke gib einem anderen; jedoch werde ich dem König die Schrift lesen und ihm die Deutung kundtun“ (5,17).
Mit ruhiger Erhabenheit antwortet Daniel dem König, er möge seine Geschenke und Belohnungen einem anderen geben. Unabhängig von jeglichen Belohnungen würde er die Schrift lesen.
„Du, o König – der höchste Gott hatte Nebukadnezar, deinem Vater, das Königtum und die Größe und die Ehre und die Herrlichkeit verliehen; und wegen der Größe, die er ihm verliehen hatte, bebten und fürchteten sich alle Völker, Völkerschaften und Sprachen vor ihm. Wen er wollte, tötete er, und wen er wollte, ließ er leben; und wen er wollte, erhob er, und wen er wollte, erniedrigte er. Als aber sein Herz sich erhob und sein Geist sich bis zur Vermessenheit verstockte, wurde er vom Thron seines Königtums gestürzt, und man nahm ihm seine Würde. Und er wurde von den Menschenkindern ausgestoßen, und sein Herz wurde wie das der Tiere, und seine Wohnung war bei den Wildeseln; man gab ihm Kraut zu essen wie den Rindern, und sein Leib wurde vom Tau des Himmels benetzt – bis er erkannte, dass der höchste Gott über das Königtum der Menschen herrscht und darüber bestellt, wen er will. Und du, Belsazar, sein Sohn, hast dein Herz nicht gedemütigt, obwohl du dies alles gewusst hast“ (5,18–22).
Bevor er dies tut, weist Daniel den König zurecht, indem er ihn an die Wege Gottes mit Nebukadnezar erinnert. Der höchste Gott hatte Nebukadnezar ein weltumfassendes Königreich mit absoluter Macht gegeben. Doch der König hatte es zu seiner eigenen Ehre benutzt und Gott hatte ihn für seinen Stolz gedemütigt. All dies wusste Belsazar gut, und trotz dieser Warnung hatte er sein Herz nicht gedemütigt.
„Und du hast dich über den Herrn des Himmels erhoben; und man hat die Gefäße seines Hauses vor dich gebracht, und du und deine Gewaltigen, deine Frauen und deine Nebenfrauen, ihr habt Wein daraus getrunken. Und du hast die Götter aus Silber und Gold, aus Kupfer, Eisen, Holz und Stein gerühmt, die nicht sehen und nicht hören und nicht wahrnehmen; aber den Gott, in dessen Hand dein Odem ist und bei dem alle deine Wege sind, hast du nicht geehrt. Da wurde von ihm diese Hand gesandt und diese Schrift gezeichnet“ (5,23.24).
Dann klagt Daniel den König in seiner Schuld an. Nebukadnezar hatte das Volk Gottes verfolgt, doch Belsazar hatte sich „über den Herrn des Himmels erhoben“. Diese Gottlosigkeit stürzte ihn ins Verderben und brachte das erste Weltreich zu seinem Ende. In Verbindung mit dieser Handlung der Gottlosigkeit waren die Worte geschrieben worden. So klagt Daniel die Schuld des Königs an, bevor er die Schrift liest, die seinen Untergang verkündet.
„Und dies ist die Schrift, die gezeichnet worden ist: Mene, mene, tekel upharsin“ (5,25)
Die Bedeutung der Worte war nicht schwer zu verstehen. Wörtlich übersetzt bedeuten sie „gezählt“, „gewogen“, „zerteilt“. Die Schwierigkeit war, dass sie als einzelne Wörter ohne eine gottgegebene Auslegung keine Bedeutung enthielten. Was war also die Botschaft Gottes, die sie übermitteln sollten?
„Dies ist die Deutung der Sache: Mene – Gott hat dein Königtum gezählt und macht ihm ein Ende“ (5,26).
Daniel, der Prophet Gottes, zeigt die Deutung der Worte an. „Dies“, spricht er, „ist die Deutung der Sache“. Dem König wird nun gesagt, dass „Mene“ (oder „gezählt“) bedeutet, dass Gott sein Königtum gezählt und ihm eine Ende gesetzt hat. Viele Jahre zuvor hatte Daniel Nebukadnezar gesagt, dass Gott ihm „das Königtum, die Macht und die Gewalt und die Ehre“ gegeben hatte. Doch er hatte ihn auch gewarnt, dass nach seinem Königreich ein anderes aufstehen würde. 68 Jahre lang hatten die Könige von Babylon höchste Macht über die gesamte bewohnte Erde ausgeübt. Nun war das Ende des babylonischen Reiches gekommen. Seine Tage waren gezählt und seine universelle Herrschaft beendet.
„Tekel – du bist auf der Waage gewogen und zu leicht befunden worden“ (5,27).
Das nächste Wort, „Tekel“, was „gewogen“ bedeutet, sagt dem gottlosen König, warum sein Königreich sein Ende erreicht hatte. Der Herrscher des Reiches wurde in der Waage gewogen und zu leicht befunden. Nebukadnezar und seine Nachfolger hatten in ihrer Verantwortung, die Welt in der Furcht Gottes zu regieren, vollständig versagt. Unter der züchtigenden Hand Gottes hatte Nebukadnezar tatsächlich Buße getan. Belsazar, der letzte Herrscher, hatte, obwohl er sich all der Wege Gottes mit Nebukadnezar völlig bewusst gewesen war, schlimmer gesündigt als seine Vorgänger. Offen und respektlos hatte er Gott herausgefordert. Seine Taten waren auf der unfehlbaren Waage Gottes gewogen und für zu leicht befunden worden.
„Peres – dein Königreich wird zerteilt und den Medern und Persern gegeben“ (5,28).
Das dritte Wort, „Peres“ (eine andere Form des Wortes Upharsin – beides sind leicht unterschiedliche Teile desselben Verbes), bedeutet „zerteilt“. Das Ergebnis der Gottlosigkeit des Königs war es, sofortiges Gericht über den König zu bringen. Daniel sagt dem König deutlich: „Dein Königreich wird zerteilt und den Medern und Persern gegeben.“
„Darauf befahl Belsazar, und man bekleidete Daniel mit Purpur, mit einer goldenen Kette um seinen Hals; und man rief über ihn aus, dass er der dritte Herrscher im Königreich sein solle. In derselben Nacht wurde Belsazar, der König der Chaldäer, getötet. Und Darius, der Meder, bekam das Königreich, als er ungefähr zweiundsechzig Jahre alt war“ (5,29–30; 6,1).
Der König schenkt dem Botschafter viel Anerkennung, die Botschaft jedoch scheint er kaum zu beherzigen. Nichtsdestotrotz bricht in dieser Nacht das Gericht herein. Belsazar wird erschlagen, und Darius, der Meder, übernimmt das Königreich. So kommt das babylonische Weltreich zu seinem Ende, und die zweite große Weltmacht – das Medo-Persische Reich – beginnt seinen Lauf zu nehmen.