Das Buch Daniel
Daniel 10
Vorbereitung für göttliche Botschaften
Die letzten drei Kapitel bilden einen eigenen Abschnitt des Buches Daniel, indem sie einen Ausblick auf historische Tatsachen geben, die sich auf den Umgang der heidnischen Mächte mit Gottes irdischem Volk von der Zeit der persischen Monarchie bis zu deren endgültiger Befreiung unter der Regierung Christi beziehen.
Daniel 10 bis 11,1 geben einleitend die Umstände an, unter denen Daniel diese abschließenden Botschaften empfängt. Daniel 11 stellt einen prophetischen Überblick über die Ereignisse dar, die in Verbindung mit den Königen der Länder nördlich und südlich des Heiligen Landes stehen. Daniel 12 sagt Gottes Handeln mit dem treuen Überrest der Juden voraus, wenn die Nation durch die große dreieinhalb Jahre andauernde Trübsal geht, die dem Königreich Christi vorausgeht.
Daniel 10 gibt uns die Zeit an, zu der Daniel diese Botschaften empfing, sowie den Zustand seiner Seele, sowie die Umstände, unter denen er diese empfing.
„Im dritten Jahr Kores', des Königs von Persien, wurde Daniel, der Beltsazar genannt wird, eine Sache offenbart, und die Sache ist Wahrheit und betrifft eine große Mühsal; und er verstand die Sache und bekam Verständnis über das Gesicht“ (10,1).
Diese Dinge wurden Daniel im dritten Jahr des Kores, des Königs von Persien, offenbart. Aus Esra 1,1 wissen wir, dass im ersten Jahr dieses Königs ein Erlass ergangen war, der es dem jüdischen Volk freistellte, in ihr Land zurückzukehren. Offenbar hatte Daniel von diesem Erlass keinen Gebrauch gemacht, denn im dritten Jahr des Kores wird er noch immer an dem Fluss Hiddekel im Land Assyrien gefunden. Hier wird Daniel die erste Wahrheit offenbart, dass sein Volk die teilweise Rückkehr aus der Gefangenschaft nicht überstehen würde, sondern noch immer die „festgesetzte Zeit der Prüfung“ erwartet, und diese traurige Zeit würde lang sein.
„In jenen Tagen trauerte ich, Daniel, drei volle Wochen. Köstliche Speise aß ich nicht, und weder Fleisch noch Wein kam in meinen Mund; und ich salbte mich nicht, bis drei volle Wochen vorüber waren“ (10,2.3).
Obwohl Daniel im Land der Gefangenschaft blieb, war ihm der Zustand des Volkes Gottes bei Weitem nicht gleichgültig. Dies kann an dem Zustand seiner Seele klar gesehen werden. Volle drei Wochen trauerte er und verzichtete auf Fleisch und Wein. Die Natur könnte in der teilweisen Rückkehr eine Wiederbelebung unter dem Volk Gottes und einen Neustart in ihrer geistlichen Geschichte gesehen haben, die nach Jubel, Feiern und Freude rief. Der Mann Gottes fühlt hingegen die leidensvolle Vergangenheit des Volkes Gottes, seine derzeitige Schwachheit trotz der Freiheit, in das Land zurückzukehren, und sieht vor allem die weiteren Leiden, die es erwarten, bevor es die endgültige Befreiung erreicht. Wir wissen, dass unter denen, die zurückgekehrt waren, tatsächlich die jüngere Generation „ihre Stimme mit freudigem Jubel“ erhob, während die älteren Männer „weinten mit lauter Stimme“ (Esra 3,12). Mit ebendiesem Geist trauert der betagte Daniel im Land der Gefangenschaft.
Es wäre gut für das Volk Gottes, wenn jede gnadenvolle Erweckung unter ihm zu einem Anlass für Bekenntnis und Trauer gemacht würde, indem man sich daran erinnert, dass es keine vollständige und endgültige Befreiung geben wird, bis Christus wiederkommt. In jeder echten Erweckung wird das Volk Gottes, wenn es vom Geist geleitet ist, durch Gebet und Bekenntnis anstelle von Geschrei und Jubel gekennzeichnet sein. Je mehr Lärm und Zurschaustellung es gibt, desto geringer ist die Beteiligung Gottes in jeder Bewegung des Volkes Gottes.
Überdies bereitet ebendieser innere Zustand Daniel auf die Botschaften vor, die er sogleich empfangen soll. Jemand hat einmal sehr wahr gesprochen: „Was für ein größerer Fehler kann gemacht werden als anzunehmen, dass wir ohne eine moralische Vorbereitung unserer Herzen Einsicht in Gottes Geheimnisse erlangen könnten oder zu denken, es sei möglich, göttliche Dinge ausschließlich durch Hören oder Lesen zu verstehen, oder weil wir uns um bestimmte Führer des Volkes Gottes versammelt und ihre Lehren begeistert hochgehalten haben? Demütigung und Fasten waren die Mittel, mit denen Daniel diese Offenbarungen empfing. Daher geschieht es heute nur, wenn wir moralisch außerhalb der hiesigen Dinge stehen – außerhalb der Befriedigung der Sinne und Freuden der Erde, indem wir uns gründlich gereinigt haben durch die Inanspruchnahme des Kreuzes in der Gegenwart Gottes –, dass der Geist Gottes die Augen unserer Herzen erleuchtet, um die Gedanken und den Willen Gottes zu erkennen.“
„Und am vierundzwanzigsten Tag des ersten Monats, da war ich am Ufer des großen Stromes, das ist der Hiddekel. Und ich erhob meine Augen und sah: Und siehe, da war ein Mann, in Leinen gekleidet, und seine Lenden waren umgürtet mit Gold von Uphas; und sein Leib war wie ein Chrysolith und sein Angesicht wie das Aussehen des Blitzes und seine Augen wie Feuerfackeln und seine Arme und seine Füße wie der Anblick von leuchtendem Kupfer; und die Stimme seiner Worte war wie die Stimme einer Menge“ (10,4–6).
Daniel, der sich in der richtigen Verfassung befindet, um Botschaften von Gott zu empfangen, hat eine wunderbare Vision eines herrlichen Engelwesens, durch das Gott seine Gedanken weitergibt. Er sieht den Engel, der nicht eine einfache Gestalt annimmt, um dem Menschen zu erscheinen, sondern in seiner ganzen engelhaften Herrlichkeit, die seine Erhabenheit, Heiligkeit und Macht als göttlicher Bote nach außen trägt, auftritt.
„Und ich, Daniel, allein sah das Gesicht; die Männer aber, die bei mir waren, sahen das Gesicht nicht; doch fiel ein großer Schrecken auf sie, und sie flohen und verbargen sich. Und ich blieb allein übrig und sah dieses große Gesicht; und es blieb keine Kraft in mir, und meine Gesichtsfarbe verwandelte sich an mir bis zur Entstellung, und ich behielt keine Kraft. Und ich hörte die Stimme seiner Worte; und als ich die Stimme seiner Worte hörte, sank ich betäubt auf mein Angesicht, mit meinem Angesicht zur Erde. Und siehe, eine Hand rührte mich an und machte, dass ich auf meine Knie und Hände emporwankte. Und er sprach zu mir: Daniel, du vielgeliebter Mann! Höre auf die Worte, die ich zu dir rede, und steh an deiner Stelle; denn ich bin jetzt zu dir gesandt. Und als er dieses Wort zu mir redete, stand ich zitternd auf“ (10,7–11).
Uns wird der Effekt mitgeteilt, den das Gesicht auf Daniel und seine Begleiter hatte. Die Männer, die bei Daniel waren, sahen die Vision nicht, doch sie fühlten die Gegenwart seines himmlischen Daseins und, mit Schrecken erfüllt, flohen und verbargen sie sich. Daniel wird von Furcht überfallen, als er in Gegenwart des Engels allein gelassen wird, und fällt zu Boden, wobei er in tiefem Schlaf Erleichterung findet. In dieser Haltung berührt ihn die Hand des Engels und er wird auf seine Knie und seine Handflächen gebracht. Dann spricht der Engel und versichert ihm, dass er vielgeliebt ist, und er wird befähigt, aufrecht zu stehen, wenn auch zitternd. Somit wird er in Gegenwart dieses göttlichen Wesens freigesetzt, Botschaften Gottes zu hören.
„Und er sprach zu mir: Fürchte dich nicht, Daniel! Denn vom ersten Tag an, als du dein Herz darauf gerichtet hast, Verständnis zu erlangen und dich vor deinem Gott zu demütigen, sind deine Worte erhört worden; und um deiner Worte willen bin ich gekommen“ (10,12).
Bevor der Engel Daniel die besonderen Wahrheiten darlegt, für deren Überbringung er gesendet worden war, hebt der Engel den Schleier, der das Sichtbare vom Unsichtbaren trennt und gibt uns in einem einzigartigen Abschnitt einen Einblick in die Handlungen spiritueller Wesen, ob gut oder böse, die sich hinter so vielem abspielen, was in der Menschenwelt stattfindet. „Wenn es Konflikte auf der Erde gibt, resultieren sie aus höheren Konflikten – die Kämpfe der Engel mit diesen bösen Wesen, den Werkzeugen Satans, die ständig versuchen, die Ratschlüsse Gottes für diese Erde zu durchkreuzen.“
Wir wissen, dass die Engel in besonderer Weise die Beschützer des Volkes Gottes sind, „ausgesandt zum Dienst um derer willen, die die Errettung erben sollen“ (Heb 1,14). Hier lernen wir außerdem, dass sie die Ausführer des Willens Gottes hinter all seinen guten Handlungsweisen unter den Menschen sind – und während sie ihren Auftrag ausführen, werden sie von bösen geistlichen Wesen bekämpft.
Wir haben zudem in dieser Szene die tröstende Zusage, dass Gott den Übungen und Gebeten seines Volkes nicht gleichgültig gegenübersteht. Von dem ersten Moment an, als Daniel sein Herz darauf gerichtet hatte, die Gedanken Gottes zu verstehen und sich selbst vor Gott zu demütigen, wurde sein Gebet erhört. Wir mögen uns über andere ärgern und gegen ihre Bosheiten eifern, aber wenn unsere Gebete wirkungsvoll sein sollen, müssen wir uns wie Daniel in der Gegenwart Gottes demütigen.
Als Antwort auf diese Übungen war der Engel gesandt worden, um Daniel zu versichern, dass er vielgeliebt ist, um ihn in seinem Leid zu trösten und ihn über die Gedanken Gottes zu unterrichten.
„Aber der Fürst des Königreichs Persien stand mir 21 Tage entgegen; und siehe, Michael, einer der ersten Fürsten, kam, um mir zu helfen, und ich trug dort den Sieg davon bei den Königen von Persien“ (10,13).
Obwohl Daniels Gebet bereits am ersten Tag, als er sein Herz vor Gott ausgeschüttet hatte, erhört worden war, kam die Antwort auf sein Gebet drei Wochen verspätet. Der Engel gibt den Grund für diese Verspätung an. Es waren gegensätzliche geistliche Kräfte am Werk. Drei Wochen lang hatte der Fürst des Königs von Persien dem Engel, der zu Daniel gesandt worden war, widerstanden. Der Fürst des Königreiches Persien ist offensichtlich ein geistliches Wesen. In diesem Vers wird Michael, der Erzengel, als „einer der ersten Fürsten“ und im letzten Kapitel als „der große Fürst“ bezeichnet (12,1).
In diesem speziellen Kampf zwischen geistlichen Mächten war Michael, einer der obersten Engelsfürsten, dem zu Daniel gesandten Engel zur Hilfe gekommen. Dieser Kampf mit Satans Abgesandtem, der geschickt worden war, um Gottes Werk im Königreich Persien zu bekämpfen, hatte den Engel bei den Königen von Persien aufgehalten.
„Und ich bin gekommen, um dich verstehen zu lassen, was deinem Volk am Ende der Tage widerfahren wird; denn das Gesicht geht noch auf ferne Tage“ (10,14).
Nachdem dieser Kampf der geistlichen Mächte beendet ist, kommt der Engel zu Daniel und informiert ihn darüber, dass er gesandt wurde, um Daniel verständlich zu machen, was sein Volk – die Juden – in den letzten Tagen ereilen würde, und hebt die Tatsache hervor, dass das Gesicht noch auf ferne Tage geht.
Im Laufe der Unterhaltung werden wir sehen, dass viele Ereignisse vorhergesagt werden, die ihre Erfüllung bereits gefunden haben, deren Wichtigkeit jedoch in ihrer Verbindung mit der Zukunft und der Art und Weise liegt, wie sie zur Erscheinung des Antichrists und der großen Trübsal der letzten Tage führen.
„Und als er in dieser Weise mit mir redete, richtete ich mein Angesicht zur Erde und verstummte. Und siehe, einer, den Menschenkindern gleich, berührte meine Lippen; und ich tat meinen Mund auf und redete und sprach zu dem, der vor mir stand: Mein Herr, wegen des Gesichts überfielen mich die Wehen, und ich habe keine Kraft behalten. Und wie vermag ein Knecht dieses meines Herrn mit diesem meinem Herrn zu reden? Und ich – von nun an bleibt keine Kraft mehr in mir, und kein Odem ist in mir übrig. Da rührte mich wieder einer an, von Aussehen wie ein Mensch, und stärkte mich. Und er sprach: Fürchte dich nicht, du vielgeliebter Mann! Friede dir! Sei stark, ja, sei stark! Und als er mit mir redete, fühlte ich mich gestärkt und sprach: Mein Herr möge reden, denn du hast mich gestärkt“ (10,15–19).
Überwältigt von der Größe dieser Botschaften, die von einem solch herrlichen Wesen verkündigt werden, fühlt Daniel seine eigene Unwürdigkeit und sein Unvermögen. Er beugt sein Angesicht in Demut und verstummt. Er erhält jedoch Kraft von einem engelhaften Wesen in Gestalt eines Menschen, der seine Lippen berührt. Er wird dadurch ermutigt, zu sprechen und einzugestehen, dass ihn das Gesicht mit Sorgen erfüllt und ihn gänzlich geschwächt hat, wobei er einen Sinn für seine eigene Unwürdigkeit zeigt, mit diesem himmlischen Boten zu sprechen.
Der Engel berührt ihn erneut, wodurch er ihm Kraft übermittelt und ihm versichert, dass er persönlich vielgeliebt ist und keinen Grund zur Furcht hat. Er erfüllt ihn mit dem Frieden Gottes und ermutigt ihn, stark zu sein. Nachdem Daniel seine Seele vor Gott ausgeschüttet hat, wurde der Friede Gottes in sein Herz ausgegossen (vgl. Phil 4,6.7). Das Ergebnis ist, dass Daniel gestärkt ist und zu dem Engel sagen kann: „Mein Herr möge reden, denn du hast mich gestärkt.“
„Da sprach er: Weißt du, warum ich zu dir gekommen bin? Und jetzt werde ich zurückkehren, um mit dem Fürsten von Persien zu kämpfen; aber wenn ich ausziehe, siehe, so wird der Fürst von Griechenland kommen. Doch will ich dir kundtun, was im Buch der Wahrheit verzeichnet ist. Und kein Einziger steht mir gegen jene mutig bei als nur Michael, euer Fürst. Und auch ich stand im ersten Jahr Darius', des Meders, ihm bei als Helfer und Schutz“ (10,20–11,1).
Von diesem Punkt an wird Daniel zum Zuhörer. Der Engel informiert ihn, dass er sogleich zurückkehren wird, um mit den satanischen Engelsfürsten von Persien und Griechenland zu kämpfen. Bevor er seinen Kampf mit dem geistlichen Bösen erneut aufnimmt, offenbart er Daniel, was in der Schrift der Wahrheit niedergeschrieben ist. Die Offenbarungen der Kapitel 11 und 12 wurden in der Schrift zu unserem Nutzen aufgeschrieben.
Daniel wird versichert, dass Michael der geistliche Fürst ist, der entsendet ist, um die Interessen von Gottes irdischem Volk zu vertreten. Der Engel, der zu Daniel gesendet worden war, war bereits benutzt worden, um Darius, den Meder, zu befestigen und zu stärken. Diese Aussage könnte großes Licht auf die Tatsache werfen, dass Darius Daniel so wohlgesonnen war (vgl. 6,14–28). In Daniel 6 lesen wir die äußere Geschichte. In dem Abschnitt in Daniel 10 bis 11,1 sehen wir den geistlichen Kampf hinter der Geschichte. Wir lernen nun, dass die Feindseligkeit der Feinde Daniels das Ergebnis geistlicher Bosheit war, die hinter den Kulissen am Werk war. Ebenso war die Gunst, die Daniel vor Darius hatte, das Ergebnis davon, dass der König durch Gottes engelhaften Botschafter befestigt und gestärkt worden war – unabhängig davon, wie wenig sowohl die Feinde Daniels als auch seine Freunde sich der Handlungen dieser geistlichen Wesen bewusst waren.