Der Prophet Daniel und die Zeiten der Nationen
Einleitung
Vor der Betrachtung des Inhalts dieses Buches, sollte die Aufmerksamkeit, wie kurz auch immer, auf seinen besonderen und hauptsächlichen Charakter gerichtet werden. Gleich zu Beginn wird die Tatsache erwähnt, dass Nebukadnezar bereits Jerusalem belagert hatte, und der Herr Jojakim, den König von Juda, zusammen mit einem Teil der Geräte des Hauses Gottes, in Nedukadnezars Hand gegeben hatte. Daraufhin lesen wir, dass einige der Söhne Israels, sowohl von königlichem Geschlecht als auch von den Vornehmen, Gefangene in Babylon waren. Diese Tatsachen, richtig verstanden, eröffnen uns die Bedeutsamkeit des gesamten Buches. Bis zu diesem Zeitpunkt, war Gottes Thron in Jerusalem. Er thronte auf den Cherubim und und Israel (wir sprechen von dem Volk nach Gottes Ratschluss) war infolgedessen der Mittelpunkt von Gottes Wirken in der Herrschaft über die ganze Erde (siehe 5. Mo 32,7–9). Israel hatte, wie uns dieselbe Schriftstelle sagt, eine ganz besondere Stellung der Gunst und Gnade, „denn des Herrn Teil ist sein Volk, Jakob die Schnur seines Erbteils.“ Wegen ihrer besonderen Stellung des Segens und der Gunst, hatte Israel besondere Verantwortungen. Dieser Grundsatz wird vom Propheten verkündet: „Nur euch habe ich von allen Geschlechtern der Erde erkannt, darum werde ich an euch alle eure Sünden heimsuchen.“ (Amos 4,2) Ihre Verantwortung war in Übereinstimmung mit ihrem Licht und sie waren das Volk des Herrn. Als solche waren sie Seine Zeugen (Jes 43,8–13), und Jerusalem war Sein Leuchter inmitten der Nationen.
Als nun Israel sogar noch schlechter als die umgebenden Nationen wurde, und der König von Juda die Einwohner Jerusalems dazu brachte, auf Abwege zu geraten und mehr Böses zu tun als die Heiden (2. Chr 33,9), führte der Herr, nach zahlreichen Warnungen und langer Geduld (2. Chr 36,14–20), das von Ihm angedrohte Gericht durch die Hand Nebukadnezars aus: „Und sie verbrannten das Haus Gottes und rissen die Mauer von Jerusalem nieder; und all seine Paläste verbrannten sie mit Feuer, und all seine kostbaren Geräte verdarben sie. Und die vom Schwert Übriggeblieben führte er nach Babel weg.“ (2. Chr 36,19–20). Die Herrschaft über die Erde wurde fortan dem König von Babylon anvertraut (siehe Daniel 2,37.38) und inmitten dieser neuen Ordnung der Dinge, wie ein wahrhafter Überrest und eine von Gott erhaltene Saat, steht Daniel mit seinen Gefährten im ersten Kapitel unseres Propheten.
Diese Stellung des Überrests in Babylon, der Macht und Herrschaft der Nationen unterworfen, liefert den Schlüssel für die Auslegung des Buches. Denn die Visionen, die den Königen gewährt wurden, haben mit den Mächten der Nationen selbst zu tun, in ihrer Abfolge, Entwicklung und von dem, was man ihre tugendhafte Phasen nennen könnte, bis zur vollständigen Abtrünnigkeit; die dem Propheten gewährten, betreffen dieselben Dinge, aber je mehr es dem Ende zugeht, in der Erfüllung von Gottes Absichten bezüglich Seines geliebten Volkes, betreffen sie immer mehr das, was für sie von Bedeutung ist. Die „Zierde“ wird endlich zum Mittelpunkt, um den sich alle heidnischen Unternehmungen und Pläne sammeln; der Vorhang geht auf und enthüllt die Zukunft des auserwählten Volkes, in ihrem Verlauf, wegen ihrer Sünde und Ungerechtigkeit, vor allem aber weil sie durch die Ablehnung des Messias die Sünde gekrönt hatten, unvergleichliches und unsagbares Leid und Bedrängnis (Dan 12:1), bis zur Freude des bestimmten Segens gemäß den Gedanken Gottes.
All dies wird im Verlauf unseres Studiums deutlicher zu erkennen sein; es darf jedoch jetzt darauf hingewiesen werden, dass das Buch in zwei gleiche Teile aufgeteilt ist: Daniel 1 bis 6 bildet den ersten und Daniel 7 bis 12 den zweiten Teil. Der erste besteht ganz aus den Visionen und Taten der heidnischen Monarchen und der ihrer untergebenen Machthaber. Daniel und seine Gefährten treten mit den Gedanken Gottes in Erscheinung und sind Ihm, inmitten all der Verführung und all des Widerstandes um sie herum, treu ergeben. Daniel erregt zunächst, wie Joseph in Ägypten, als Traumdeuter die Aufmerksamkeit des Königs. Wie Joseph gewinnt er als Folge seine Gunst und wird auf den Regierungssitz erhoben. Nach dem Erlangen der Verbindung zu Shadrach, Meschach und Abed-Nego durch den König, er selbst von ihm verherrlicht, werden sie zum Gegenstand des Neids und der Feindschaft der Fürsten. Einzelheiten können an ihrer jeweiligen Stelle gefunden werden; zwei Dinge sind jedoch miteinander verflochten: das Wesen der heidnischen Mächte, und der Leidenszustand des Überrests und ihre endgültige Befreiung aus verfolgenden Herrschaft der Nationen. Der zweite Teil des Buches beginnt mit Daniel 7 und enthält die prophetischen Gesichte mit ihren Auslegungen, die von Daniel empfangen wurden. Sie erfassen den Ablauf, das Wesen, und das Schicksal der heidnischen Reiche, die der Zerstörung Jerusalems durch Nebukadnezar folgten. Ihre unterschiedlichen Handlungen werden beschrieben, vor allem die der dritten und vierten Vision im Zusammenhang mit dem Heiligen Land und dem jüdischen Volk. Zudem haben wir die Daniel zuteil gewordene, besondere Offenbarung der siebzig Wochen, die hinweisend auf die Zeit sind zu der Gottes Ratschluss für Sein irdisches Volk erfüllt sein wird.
Schlussendlich, in dem langen Blick in die Zukunft, die dem Propheten aufgetan wird, werden die heidnischen Regierungen vom Sohn des Menschen verdrängt, dem „Herrschaft und Ehre und Königtum gegeben“ wurden, „und alle Völker, Völkerschaften und Sprachen dienten ihm; seine Herrschaft ist eine ewige Herrschaft, die nicht vergehen wird, und Sein Königtum ein solches, dass nie zerstört werden wird.“ (Dan 7,14) In Bezug auf Sein Kommen, um Sein Königreich zu errichten, wird Daniel gesagt: „Und in jener Zeit wird dein Volk errettet werden, jeder, der im Buch geschrieben gefunden wird.“ (Dan 12,1) Bei Seinem ersten Kommen wurde Er ausgerottet (Dan 9,26) und fand keine Hilfe, obwohl er von „seinem eigenen“ Volk abgelehnt und gekreuzigt wurde, starb er dennoch, in Übereinstimmung mit dem Ratschluss Gottes für diese Nation. Auf der Grundlage von jenem wirkungsvollen Opfer wird Gott, nachdem Er in Seiner gerechten Regierung sie für ihre Sünde bestraft hat, in Zukunft für die Wiederherstellung Seines geliebten, aber schuldigen Volkes eintreten. So kann Jesaja rufen, „Tröstet, tröstet mein Volk, spricht euer Gott. Redet zum Herzen Jerusalems, und ruft ihr zu, dass ihre Mühlsal vollendet, dass ihre Schuld abgetragen ist, dass sie von der Hand des Herrn Zweifaches empfangen hat für alle ihre Sünden.“ (Jes 40,1.2) Das Buch Daniel erstreckt sich in prophetischer Vision bis zu diesem Punkt. Es geht nicht darüber hinaus. Über die Gründung und die Herrlichkeit des Königreiches müssen andere Propheten hinzugezogen werden. Was wir in Daniel finden, ist, wie wir bereits angedeutet haben, den Ablauf und das Wesen der heidnischen Mächte, von der Zerstörung Jerusalems bis zum Erscheinen Christi, zusammen mit der Stellung des Überrests und dem Leiden des jüdischen Volkes während der Herrschaft der Nationen, bis sich Gott endlich, in Seiner Treue in der Verfolgung Seiner Absichten, dazwischen stellt, und, zu seiner eigenen Ehre, die Errettung und den Segen seines auserwählten irdischen Volkes erwirkt. Diese selige Vollendung liegt noch in der Zukunft, und obwohl unsere Berufung und unser Teil der Himmels sind und unsere Hoffnung auf der Ankunft des Herrn ruht, der uns zu sich holen wird, um uns ins Haus des Vaters zu führen, ist es doch von größter Bedeutung, dass wir das Wesen der „Zeiten der Nationen“ verstehen, und den gesamten Kreis der offenbarten Handlungen Gottes gedanklich wahrnehmen. Um dem beizutragen, haben wir den Wunsch unseren Lesern das ernsthafte Studieren dieses Teils der anregenden Auslegung zu empfehlen.