Das Buch Daniel
Daniel 9
Gebet und Bekenntnis
In Übereinstimmung mit den anderen Prophezeiungen Daniels nimmt uns das neunte Kapitel mit in die Zukunft, indem es uns das Schicksal Jerusalems vor Augen führt. Doch darüber hinaus zeigt es uns auch die Verbindung zwischen der Erweckung des Volkes Gottes in den Tagen Daniels und dem Gericht, das an einem späteren Tag über Jerusalem kommen und in seiner Verwüstung enden würde.
Daniel wird unterrichtet, dass zwar ein Überrest ins Land zurückgebracht und der Tempel und die Stadt in seinen Tagen wieder aufgebaut werden würden, wie es in den Büchern Esra und Nehemia berichtet wird. Jedoch beendet diese Erweckung keineswegs die Gefangenschaft Israels, noch befreit sie Jerusalem von der Unterdrückung durch die Heiden. Es wird noch Leid für Gottes Volk auf Erden und Verwüstungen für seine Stadt geben, bevor das Ende erreicht ist.
Als Prophet hat Daniel Gesichte gesehen und Offenbarungen über die Zukunft empfangen. Jetzt sehen wir ihn als den Fürbitter im Namen des Volkes Gottes und er empfängt als Antwort auf sein Gebet und sein Flehen Belehrungen über Gottes Gedanken.
Die Verse 1 und 2 geben Auskunft über den Anlass, der das Gebet hervorgerufen hat. Die Verse 3 bis 6 dokumentieren Daniels Bekenntnis der Sünde und des Versagens des Volkes Gottes. Die Verse 7 bis 15 legen seine Verteidigung Gottes in all seinen züchtigenden Regierungswegen dar, die über das Volk gekommen waren. Die Verse 16 bis 19 legen sein Flehen zu Gott um Barmherzigkeit im Namen des Volkes Gottes dar. Die Verse 20 bis 27 stellen uns schließlich Gottes gnädige Antwort auf Daniels Gebet vor, wobei ihm die Gedanken Gottes in Wort und Gesicht verständlich gemacht werden.
Der Anlass des Gebets (Verse 1 und 2)
„Im ersten Jahr Darius', des Sohnes Ahasveros', aus dem Geschlecht der Meder, der über das Reich der Chaldäer König geworden war ...“ (9,1).
68 Jahre waren vergangen, seitdem Daniel beim Fall Jerusalems gefangen genommen worden war. Daniel hatte die Auferstehung und den Fall Babylons, des ersten Weltreiches, gesehen. Persien, das zweite Weltreich, hatte jetzt die Vorherrschaft erlangt. In diesem Königreich hatte Daniel eine hohe, autoritäre Position über die Fürsten des Reiches inne. Doch weder seine gehobene Stellung, noch die beanspruchenden staatlichen Angelegenheiten konnten auch nur für einen Moment seine brennende Liebe für das Volk Gottes oder seinen Glauben in das sein Volk betreffende Wort Gottes dämpfen.
„Im ersten Jahr seiner Regierung verstand ich, Daniel, in den Schriften die Zahl der Jahre, bezüglich derer das Wort des HERRN an den Propheten Jeremia ergangen war, dass nämlich 70 Jahre für die Verwüstung Jerusalems vollendet werden sollten“ (9,2).
Wir haben bereits gesehen, dass Daniel ein Mann des Gebets war. Jetzt erfahren wir, dass er ebenso jemand war, der die Schriften studierte. Obwohl er selbst ein Prophet war, war er bereit, auf andere inspirierte Propheten Gottes zu hören und die Gedanken Gottes in den Büchern der Schrift zu erfahren. So kommt es, dass er beim Lesen des Buches Jeremia entdeckt, dass das Land Israel nach dem Fall Jerusalems in den Tagen Jojakims 70 Jahre zur Einöde werden würde und am Ende dieser siebzig Jahre der König von Babylon gerichtet und das Land der Chaldäer verwüstet werden würde (Jer 25,1.11.12). Darüber hinaus lernt Daniel, dass nicht nur Babylon gerichtet werden würde, sondern dass der HERR zu Jeremia geredet hatte: „Sobald siebzig Jahre für Babel voll sind, werde ich mich euer annehmen und mein gutes Wort an euch erfüllen, euch an diesen Ort zurückzubringen“ (Jer 29,10).
Daniel macht diese wichtige Entdeckung im ersten Jahr des Darius. Die eigentliche Rückkehr fand, wie wir wissen, zwei Jahre später im ersten Jahr des Kores statt (Esra 1,1). Zu diesem Zeitpunkt kann es keine aktuellen Ereignisse gegeben haben, die Hoffnung auf eine Rückkehr gerechtfertigt hätten. Dass Gott sich seines Volkes in der Gefangenschaft annehmen und ihnen einen Weg zur Rückkehr eröffnen würde, erkennt er „in den Schriften“, nicht durch die Umstände. Er hatte gerade die Vernichtung des Königs von Babylon und den Fall seines Reiches gesehen, doch er stellt keine Spekulationen über die erschütternden Ereignisse, die um ihn herum stattfinden, an. Auch strebt er nicht danach, aus diesen für das Volk Gottes vorteilhafte Schlussfolgerungen zu ziehen. Er wird in seinem Verständnis von der Schrift, dem Gottes Wort, geleitet, ob die Umstände für oder gegen die Verheißungen Gottes sprechen. Das Wort Gottes ist der wahre Schlüssel zur Prophetie. Wir müssen Prophezeiungen weder durch sich ereignende Umstände erklären, noch die Erfüllung der Prophezeiungen abwarten, um sie auszulegen.
Daniels Bekenntnis der Sünde des Volkes Gottes (Verse 3–6)
„Und ich richtete mein Angesicht zu Gott, dem Herrn, um ihn mit Gebet und Flehen zu suchen, in Fasten und Sacktuch und Asche“ (9,3).
Die sofortige Reaktion der Erkenntnis Daniels aus dem Wort, dass Gott kurz davor steht, sich seines Volkes anzunehmen, ist seine Hinwendung zu Gott. Er geht mit den guten Neuigkeiten nicht zu seinen Mitgefangenen, sondern er nähert sich Gott, indem er sagt: „Und ich richtete mein Angesicht zu Gott, dem Herrn.“ Wie jemand sagte, „hat [er] Gemeinschaft mit Gott über das, was er von Gott empfangen hat“. Das Ergebnis ist, dass er den wahren Charakter des Augenblickes und den moralischen Zustand des Volkes sieht und in einer Weise handelt, die für den Augenblick angemessen ist.
Gott ist im Begriff, seine züchtigende Hand zurückzuziehen und seinem Volk eine kleine Wiederbelebung zu gewähren. Nichtsdestotrotz ist Daniel weder erfreut, noch wendet er sich mit Rufen und Lobpreis an das Volk. Vielmehr sieht er die wahre Bedeutung des Augenblickes und wendet sich an Gott, „um ihn mit Gebet und Flehen zu suchen, in Fasten und Sacktuch und Asche“, und legt dem HERRN, seinem Gott, ein Bekenntnis ab.
Gut mit der Schrift vertraut, schaut Daniel über 1.000 Jahre zurück, seit Gott sein Volk von der Sklaverei in Ägypten befreit hatte (9,15). Er sieht, dass diese Zeitperiode eine lange Geschichte des Versagens und der Rebellion ist. Ihm war bereits gewährt worden, in die Zukunft zu blicken und das Versagen und Leid, das das Volk Gottes noch erwartete, zu sehen (Kap. 7–8). Auch hatte er gelernt, dass es keine vollständige Befreiung für das Volk Gottes geben würde, bis der Sohn des Menschen kommt und sein Königreich aufrichtet.
Kurz zusammengefasst sieht er die von Versagen gekennzeichnete Vergangenheit, die von den Prophezeiungen noch tieferer Leiden und größeren Versagens verdunkelte Zukunft, und keine Hoffnung auf Befreiung für das Volk Gottes als Ganzes bis zum Kommen des Königs. Angesichts dieser Wahrheiten war Daniel tief betroffen, seine Gedanken ängstigten ihn, seine Gesichtsfarbe veränderte sich und er war erschöpft und einige Tage krank (7,28; 8,27).
Aber Daniel machte noch eine andere Entdeckung. Er lernte aus der Schrift, dass Gott trotz allen bisherigen Versagens und allen zukünftigen Unheils vorhergesagt hatte, dass es inmitten dieser Jahre eine kleine Wiederbelebung geben würde.
In all diesem können wir kaum anders, als eine Verbindung zwischen unseren Tagen und denen Daniels zu sehen. Wir können zurückblicken auf Jahrhunderte des Versagens der Versammlung in ihrer Verantwortung. Wir wissen aus der Schrift, dass „böse Menschen aber und Betrüger ... zu Schlimmerem fortschreiten“ werden (2. Tim 3,13), und sehr bald die, die den Namen Christi auf der Erde bekennen, aus seinem Mund ausgespien werden. Wir wissen auch, dass nichts als das Kommen Christi das Volk Gottes wieder zusammenbringen und die ganze beklagenswerte Geschichte des Versagens beenden wird. Aber wir wissen auch, dass inmitten all dieses Versagens Gott deutlich gesagt hat, dass es eine philadelphische Wiederbelebung einiger weniger geben wird, die inmitten des Verderbens der Christenheit in großer Schwachheit danach trachten, sein Wort zu bewahren und seinen Namen nicht zu verleugnen.
Daniel zeigt in seinem Gebet und in seinem Bekenntnis den Geist, der die kennzeichnen sollte, die sich, in seinen oder in unseren Tagen, danach sehnen, durch die offene Tür der Befreiung einzugehen, die Gott seinem Volk öffnet.
„Und ich betete zu dem HERRN, meinem Gott, und ich bekannte und sprach: Ach, Herr, du großer und furchtbarer Gott, der den Bund und die Güte denen bewahrt, die ihn lieben und seine Gebote halten!“ (9,4).
Indem er sich mit seinem Bekenntnis an Gott wendet, bekommt Daniel einen tiefen Eindruck der Größe, Heiligkeit und Treue Gottes. Außerdem erkennt er, dass Gott sich an sein Wort hält und dass sein Volk, wenn es nur seinen Namen ehren und sein Wort halten würde, Gnade finden würde.
„Wir haben gesündigt und verkehrt und gottlos gehandelt, und wir haben uns empört und sind von deinen Geboten und von deinen Rechten abgewichen. Und wir haben nicht auf deine Knechte, die Propheten, gehört, die in deinem Namen zu unseren Königen, unseren Fürsten und unseren Vätern und zu allem Volk des Landes geredet haben“ (9,5.6).
Mit dem wahren Eindruck der Größe Gottes vor Augen erkennt Daniel auf einmal den niedrigen Zustand des Volkes. Gott hatte sich an seinen Bund gehalten, aber das Volk war von den Geboten und Rechten Gottes abgewichen. Er begreift, dass dieser niedrige moralische Zustand die Wurzel all der Trennung und Zerstreuung ist, die unter dem Volk Gottes eingetreten war. Er sucht nicht die Schuld für die Trennung und Zerstreuung auf einzelne Personen zu wälzen, die tatsächlich in eigenwilliger Weise gehandelt und die Wahrheit verdreht und viele in die Irre geführt haben mögen. Wie wir wissen, war dies der Fall bei den Königen, Priestern und falschen Propheten. Aber indem er hinter das Versagen einzelner Personen schaut, sieht und bekennt er das Versagen des Volkes Gottes als Ganzes. Er spricht: Wir haben gesündigt ... unsere Könige, unsere Fürsten, unsere Väter ... und alles Volk des Landes. Daniel selbst hatte keinen direkten Anteil an der Zerstreuung, die vor fast siebzig Jahren stattgefunden hatte. Er konnte zum Zeitpunkt der Zerstörung Jerusalems nur ein Kind gewesen sein, und während der Gefangenschaft war wahrscheinlich niemand dem Herrn mehr hingegeben gewesen als er.
Nichtsdestotrotz bringen ihn die Abwesenheit von persönlicher Verantwortung und der Verfall der Zeit weder dazu, die Trennung und Zerstreuung zu ignorieren, noch die Schuld auf längst verstorbene Einzelne zu wälzen. Im Gegenteil, er identifiziert sich selbst mit dem Volk Gottes und erkennt vor Gott an: „Wir haben gesündigt.“
In unseren Tagen kann die Beschäftigung mit den Werkzeugen, die zur Trennung des Volkes Gottes benutzt wurden, uns für den wahren Grund der Trennung blind machen, nämlich den schlechten Zustand, der unseren hohen Stand begleitete. Wir mögen keine eindeutige Schuld an dem törichten und eigensinnigen Verhalten der wenigen haben, die die unmittelbare Zerstreuung des Volkes Gottes herbeigeführt haben, aber wir haben alle Schuld an dem schlechten Zustand, der die Trennung nötig machte.
Daniel versucht nicht, deren Sünde zu beschwichtigen. Im Gegenteil, er räumt ein, dass sie ihre Sünde noch verschlimmern durch die Weigerung, auf die Propheten zu hören, die Gott von Zeit zu Zeit gesendet hatte, um das Volk zu sich selbst zurückzurufen. Nichts ist eindrucksvoller als zu sehen, wie hartnäckig das Volk Gottes, in jenen wie in unseren Tagen, die Propheten verfolgt haben. Wir mögen es nicht, wenn unser Gewissen durch das Hören unseres Versagens gestört wird. Zuzugeben, dass wir im Unrecht sind, oder Unrecht getan haben (außer in den vagsten und allgemeinsten Ausdrücken), ist für das religiöse Fleisch zu demütigend. Daher ist der Prophet, der das Gewissen anspricht – der Gottes Volk an seine Sünden erinnert –, niemals beliebt. Der bloße „Lehrer“ wird mit Beifall empfangen, denn der Erwerb von Wissen zu Füßen eines Lehrers ist eher befriedigend für das Fleisch. Die Tendenz, einen großen Lehrer in der Mitte einer Firma zu haben, nimmt immer mehr zu. Aber wer will einen Propheten, der das Gewissen weckt, indem er uns ständig unser Versagen und unsere Sünden vorstellt? Dementsprechend weigerte sich Israel, auf die Propheten zu hören.
Daniels Verteidigung Gottes in seinen züchtigenden Regierungswegen (Verse 7–15)
„Dein, o Herr, ist die Gerechtigkeit, unser aber die Beschämung des Angesichts, wie es an diesem Tag ist: der Männer von Juda und der Bewohner von Jerusalem, und des ganzen Israel, der Nahen und der Fernen, in allen Ländern, wohin du sie vertrieben hast wegen ihrer Treulosigkeit, die sie gegen dich begangen haben“ (9,7).
Nachdem er die Sünden von „allem Volk des Landes“ bekannt hat, rechtfertigt Daniel Gott dafür, dass Er das Volk gezüchtigt hatte. Er erfasst dieses höchst wichtige Prinzip, dass wenn Trennung und Zerstreuung stattgefunden haben, dieses Unheil als von Gott angenommen werden muss, der in seiner heiligen Zucht handelt, und nicht einfach als herbeigeführt von bestimmten törichten oder bösen Handlungen seitens einzelner Menschen. Dies kann klar in der großen Teilung gesehen werden, die in Israel stattgefunden hatte. Sie wurde durch die Torheit Rehabeams herbeigeführt, aber Gott spricht: „Von mir aus ist diese Sache geschehen“ (2. Chr 11,4). 450 Jahre später, als das Volk nicht nur geteilt, sondern auch unter den Nationen zerstreut war, versteht Daniel dieses bedeutsame Prinzip sehr klar. Er sagt: „Dein, o Herr, ist die Gerechtigkeit, unser aber die Beschämung des Angesichts, wie es an diesem Tag ist: der Männer von Juda und der Bewohner von Jerusalem, und des ganzen Israel, der Nahen und der Fernen, in allen Ländern, wohin du sie vertrieben hast.“ Dann spricht er wieder davon, dass der Herr, unser Gott, „ein großes Unglück über uns brachte“, und erkennt: „Und so hat der HERR über das Unglück gewacht und es über uns kommen lassen“ (9,12.14). Dadurch verliert Daniel die Torheit und Bosheit einzelner Menschen aus dem Auge. Er nennt keine Namen. Er spricht weder von Jojakim oder seinen Gräueln, die er verübt hat (vgl. 2. Chr 36,8), noch von Zedekia und seiner Torheit, noch bezieht er sich auf die schonungslose Gewalt Nebukadnezars. Er sieht in der Zerstreuung die Hand eines gerechten Gottes, indem er über diese Männer hinaus schaut.
Ebenso hört Sacharja einige Zeit später das Wort des Herrn an die Priester und an das ganze Volk des Landes, indem er spricht: „Ich stürmte sie weg unter alle Nationen, die sie nicht kannten“ (Sach 7,5.14).
Genauso wiederholt auch später noch Nehemia in seinem Gebet die Worte des Herrn durch Mose, als er sagt: „Werdet ihr treulos handeln, so werde ich euch unter die Völker zerstreuen“ (Neh 1,8).
Diese Männer Gottes versuchten nicht, ihre gewichtigen Aussagen über Gottes züchtigendes Handeln einzuschränken. Sie sagen noch nicht einmal, dass Gott die Zerstreuung des Volkes „zugelassen“ oder „erlaubt“ hätte, dass sie weggeführt wurden. Stattdessen sagen sie schlicht, dass Gott selbst das Volk weggeführt und das Unheil über sie gebracht hatte.
„HERR! Unser ist die Beschämung des Angesichts, unserer Könige, unserer Fürsten und unserer Väter, weil wir gegen dich gesündigt haben. Des Herrn, unseres Gottes, sind die Erbarmungen und die Vergebungen; denn wir haben uns gegen ihn empört“ (9,8.9).
Doch weiter: Wenn auch einerseits die Beschämung des Angesichts zu jedem Stand und jeder Generation in Israel von den Vätern aufwärts gehört, gehören andererseits „Erbarmungen und ... Vergebungen“ zum Herrn, unserem Gott. Gott ist nicht nur gerecht, sondern Er ist auch barmherzig und reich an Vergebung. Trotzdem hatte das Volk rebelliert und erneut seine Schuld vergrößert.
„Und wir haben der Stimme des HERRN, unseres Gottes, nicht gehorcht, um in seinen Gesetzen zu wandeln, die er uns durch seine Knechte, die Propheten, vorgelegt hat. Und ganz Israel hat dein Gesetz übertreten und ist abgewichen, so dass es deiner Stimme nicht gehorcht hat. Und so hat sich der Fluch und der Schwur über uns ergossen, der im Gesetz Moses, des Knechtes Gottes, geschrieben steht, weil wir gegen ihn gesündigt haben. Und er hat seine Worte erfüllt, die er über uns und über unsere Richter geredet hat, die uns richteten, indem er ein großes Unglück über uns brachte, so dass unter dem ganzen Himmel keines geschehen ist wie dasjenige, das an Jerusalem geschehen ist. So wie es im Gesetz Moses geschrieben steht, ist all dieses Unglück über uns gekommen. Und wir flehten den HERRN, unseren Gott, nicht an, dass wir von unseren Ungerechtigkeiten umgekehrt wären und Einsicht erlangt hätten für deine Wahrheit“ (9,10–13).
So fasst Daniel die Sünde Israels zusammen:
- Das Volk hatte der Stimme des HERRN nicht gehorcht. Sie hatten das Gesetz übertreten und die Propheten verachtet (9,10).
- Daher hatte sich der Fluch und der Schwur, der im Gesetz ausgerufen worden war, über sie ergossen und Gott hatte sein Wort, das Er gegen das Volk geredet hatte, bestätigt, indem Er dieses große Unglück über es gebracht hatte (9,11.12).
- Darüber hinaus hatten sie, als das Unheil kam, sich nicht im Gebet an Gott gewendet. Offensichtlich gab es kein Verlangen, von den Ungerechtigkeiten umzukehren und Einsicht in die Wahrheit zu erlangen (9,13).
Hat dieser ernste Vers dem Volk Gottes in unseren Tagen nicht etwas zu sagen? Das Volk Gottes ist wegen seiner Sünden zerstreut und zertrennt, und doch, wie gelassen, gar selbstzufrieden, wird dieser Zustand der Zertrennung vom Volk Gottes gesehen. Ferner wird nicht nur die Wahrheit Gottes im Augenblick wenig verstanden, sondern es gibt auch wenig Verlangen, die Wahrheit zu verstehen. Ach, dass wir über den Zustand von Gottes Volk so betroffen wären, dass wir uns genötigt sähen, vor dem Herrn, unserm Gott, zu beten, uns von unseren Ungerechtigkeiten abzuwenden und uns zu bemühen, die Wahrheit Gottes zu verstehen!
„Und so hat der HERR über das Unglück gewacht und es über uns kommen lassen. Denn der HERR, unser Gott, ist gerecht in allen seinen Taten, die er getan hat; aber wir haben seiner Stimme nicht gehorcht“ (9,14).
„Und so“, spricht Daniel, „hat der HERR über das Unglück gewacht und es über uns kommen lassen“. Der Herr hatte zu Jeremia gesagt: „Siehe, ich wache über sie zum Bösen und nicht zum Guten“, und wieder berichtet uns derselbe Prophet, dass der Herr „... über sie gewacht habe, um auszureißen und abzubrechen und niederzureißen und zu zerstören und zu verderben“ (Jer 44,27; Jer 31,28). Wie ernst! Wir können den Herrn besser verstehen, wenn Er über sein Volk wacht, um zu beschützen, doch hier finden wir den Herrn zum Unheil über das Volk wachend, und Daniel rechtfertigt den HERRN in diesem Tun: „Denn der HERR, unser Gott, ist gerecht in allen seinen Taten, die er getan hat; aber wir haben seiner Stimme nicht gehorcht.“
„Und nun, Herr, unser Gott, der du dein Volk aus dem Land Ägypten mit starker Hand herausgeführt und dir einen Namen gemacht hast, wie es an diesem Tag ist – wir haben gesündigt, wir haben gottlos gehandelt“ (9,15).
Daniel bekannte noch eine weitere Verschlimmerung der Schuld des Volkes. Das Volk, das gesündigt und so böse gehandelt hatte, war von dem Herrn errettet worden. Es war das Volk, das Er mit mächtiger Hand aus Ägypten herausgeführt hatte. Folglich war dasselbe Volk, durch das Gott sich einen Namen gemacht hatte, gleichzeitig das Volk, das Ihn jetzt durch seine Sünde verunehrt hatte. Durch Gottes erlösende Macht auf der Seite Israels hatte sich sein Ruhm weit unter den Nationen ausgebreitet – durch Israels Sünde war sein Name unter den Heiden verlästert worden. Daher hatte Gott seinen Ruhm verteidigt, indem Er Israel wieder in Gefangenschaft brachte.
Daniels Flehen zu Gott um Barmherzigkeit
„Herr, nach allen deinen Gerechtigkeiten lass doch deinen Zorn und deinen Grimm sich wenden von deiner Stadt Jerusalem, deinem heiligen Berg! Denn wegen unserer Sünden und der Ungerechtigkeiten unserer Väter sind Jerusalem und dein Volk allen denen zum Hohn geworden, die uns umgeben. Und nun höre, unser Gott, auf das Gebet deines Knechtes und auf sein Flehen; und um des Herrn willen lass dein Angesicht leuchten über dein verwüstetes Heiligtum! Neige, mein Gott, dein Ohr und höre! Tu deine Augen auf und sieh unsere Verwüstungen und die Stadt, die nach deinem Namen genannt ist! Denn nicht um unserer Gerechtigkeiten willen legen wir unser Flehen vor dir nieder, sondern um deiner vielen Erbarmungen willen. Herr, höre! Herr, vergib! Herr, merke auf und handle; zögere nicht, um deiner selbst willen, mein Gott! Denn deine Stadt und dein Volk sind nach deinem Namen genannt“ (9,16–19).
Nachdem er die Sünde und das Versagen des Volkes Gottes bekannt und darüber hinaus Gott in allen seinen Wegen gerechtfertigt hat, betet Daniel jetzt durch Flehen. Es ist, wie wir denken könnten, bemerkenswert genug, dass seine erste Bitte die Gerechtigkeit Gottes und später die „vielen Erbarmungen“ Gottes beinhaltet. Er erkennt, dass Gnade auf Gerechtigkeit basieren muss. Er hatte bereits die Gerechtigkeit Gottes besessen, indem dieser all dieses Unglück über dieses Volk gebracht hatte (9,14). Jetzt bittet er darum, dass Gott in Gerechtigkeit seinen Zorn und seinen Grimm von Jerusalem abwende.
Die Gegenstände seines Flehens sind die Stadt, der heilige Berg, das Heiligtum und das Volk Gottes. Er bittet nicht für sich selbst, seine eigenen persönlichen Interessen oder für die speziellen Bedürfnisse seiner Mitgefangenen. Sein ganzes Herz ist um die Interessen Gottes auf dieser Erde besorgt. Mögen wir doch mehr den Geist Daniels kennen, dass unsere Herzen so erfüllt sind von dem, was dem Herzen Christi am nächsten und am liebsten ist, dass wir uns lösen von allen persönlichen und örtlichen Bedürfnissen. Dass wir zu Gott rufen für seine Versammlung, seinen Namen, sein Haus und sein Volk, indem wir das gemeinsame Versagen bekennen und die gemeinsame Not spüren.
Es ist bemerkenswert, dass Daniel bei seinem Gebet für die Stadt, den Berg, das Heiligtum und das Volk dies nicht in Beziehung zu sich selbst oder der Nation sieht, sondern als Gott gehörig. Er spricht nicht von unserer Stadt, oder unserem Heiligtum, oder unserem Volk, sondern von „deiner Stadt“, „deinem heiligen Berg“, „dein[em] ... Heiligtum“ und „dein[em] Volk“. Während er sich über alles Versagen erhebt, wendet er sich an Gott und macht geltend: „Wir sind dein.“
Zuerst bittet er um die Gerechtigkeit Gottes (9,16). Dann bittet er „um des Herrn willen“ (9,17). Anschließend erbittet er die „vielen Erbarmungen“ Gottes (9,18). Schließlich bezieht er sich auf den „Namen“ des Herrn (9,19). Da er sein Gebet auf solche Bitten stützt, kann er den Herrn durchaus bitten, zu hören, zu vergeben, zu handeln und nicht zu zögern unter seinem Volk zu wirken.
Es ist von größter Wichtigkeit zu sehen, dass die Grundlage des Flehens Daniels die immer wieder in seinem Bekenntnis betonte Tatsache ist, dass Gott selbst es war, der das Volk zu Fall gebracht hatte (9,7.12.14). Ehe diese Tatsache erfasst wird und man sich diese ohne Vorbehalte zu Eigen macht, kann es keine Wiederherstellung geben. Wenn wir es einmal erfasst haben, haben wir eine gute Grundlage, auf der wir uns zu Gott wenden und für Wiederherstellung und Barmherzigkeit bitten können. Aus diesem Grund ist Gott jemand, der nicht nur zu Fall bringen, sondern der auch heilen kann. Gott kann zerstreuen, aber Er sammelt auch (Psalm 147,2). Wenn wir uns weigern anzuerkennen, dass Gott uns zerschlagen hat und nur sehen, was die törichten Menschen angerichtet haben, schließen wir alle Hoffnung auf Wiederherstellung für die aus, die den Wunsch haben, Gott treu zu sein. Den Menschen vor Augen denken wir an die, die zerstören, aber wir haben keine Kraft, wiederhergestellt zu werden, während Gott zerstören, aber auch wiederherstellen kann.
Dass man nur Menschen als Verursacher von Trennungen sieht, hat viele zu der falschen Schlussfolgerung geführt, dass die Menschen, wenn sie Trennungen verursacht haben, auch die Kraft hätten, diese zu heilen. Daher sind die Anstrengungen, die unternommen werden, um das Volk Gottes wieder zusammenzubringen, zum Scheitern verurteilt, und mehr als zum Scheitern, denn sie verstärken nur die Verwirrung unter dem Volk Gottes. Zusammenzubringen übersteigt den menschlichen Verstand, es ist Gottes Aufgabe. Wir können zerstören, wir können zerstreuen, wir können Herzen brechen; aber „der HERR baut Jerusalem, die Vertriebenen Israels sammelt er; der da heilt, die zerbrochenen Herzens sind, und ihre Wunden verbindet“ (Ps 147,2.3).
Hier haben wir nun die Ausrichtung in Daniels Gebet, die das Volk Gottes in Tagen des Verfalls immer leiten sollte:
- Wir sollten, wenn wir uns an Gott wenden, einen erneuten und vertieften Eindruck seiner Größe, Heiligkeit und Barmherzigkeit gegenüber denen bekommen, die drauf vorbereitet sind, sein Wort zu halten.
- Wir müssen unser Versagen und unsere Sünde bekennen und erkennen, dass der Ursprung der ganzen Zerstreuung in dem schlechten moralischen Zustand liegt.
- Wir machen uns die gerechten Regierungswege Gottes in all seinem Handeln und Züchtigen seines Volkes zu Eigen.
- Wir stützen uns auf die Gerechtigkeit Gottes, die in Barmherzigkeit gegenüber seinem gefallenen Volk handelt, um seines Namens willen.
Verständnis in Wort und Vision (Verse 20–27)
„Während ich noch redete und betete und meine Sünde und die Sünde meines Volkes Israel bekannte und mein Flehen vor dem HERRN, meinem Gott, für den heiligen Berg meines Gottes niederlegte, während ich noch redete im Gebet, da kam der Mann Gabriel, den ich im Anfang, als ich ganz ermattet war, im Gesicht gesehen hatte, zu mir her zur Zeit des Abendopfers. Und er gab mir Verständnis und redete mit mir und sprach: Daniel, jetzt bin ich ausgegangen, um dich Verständnis zu lehren. Im Anfang deines Flehens ist ein Wort ausgegangen, und ich bin gekommen, um es dir kundzutun; denn du bist ein Vielgeliebter. So höre aufmerksam auf das Wort und verstehe das Gesicht“ (9,20–23).
Als er sich im Gebet und in seinem Bekenntnis zu Gott wendet, empfängt Daniel Licht und Einsicht in die Gedanken Gottes. Es ist bemerkenswert, dass Daniel die Antwort auf sein Gebet zur Zeit des Abendopfers bekommt. Das deutet darauf hin, dass sein Gebet auf der Grundlage der Wirksamkeit der verbrannten Opfergabe erhört wird, was für Gott von dem Wert des Opfers Christi spricht.
Zu Beginn von Daniels Flehen hatte Gott Gabriel den Befehl bezüglich Daniel gegeben. Gott wartete nicht auf ein ausführliches Gebet, um alles zu hören, was Daniel sagen würde. Gott kannte das Verlangen seines Herzens, und direkt zu Beginn hörte Gott und begann zu handeln. Gabriels Auftrag war es, Daniels Verständnis zu öffnen, um die Botschaft Gottes zu empfangen, denn er sagt: „... um dich Verständnis zu lehren“ (9,22). Es war nicht genug für Daniel, Offenbarungen zu empfangen. Ihm musste auch das Verständnis geöffnet werden, um einen Nutzen davon zu haben. Zu einem späteren Zeitpunkt öffnet der Herr den Jüngern die Schriften und auch ihr Verständnis, so dass sie die Schriften verstehen konnten. Auch wir brauchen das geöffnete Verständnis, genauso wie die geöffneten Schriften. Der Apostel Paulus konnte ebenso zu Timotheus sagen, als er ihm die Wahrheit kundtut: „Bedenke, was ich sage; denn der Herr wird dir Verständnis geben in allen Dingen“ (2. Tim 2,7).
Nachdem Daniel sich mit dem Versagen des Volkes Gottes verbunden und bekannt hat: „Wir haben gesündigt“, wird ihm nun versichert, dass er trotz allen Versagens ein „Vielgeliebter“ ist.
„70 Wochen sind über dein Volk und über deine heilige Stadt bestimmt, um die Übertretung zum Abschluss zu bringen und den Sünden ein Ende zu machen und die Ungerechtigkeit zu sühnen und eine ewige Gerechtigkeit einzuführen und Gesicht und Propheten zu versiegeln und ein Allerheiligstes zu salben“ (9,24).
Daniel hatte durch das Lesen des Propheten Jeremia entdeckt, dass Gott am Ende von siebzig Jahren Babylon richten und sein Volk aus der Gefangenschaft befreien würde. Wegen dieser Prophezeiung hatte sich Daniel an Gott gewandt und Ihn gebeten, nach seinem Wort zu handeln. Als Antwort auf Daniels Gebet tut Gott ihm eine weitere Offenbarung kund. Ihm wird gesagt, dass am Ende von „70 Wochen“ eine weitaus größere Befreiung für die Juden kommen würde – eine, die endgültig und vollkommen sein würde.
Wir müssen im Gedächtnis behalten, dass diese Prophezeiung gänzlich die Befreiung des jüdischen Volkes und ihrer Stadt betrifft. Der Engel sagt: „70 Wochen sind über dein Volk und über deine heilige Stadt bestimmt.“ Daniels Volk sind die Juden, und seine Stadt ist Jerusalem. Der Christ hat in dieser Welt keine bleibende Stadt – er sucht die zukünftige.
Alles, was für die Erfüllung dieser Prophezeiungen nötig ist, wurde am Kreuz ausgeführt. Um diese Segnungen zu erwerben, ist Christus für die Nation gestorben. Das Blut ist geflossen und Sühnung wurde erbracht. Die Annahme des Werkes Christi im Glauben, so dass die Nation die Segnungen erfährt, die das Werk erworben hat, liegt noch in der Zukunft. Wenn Israel zum Herrn umkehrt, wird die Übertretung, für die die Nation zerstreut wurde, zu Ende sein, ihre Sünden werden vergeben, ihre Schuld abgetragen sein (Jes 40,2) und Gottes Gerechtigkeit aufgerichtet werden (Jes 51,4–6). Gesichte und Prophetien werden erfüllt und in diesem Sinn versiegelt oder abgeschlossen werden. Das Allerheiligste wird als Wohnort Gottes abgesondert sein.
Was sollen wir dann unter den „siebzig Wochen“ verstehen? Sind hier wörtlich siebzig Wochen von sieben Tagen gemeint, also 490 Tage? Die Verse 25 und 26 verbieten einen solchen Gedanken. Der Beginn der siebzig Wochen wird klar angegeben und es wird uns mitgeteilt, dass am Ende von 69 Wochen bestimmte Ereignisse stattfinden würden, die offensichtlich nicht am Ende von 483 Tagen stattfanden. Alle Schwierigkeiten schwinden hingegen, wenn wir sehen, dass das Wort „Wochen“ lediglich „Periode von Sieben“ bedeutet. Die Juden rechneten mit Perioden von sieben Jahren (oder Siebenern), so wie wir in Perioden von 10 Jahren (oder Jahrzehnten) rechnen. Die siebzig Wochen sind demnach siebzig Perioden von sieben Jahren, oder 490 Jahre.
„So wisse denn und verstehe: Vom Ausgehen des Wortes, Jerusalem wiederherzustellen und zu bauen, bis auf den Messias, den Fürsten, sind 7 Wochen und 62 Wochen. Straßen und Gräben werden wiederhergestellt und gebaut werden, und zwar in Drangsal der Zeiten“ (9,25).
Diese Periode von 490 Jahren beginnt mit dem Ausgehen des Befehls, Jerusalem wiederherzustellen und zu bauen. Aus Nehemia 2 wissen wir, dass der Befehl, Jerusalem wieder aufzubauen, im zwanzigsten Jahr Artaxerxes` ausging. In der Geschichte der Welt wurde das zwanzigste Jahr Artaxerxes ungefähr auf 454 oder 455 v. Chr. datiert 490 Jahre nach diesem Ereignis wird uns gesagt, dass die Zeit des Leidens für Israel zu Ende und das Königreich aufgerichtet werden wird.
Nun ist es offensichtlich, dass der vorhergesagte Segen nicht am Ende von 490 Jahren gekommen ist, wenn man die Jahre ohne Pause berechnet. Aber in diesen Versen sehen wir, dass diese Zeitperiode in drei Abschnitte eingeteilt wird. Der erste Abschnitt ist eine von sieben Wochen, oder 49 Jahre, während welcher Jerusalem wiederaufgebaut wird in Drangsal der Zeiten. Wie schwierig diese Zeiten waren, wissen wir aus dem Bericht, der uns im Buch Nehemia gegeben wird. Der zweite Abschnitt von 62 Wochen, oder 434 Jahren, geht von der Vollendung der Mauer Jerusalems bis zum Messias. Das Wort sagt uns nicht direkt die Geburt des Messias oder sein öffentliches Auftreten vor dem Volk oder seinen Tod voraus. Es wird recht allgemein gehalten. Das Einzige, was definitiv gesagt wird, ist, dass nach den 62 Wochen „... der Messias weggetan werden und nichts haben“ wird (9,26).
„Und nach den 62 Wochen wird der Messias weggetan werden und nichts haben. Und das Volk des kommenden Fürsten wird die Stadt und das Heiligtum zerstören, und das Ende davon wird durch die überströmende Flut sein; und bis ans Ende: Krieg, Festbeschlossenes von Verwüstungen“ (9,26).
Nach der Prophezeiung des Hinwegtuns des Messias finden wir eine Aussage über das Volk des kommenden Fürsten. Diese wird dann wiederum von einer Aussage über den Fürsten selbst gefolgt. Es wird dargelegt, dass das Volk die Stadt und das Heiligtum zerstören wird. Dies bezieht sich ohne Zweifel auf das römische Volk – die vierte heidnische Weltmacht –, das die Erde regierte, als der Messias kam und weggetan wurde. Daniel erfährt, dass die jüdische Nation, nachdem sie ihren Messias verworfen hatte, unter Gericht kommen und ihre Stadt und das Heiligtum vom römischen Volk zerstört werden würde, die das Land wie eine Flut überströmen und die jüdische Besatzung zu einem Ende bringen würde. Die Nation würde in Gefangenschaft geführt und das Land verwüstet hinterlassen werden. Die Juden würden erfahren, dass die Hand jedes Mannes bis zur Zeit des Endes gegen sie gerichtet ist. Der Herr selbst wiederholt die Vorhersage dieser ernsten Ereignisse, indem Er sagt: „Und sie [die Juden] werden fallen durch die Schärfe des Schwertes und gefangen weggeführt werden unter alle Nationen; und Jerusalem wird von den Nationen zertreten werden, bis die Zeiten der Nationen erfüllt sind“ (Lk 21,24).
„Und er wird einen festen Bund mit den Vielen schließen für eine Woche; und zur Hälfte der Woche wird er Schlachtopfer und Speisopfer aufhören lassen. Und wegen der Beschirmung der Gräuel wird ein Verwüster kommen, und zwar bis Vernichtung und Festbeschlossenes über das Verwüstete ausgegossen werden“ (9,27).
An dieser Stelle geht die Prophetie weiter, um von den Ereignissen zu sprechen, die noch in der Zukunft liegen und während der letzten Woche (bzw. der letzten sieben Jahre) der Prophetie stattfinden werden. Als Christus hinweggetan wurde, waren 69 Wochen vergangen. Es blieb nur eine Woche – oder sieben Jahre –, bevor sein Königreich aufgerichtet werden würde. Aber die Juden verwarfen ihren Messias. Folglich wird die Erfüllung der Prophezeiung verschoben. Von dem Zeitpunkt an, als sie den Messias verwarfen, erkannte Gott das Volk nicht länger als mit Ihm in Verbindung stehend an. Während dieser Zeit ist eine große Lücke in der Geschichte von Gottes Volk, eine Lücke, über dessen Länge Gott keine Aussage trifft. Wir wissen aus den Schriften des neuen Testaments, dass während dieser Zeit den Heiden durch den Fall Israels Errettung gebracht wurde. Auch wissen wir, dass Gott während dieser Zeit sein himmlisches Volk herausruft – die Versammlung. Daher kann man sehen, dass zwischen den Versen 26 und 27 eine immense und wichtige Epoche liegt, über die in der Prophezeiung keine Details angegeben werden. Die Herausrufung der Versammlung ist eine Wahrheit, die für das Kommen des Heiligen Geistes vorbehalten ist. Uns wird definitiv gesagt, dass es eine Wahrheit ist, die „... in anderen Geschlechtern den Söhnen der Menschen nicht kundgetan worden ist, wie es jetzt offenbart worden ist seinen heiligen Aposteln und Propheten im Geist“ (Eph 3,4–6; siehe auch Röm 16,25.26). Direkte Prophetie bezieht sich immer auf die Erde und Gottes irdisches Volk. Jeder Hinweis auf die Herausrufung der Versammlung wäre für Daniel völlig unverständlich gewesen. Wir können daher verstehen, warum diese gewaltige Zeitepoche zwischen der 69. und der 70. Woche in Stille übergangen wird.
Hier werden wir jetzt zu Ereignissen weitergeführt, die noch in der Zukunft liegen. Diese Ereignisse beruhen nicht so sehr auf den Handlungen des römischen Volkes, von denen wir schon gehört haben, sondern auf denen des Hauptes des Reiches, der hier der Fürst des Volkes genannt wird. Von diesem Mann lesen wir: „Und er wird einen festen Bund mit den Vielen schließen für eine Woche.“ Dieses Haupt des wieder auferstandenen römischen Reiches wird ein Abkommen eingehen mit der Masse der jüdischen Nation, die, obwohl sie Christus noch immer als ihren Messias verwerfen, in ihr Land zurückgekehrt sein werden. Wahrscheinlich aus Angst von einem anderen Feind – der Macht des Nordens oder der überflutenden Geißel (Jes 28,15) –, werden die Juden eine Verbindung mit dem kaiserlichen Oberhaupt des römischen Reiches eingehen.
Dann scheint es so, als ob der, an den sich die Juden zum Schutz vor anderen Feinden anlehnen werden, selbst ihr größter Feind werden wird. Sein eigenes Abkommen wird er brechen und in der Mitte der Woche (oder am Ende von dreieinhalb Jahren) „Schlachtopfer und Speisopfer aufhören lassen“. Der nächste Satz scheint den Grund für das Aufhören der Opfer anzugeben, denn er spricht von der „Beschirmung der Gräuel“. Dies ist eindeutig ein Hinweis auf das, was in anderen Schriften ausgesagt wird, nämlich dass der kommende Antichrist ein Standbild im Allerheiligsten aufrichten lassen und allen befehlen wird, diesem göttliche Ehre zu erweisen (siehe Mt 24,15; 2. Thes 2,4; Off 13,14.15).
Nichtsdestotrotz wird es während der letzten halben Woche einen „Verwüster“ geben, eine überströmende Flut aus dem Norden, vor dem kein Bündnis mit dem Fürst des römischen Reiches die Juden wird schützen können. Während dieser Zeit wird die jüdische Nation durch die große Drangsal gehen. Der Herr sagt definitiv: „Wenn ihr nun den Gräuel der Verwüstung, von dem durch Daniel, den Propheten, geredet ist, stehen seht an heiligem Ort ... dann wird große Drangsal sein“ (Mt 24,15–21). Während dieser furchtbaren Zeit wird die ungläubige jüdische Nation Gegenstand unaufhörlicher Gerichte sein, bis das Gericht ausgeschöpft ist, indem es vollständig über die verwüstete Stadt und Nation ausgeschüttet sein wird.