Vorträge zum Matthäusevangelium
Kapitel 16
Das letzte Kapitel führte einen neuen thematischen Gegenstand in unser Evangelium ein. Wir sahen zwei große Bilder: Der heuchlerische Ungehorsam derjenigen, die sich des Gesetzes rühmten, wurde durch ihren eigenen Propheten sowie dem Prüfstein der Person des Herrn entlarvt. Zum zweiten erkannten wir das wahre Wesen der Gnade in dem Umgang mit einer Frau, deren Umstände so schrecklich waren, daß ihr einzig und allein eine bedingungslose Barmherzigkeit helfen konnte, wenn sie überhaupt Segen empfangen sollte. Ich brauche nicht weiter auf ein Kapitel einzugehen, das wir schon betrachtet haben. Aber ich möchte noch einmal die besondere Entfaltung der geduldigen und vollkommenen Gnade gegen Israel, trotz des Zustands der jüdischen Führer, ins Gedächtnis rufen. Wenn der Herr sich auch der Heiden erbarmte, so sehnte sich Sein Herz doch nach Israel. Er gab davon ein Zeichen, indem Er das große Wunder der Speisung Tausender von Menschen in der Wildnis wiederholte. Das war jetzt jedoch kein Bild mehr von Seinem Weggang von der Erde wegen des Wechsels der Haushaltung. Letzteres sahen wir in Kapitel 14 nach der Speisung der Fünftausend. Sein Beten auf dem Berg ist ein Muster von der Tätigkeit des Herrn zur Rechten Gottes.
Im 16. Kapitel finden wir ein anderes Bild, das sich von dem des vorherigen Kapitels völlig unterscheidet und doch mit ihm verwandt ist. Wir sehen nicht den empörenden Ungehorsam gegen das Gesetz durch die menschliche Überlieferung, sondern die Quelle des Ungehorsams, nämlich den Unglauben. In der Sprache, die der Heilige Geist gebraucht, besteht nur ein Hauch von Unterschied zwischen den Worten „Unglauben“ und „Ungehorsam“. Ersterer ist die Wurzel und Letzterer die Frucht. Die schwere planmäßige Verletzung des Gesetzes sogar durch jene, welche die religiösen Führer in Israel waren, wurde enthüllt. Der Herr überführte sie anhand der sittlich wichtigsten Familienbeziehung, die das Gesetz zu beachten und ganz besonders zu ehren befahl. Jetzt wird ein noch bedeutenderer Grundsatz herausgestellt. Die Quelle jenes Ungehorsams gegen Gott bestand darin, daß sie Ihm nicht glaubten und folglich ihren eigenen sittlichen Zustand falsch einschätzten. Beides geht immer zusammen. Unwissenheit über sich selbst ist eine Folge der Unwissenheit über Gott; und beide erweisen sich in der Verwerfung Jesu. Was im vollsten Sinn für einen Weltmenschen oder einen Ungläubigen gilt, zeigt sich in einem gewissen Grad auch bei einem Christen, wenn er irgendwie den Willen und die Person des Herrn gering achtet. Alles das offenbart das Wirken jenes Herzens des Unglaubens, vor dem der Apostel sogar Gläubige warnt. (Hebräer 3, 12). Die große Vorsorge gegen diese Gefahr, nämlich die Tätigkeit des Heiligen Geistes im Gegensatz zur Gesinnung des natürlichen Menschen, wird hier klar herausgestellt.
„Die Pharisäer und Sadducäer kamen herzu, und, um ihn zu versuchen, baten sie ihn, er möge ihnen ein Zeichen aus dem Himmel zeigen.“ (V. 1). Immer wieder kamen sie damit zu Ihm. Doch jetzt lag ihre Bitte näher an der Quelle und war infolgedessen dem Grundsatz nach viel böser. Es ist schrecklich, sich gegenseitig bekämpfende Parteien zu sehen, die ausschließlich ein Band vereinigt, nämlich die Ablehnung Jesu. Unter anderen Umständen hätten sich diese Männer am liebsten in Stücke gerissen; doch hier fanden sie einen gemeinsamen Boden: Sie wollten Jesus versuchen.
„Die Pharisäer und die Sadducäer kamen herzu, und, um ihn zu versuchen...“ Zwischen den Schriftgelehrten und den Pharisäern gab es keinen Streitstoff. Die Sadducäer und Pharisäer trennte jedoch eine weite Kluft. Erstere waren die Freidenker jener Tage, letztere die Kämpfer für die Anordnungen und die Autorität des Gesetzes; und doch verbanden sich hier beide Gruppen, um Jesus zu versuchen. Sie verlangten ein Zeichen vom Himmel. Das bedeutungsvollste Zeichen, das Gott jemals den Menschen gegeben hatte, stand vor ihnen in der Person Seines Sohnes, Der alle anderen Zeichen bei weitem übertraf. Aber so ist der Unglaube! Er kann in die Gegenwart der vollen Offenbarung Gottes gehen, kann auf ein Licht starren, das heller ist als die Sonne am Mittag, und trotzdem Gott um eine Zehncentkerze bitten.
Jesus antwortete ihnen: „Wenn es Abend geworden ist, so saget ihr: Heiteres Wetter, denn der Himmel ist feuerrot; und frühmorgens: Heute stürmisches Wetter, denn der Himmel ist feuerrot und trübe; das Angesicht des Himmels zwar wisset ihr zu beurteilen, aber die Zeichen der Zeiten könnt ihr nicht beurteilen.“ (V. 2–3). Ihr eigener sittlicher Zustand war Zeichen und Beweis davon, daß das Gericht drohte. Zweifellos war schönes Wetter für solche, die sehen konnten; denn der „Aufgang aus der Höhe“ (Lukas 1, 78) hatte sie in Jesus besucht. Doch sie sahen ihn nicht. Erkannten sie denn nicht das stürmische Wetter? Sie standen in der Gegenwart des Messias und fragten Ihn, Der alle Zeichen in sich vereinigte, nach einem Zeichen vom Himmel! Der Gott, Der Himmel und Erde gemacht hatte, war anwesend; „und die Finsternis hat es nicht erfaßt. . . Er kam in das Seinige, und die Seinigen nahmen ihn nicht an.“ (Johannes 1, 5. 11). Nichts könnte schrecklicher sein. Sie waren vollständig blind. Veränderungen in der Natur konnten sie erkennen; doch sie besaßen kein Wahrnehmungsvermögen für sittliche und geistliche Umstände, die sie unmittelbar vor Augen hatten.
Wie wahr sind die Worte: „Ein böses und ehebrecherisches Geschlecht verlangt nach einem Zeichen, und kein Zeichen wird ihm gegeben werden, als nur das Zeichen Jonas’. Und er verließ sie und ging hinweg.“ (V. 4). Das war Seine Antwort. Die Menschen verkennen ständig den Charakter Jesu. Sie stellen sich vor, daß Er keine strengen Worte aussprechen oder Ärger fühlen konnte. Das Wort Gottes, geschrieben im Licht, sagt jedoch das Gegenteil. Wie hier, so ist es immer. Der Unglaube ist stets blind und verrät seine Blindheit vor allem in seinem Verhalten Jesus gegenüber. Dieselbe Art von Unglauben, die damals nicht erkennen konnte, wer oder was Jesus war, erwartet auch heute Sein Kommen nicht. Die Menschen nehmen weder die Zeichen der Zeit, noch das über ihnen schwebende Verderben wahr. Das beruht auf dem sittlichen Zustand der Menschen, egal, wo sie sich befinden und offenbart sich vor allem, wo Gottes Licht scheint. Wenn England heute ein Brennpunkt ist, wo das Licht Gottes sich mehr entfaltet als anderswo1, dann macht dies den Unglauben der Menschen um so augenfälliger. Manche sind im Werk des Herrn tätig und bekennen, es auf die eine oder andere Weise voranzutreiben, und fragen gleichzeitig überhaupt nicht danach, ob sie nach dem Willen Gottes wandeln, wie er in der Bibel geoffenbart ist. Sicherlich haben wir kein Recht, allein dem Teil des Wortes Gottes zu folgen, welcher uns paßt, sondern dem Wort Gottes als Ganzes. Das gilt zunächst einmal für unsere eigenen Seelen, danach jedoch auch für alle Kinder Gottes, soweit wir auf sie Einfluß nehmen können. Diese Wahrheit sollten wir ernsthaft bedenken. Wenn wir schon die Gewissen anderer Menschen nicht beeinflussen können, dann laßt uns wenigstens unser eigenes unbefleckt erhalten. Die Frage, wie sehr wir persönlich dem Heiland anhangen, ist entscheidend und stellt uns auf die Probe. Eine Unterweisung anderer ist nur dann wirksam, wenn unser eigenes Beispiel sie empfiehlt.
Hier sehen wir unseren Herrn, wie Er nicht zögert, das Böse mit schonungsloser Hand anzutasten. Er war die Fülle der Liebe. Doch erinnern wir uns daran, daß Er auch gesagt hat: „Böses und ehebrecherisches Geschlecht“, „Otternbrut“ (Matthäus 23, 33), usw.? Diese Worte entspringen einer wahren Liebe. Wenn die Menschen nur daran denken und sich der Wahrheit, die sie überführt, beugen würden! Falls wir uns mittels des Wortes Gottes der einzigen Wahrheit in dieser Welt beugen, sind wir errettet. Falls wir von der Wahrheit erst in der nächsten Welt überzeugt werden wollen, ist es für immer zu spät. Christus war der treue Zeuge. Er stellte die Menschen vor das Angesicht Gottes und ließ Sein vollkommenes Licht auf sie scheinen. Warum konnte Er ihnen kein Zeichen gewähren? Gott ist voller Liebe. Dennoch erlaubt Er keinesfalls, daß durch Seine Handlungsweise Derjenige, Der Ihn kundgemacht hat, herabgewürdigt wird. Jesus kann einer Seele in ihrem Ruin begegnen. Er aß mit Zöllnern, um zu zeigen, daß Er Sünder aufnehmen und Sünde bis zum äußersten vergeben kann. Er wird indessen nie ein Zeichen geben, um den Unglauben, der Ihn verwirft, zufrieden zu stellen. Diese Pharisäer und Sadduzäer hörten Seine Stimme der Gnade nicht. Sie hörten nur mit ihren äußeren Ohren. Trotzdem waren sie gezwungen, ihr Urteil von dem Richter der ganzen Erde zu vernehmen; und „sollte der Richter der ganzen Erde nicht Recht üben?“ (1. Mose 18, 25). „Ein böses und ehebrecherisches Geschlecht verlangt nach einem Zeichen.“ Ohne Jesu Anwesenheit hätte die Frage nach einem Zeichen nicht diesen bösen Charakter angenommen. Seine Gegenwart offenbarte hingegen den herausfordernden Unglauben und die schreckliche Heuchelei. Das war Flucht vor dem, was Gott schon gewährt hatte. Sie baten um einen völlig zweitrangigen Hinweis angesichts von Gottes größter Gabe. Genauso geschieht es heute. Der Tod und die Auferstehung Christi wird Seelen gepredigt, die sich davon abwenden. Sie sagen: „Die Errettung ist nicht so einfach, wie sie dargestellt wird. Ich muß etwas dafür tun.“ Damit verlangt man nach einem Zeichen – und noch nicht einmal nach einem Zeichen vom Himmel, sondern aus dem eigenen Herzen. Und was ist das Herz? Gott erklärt das Herz des Menschen zur Quelle alles Bösen. Dennoch hält der Mensch an der verhängnisvollen Täuschung fest, daß er etwas Gutes von dem empfangen kann, was Gott für ausnahmslos und unverbesserlich böse erklärt. Damit wendet er sich von Jesus und der Gerechtigkeit Gottes in Ihm ab, welche sich völlig geoffenbart hat, indem Jesus auferstanden ist und zur Rechten Gottes sitzt. Könnte etwas anstößiger für Gott sein als religiöse Überheblichkeit verbunden mit einer Herabwürdigung Jesu? „Ein böses und ehebrecherisches Geschlecht verlangt nach einem Zeichen, und kein Zeichen wird ihm gegeben werden, als nur das Zeichen Jonas’.“ Was war dieses Zeichen? Es bestand in einer Person, die von der Erde verschwand, das jüdische Volk durch ein Bild des Todes verließ und ihm nach einer Weile wiedergegeben wurde – also ein Sinnbild des Todes und der Auferstehung. Diesem Grundsatz entsprechend handelte unser Herr unmittelbar danach. „Er verließ sie und ging hinweg.“ Er wollte sich in die Macht des Todes begeben, wieder auferstehen und den armen Heiden die Botschaft bringen, welche Israel verachtet hatte.
Es gibt jedoch noch andere Arten des Unglaubens. Die nächste Szene mit den Jüngern zeigt eine von ihnen. Was wir in ausgeprägtester Form in einem Unbekehrten wirken sehen, können wir manchmal, vielleicht auf andere Weise, auch in Gläubigen aufspüren. „Jesus aber sprach zu ihnen: Sehet zu und hütet euch vor dem Sauerteig der Pharisäer und Sadducäer.“ (V. 6). Die Jünger verstanden Ihn nicht. Sie überlegten bei sich selbst; und wenn Christen erst einmal anfangen, bei sich selbst zu überlegen, dann verstehen sie nie etwas. „Sie aber überlegten bei sich selbst und sagten: Weil wir keine Brote mitgenommen haben.“ (V. 7). Es gibt natürlich gesundes und verläßliches Schlußfolgern. Der Unterschied besteht darin, daß falsches Überlegen immer beim Menschen anfängt und versucht, sich zu Gott zu erheben, während rechtes Schlußfolgern stets bei Gott beginnt. Der natürliche Verstand kann einzig und allein aus der Erfahrung der Menschen, ihrem Denken und Fühlen, Schlüsse ziehen und sich ein innerliches Bild vom Wesen Gottes machen. Das sind Grundlage, Ziel und Wesen menschlicher Spekulation in den Dingen Gottes. Für die Gedanken des Glauben hingegen ist Gott die Quelle, die Kraft und der Führer.
Wo lerne ich Gott kennen? In der Bibel, die eine Offenbarung Christi ist, die von 1. Mose 1 bis zum Ende der Offenbarung reicht! Dort sehe ich Ihn, den Schlußstein des Gewölbes, den Mittelpunkt der ganzen Schrift. Solange wir nicht die Verbindung aller geschilderten Tatsachen mit Christus erkennen, verstehen wir sie nicht richtig. Der erste große Trugschluß besteht darin, zu übersehen, daß Gott sich in Seinem Sohn offenbart. Wir besitzen mehr als jenes kleine Licht hinter dem Vorhang im jüdischen System. Unser Teil sind unermeßliche Segnungen, weil Gott zum Menschen gekommen ist und der Mensch zu Gott gebracht wurde. Im Leben Christi erkenne ich, wie Gott sich dem Menschen naht, und in Seinem Tod, wie der Mensch zu Gott geführt wird. Der Vorhang ist zerrissen. Alles ist enthüllt – sowohl hinsichtlich des Menschen, als auch in Bezug auf Gott –, insofern Gott sich dem Menschen in dieser Welt zu offenbaren geruhte. Christi Leben und Tod stellt all diese Segnungen ins vollste Licht.
Doch Jünger, damals wie heute, haben Schwierigkeiten mit dieser Wahrheit. Als der Herr sie vor dem Sauerteig der Pharisäer und Sadducäer warnte, nahmen sie an, daß Er nur von Dingen des täglichen Lebens zu ihnen sprach. Genau das sehen wir auch heutigentags. Unser Herr sagte aber zu ihnen: „Was überleget ihr bei euch selbst, Kleingläubige, weil ihr keine Brote mitgenommen habt?“ (V. 8). Warum dachten sie nicht an Christus? Hätten sie sich um Brote gesorgt, wenn sie an Ihn gedacht hätten? Unmöglich! Aber was befindet sich nicht alles im Herzen eines Gläubigen selbst vor Dem, Dessen Hand die Erde und ihre Fülle trägt? Sie machten sich Sorgen wegen Brot – und setzten sie auch bei Ihm voraus. „Verstehet ihr noch nicht, erinnert ihr euch auch nicht an die fünf Brote der fünftausend, und wie viele Handkörbe ihr aufhobet? noch an die sieben Brote der viertausend, und wie viele Körbe ihr aufhobet? Wie, verstehet ihr nicht, daß ich euch nicht von Broten sagte: Hütet euch vor dem Sauerteig der Pharisäer und Sadducäer? Da verstanden sie, daß er nicht gesagt hatte, sich zu hüten vor dem Sauerteig des Brotes, sondern vor der Lehre der Pharisäer und Sadducäer.“ (V. 9–12).
Das begreifen Jünger selbst heute oft nicht. Sie erkennen nicht die Hassenswürdigkeit falscher Lehre. Gegen sittlich Böses sind sie sehr wachsam. Wenn jemand sich betrinkt oder in ein anderes häßliches Ärgernis fällt, dann wissen sie natürlich, daß das sehr böse ist. Falls jedoch der Sauerteig falscher Lehre wirkt, empfinden sie dies nicht. Wie kommt es, daß Jünger sorgsamer Dinge beurteilen, die das natürliche Gewissen angehen, als falsche Lehren? Dabei zerstören letztere doch alle Grundlagen, sowohl für diese Welt als auch die kommende. Wie ernst, daß Jünger vom Herrn davor gewarnt werden müssen und trotzdem nicht verstehen! Er mußte ihnen Seine Warnung erklären. Unter den Jüngern wirkte ein Unglaube, der ihren Leib zum Gegenstand des Denkens machte. Darum erkannten sie die allumfassende Bedeutung dieser verderblichen Lehren nicht, welche um sie herum die Seelen in so vielen hinterhältigen Formen bedrohte.
Es gibt jedoch noch andere Arten der Wirkung des Unglaubens und andere Schauplätze. Dieses Kapitel entlarvt die Wurzel mehrerer seiner Formen. „Durch Glauben verstehen wir“, sagt der Apostel zu den Hebräern. (Hebräer 11, 3). Der weltliche Mensch versucht zuerst zu verstehen und dann zu glauben. Der Christ beginnt mit möglicherweise schwächstem Verständnis, aber er glaubt Gott. Er vertraut auf Jemand weit über ihm. So wird aus einem Stein ein Kind Abrahams erweckt. (Vergl. Matthäus 3, 9). Der Herr erfragt jetzt von den Jüngern den wahren Kernpunkt der ganzen Angelegenheit, sei es bei den Pharisäern, Sadducäern oder bei den Jüngern selbst. „Wer sagen die Menschen, daß ich, der Sohn des Menschen, sei?“ (V. 13). Christi Person wird herausgestellt. Ich brauche wohl kaum zu sagen, daß die Wahrheit über Ihn tiefgehender ist als jede andere Lehre. „Wer sagen die Menschen, daß ich, der Sohn des Menschen, sei? Sie aber sagten: Etliche: Johannes der Täufer; andere aber: Elias; und andere wieder: Jeremias, oder einer der Propheten.“ Der Unglaube gibt zu bedenken: „Es gibt zu viele Meinungen unter den Menschen, um Sicherheit zu erhalten. Die einen sagen dieses und die anderen jenes. Du sprichst von Wahrheit und der Bibel. Letzten Endes ist das nur deine Ansicht.“
Was sagt hingegen der Glaube? Sicherlich wird uns dieser von Gott in dem Augenblick geschenkt, wenn wir erkennen, wer Jesus ist. Er ist das einzige Mittel, welches Schwierigkeiten und Zweifel aus dem Herzen des Menschen verbannt. „Er spricht zu ihnen; Ihr aber, wer saget ihr, daß ich sei?“ (V. 15). Diese Frage sollte den Angelpunkt der Segnungen für den Menschen und der Herrlichkeit Gottes herausstellen. Gleichzeitig ist sie der Wendepunkt unseres Kapitels. Wir hören unter diesen Jüngern das gesegnete Bekenntnis eines von ihnen. Die Macht Gottes wirkte in einem Mann, der vorher und kurze Zeit später wegen seines Mangels an Glauben getadelt wurde. Wenn wir wirklich vor Gott wegen unseres geringen Glaubens zusammengebrochen sind, kann der Herr uns einige tiefgründigere, herrlichere Blicke auf Ihn gewähren als jemals zuvor. Die Jünger hatten die verschiedenen Meinungen der Menschen aufgezählt. Die einen sagten, Er sei Elias, andere, Johannes der Täufer. „Ihr aber, wer saget ihr, daß ich sei? Simon Petrus aber antwortete und sprach: Du bist der Christus, der Sohn des lebendigen Gottes.“ (V. 16).
Welch herrliches Bekenntnis! In den Psalmen wird von Ihm als Sohn Gottes gesprochen – doch in ganz anderer Weise! Dort sehen wir Ihn, wie Er mit den Königen der Erde handelt. Sie werden aufgefordert, auf ihr Verhalten zu achten. (Psalm 2). Aber, Sohn des lebendigen Gottes! Der Heilige Geist hebt jetzt den Vorhang und zeigt, daß der Sohn des lebendigen Gottes Tiefen der Herrlichkeit besitzt, die jede irdische Herrschaft, so ruhmvoll sie auch ist, weit übertrifft. Er ist der Sohn jenes lebendigen Gottes, Der sogar Seinen Feinden Leben mitteilen kann. „Jesus antwortete und sprach zu ihm: Glückselig bist du, Simon, Bar Jona; denn Fleisch und Blut haben es dir nicht geoffenbart, sondern mein Vater, der in den Himmeln ist. Aber auch ich sage dir ...“ (V. 17).
Zuerst vernehmen wir die Offenbarung des Vaters; und in dem Augenblick, als Christus hört, wie Er als Sohn des lebendigen Gottes bekannt wird, setzt Er Sein Siegel darauf und ehrt den Bekenner. Er bestätigt das Bekenntnis und erhebt sich sofort zu der Ihm wesensmäßigen Würde. „Aber auch ich sage dir, daß du bist Petrus; und auf diesen Felsen will ich meine Versammlung bauen, und des Hades Pforten werden sie nicht überwältigen.“ (V. 18). Er gibt Petrus einen neuen Namen. Wie Gott es bei Abraham, Sara, usw. getan hatte, um einige neue Offenbarungen von Sich selbst zu geben, so handelt jetzt der Sohn Gottes. Er hatte diesen Namen schon früher prophetisch angekündigt. Hier wird zum ersten Mal herausgestellt, warum Simon ihn erhielt. „Du bist Petrus; und auf diesen Felsen will ich meine Versammlung bauen.“ Auf welchen Felsen? – Auf das Bekenntnis, welches Petrus abgelegt hat, nämlich daß Jesus der Sohn des lebendigen Gottes ist. Darauf ist die Kirche (Versammlung) erbaut. Israel wurde durch ein Gesetz geleitet. Die Kirche steht auf einer festen, unvergänglichen und göttlichen Grundlage, auf der Person des Sohnes des lebendigen Gottes. Sobald dieses volle Bekenntnis von Petrus’ Lippen ausgesprochen war, erfolgte die Antwort: „Du bist Petrus“ – du bist ein Stein – du bist ein Mann, der seinen Namen von dem Felsen erhalten hat, auf den die Kirche erbaut ist.
In den ersten Kapiteln der Apostelgeschichte spricht Petrus von Christus immer als dem heiligen Knecht Jesus. Er spricht von Ihm als einem Mann, Der umherzog, indem Er Gutes tat, und als dem Messias, Der von gesetzlosen Menschen erschlagen und von Gott aus den Toten auferweckt worden war. Was immer Petrus auch von Jesus wissen mochte, er stellt Ihn, wenn er den Juden predigt, immer nur als den Christus, den angekündigten Sohn Davids, vor. Er zeigt, wie Er hienieden gewandelt ist, wie sie Ihn gekreuzigt haben und wie Ihn Gott auferweckt hat. Bei dem Märtyrertod des Stephanus wird ein neuer Titel auf den Herrn angewandt. Dieser gesegnete Zeuge blickte auf zum Himmel und sagte: „Ich sehe die Himmel geöffnet und den Sohn des Menschen zur Rechten Gottes stehen!“ (Apostelgeschichte 7, 56). Jetzt wird Jesus nicht mehr ausschließlich als Messias bezeichnet, sondern auch als „Sohn des Menschen“. Das setzt Seine Verwerfung voraus. Als Er als Messias abgelehnt wurde und Stephanus dies erkennen mußte, leitete Gott ihn an, von Jesus als dem erhöhten Sohn des Menschen zur Rechten Gottes zu zeugen. Nach der Bekehrung des Paulus, von der im übernächsten Kapitel berichtet wird, ging dieser noch weiter und predigte „in den Synagogen Jesum, daß dieser der Sohn Gottes ist.“ (Apostelgeschichte 9, 20). Er bekannte Ihn nicht nur als Sohn Gottes, sondern predigte es auch. Außerdem war Paulus mit dem großen Werk betraut, die Wahrheit von der Versammlung Gottes herauszustellen.
Ähnliches finden wir hier, indem der Herr auf das Bekenntnis des Petrus antwortete: „Auf diesen Felsen will ich meine Versammlung bauen.“ „Du verstehst die Herrlichkeit meiner Person; darum will ich dir von dem Werk erzählen, daß ich im Begriff stehe auszuführen.“ Beachte den Ausdruck! Der Herr sagt nicht: „Ich habe gebaut“, sondern ich „will ... meine Versammlung bauen.“ Er hatte sie noch nicht gebaut und auch noch nicht mit ihrem Bau begonnen. Sie war vollständig neu. Damit sage ich nicht, daß es vorher keine Seelen gab, die an Ihn glaubten und durch den Heiligen Geist geboren waren. Doch es ist ein Irrtum, wenn die Gesamtheit der einzelnen Gläubigen, die seit dem Anfang bis zum Ende der Zeit aus Gott geboren sind, die „Kirche“ (oder „Versammlung“) genannt wird. Das ist eine allgemein verbreitete Auffassung, die, wie ich deutlich sagen möchte, keine einzige Bibelstelle findet, um ihr auch nur eine Spur von Wahrheit zu geben. Der Ausdruck „Versammlung in der Wüste“ in Apostelgeschichte 7, 38 spricht von der ganzen Versammlung – der Masse – Israels, deren Leichname bis auf einige Ausnahmen in der Wüste fielen. (Hebräer 3, 17). Kann man das „die Versammlung Gottes“ nennen? Unter ihnen waren nur wenige Gläubige. Die Menschen lassen sich durch den Gleichklang der Worte täuschen. Der Ausdruck „Versammlung in der Wüste“ meint einfach die Ansammlung von Menschen dort. Dasselbe griechische Wort wird auch für die verwirrte Versammlung in Apostelgeschichte 19 benutzt, welche Paulus in Stücke reißen wollte. Wenn wir hier den Ausdruck „Versammlung“ wie in Apostelgeschichte 7 im Sinn von „Kirche“ übersetzen wollten, dann erhielten wir die „Kirche im Theater“. So wird der Fehler offensichtlich. Das griechische Wort, das mit „Kirche“ (oder „Versammlung“) übersetzt wird, bedeutet einfach „Versammlung“. Um herauszufinden, in welcher Bedeutung das Wort in einer bestimmten Bibelstelle zu verstehen ist, müssen wir den Zusammenhang beachten und überlegen, was der Heilige Geist jeweils meint. Es gibt gute und schlechte Versammlungen, Versammlungen der Juden und solche der Nationen. Aber es gibt auch die Versammlung Gottes, die von den übrigen unterschieden ist und zu ihnen im Gegensatz steht. Das erkennen wir fraglos aus 1. Korinther 10, 32. Ausschließlich Letztere (d. h. Gottes Versammlung) ist gemeint, wenn wir von „der Kirche“ (oder „der Versammlung“) sprechen.
Wenn wir zu unserem Text zurückkehren – was deutet unser Herr an, wenn Er sagt: „Auf diesen Felsen will ich meine Versammlung bauen“? Zweifellos etwas, das Er auf das Bekenntnis, daß Er der Sohn des lebendigen Gottes ist, aufbauen wollte! Der Tod sollte sie nicht überwältigen. Durch die Auferstehung sollte die Herrlichkeit Seiner Person nur noch mehr aufstrahlen. „Auf diesen Felsen will ich meine Versammlung bauen, und des Hades Pforten“ – d. h., die Macht des Todes – „werden sie nicht überwältigen.“ Der Ausdruck „Hades“ spricht nicht von dem Ort der Verlorenen (der Hölle), sondern von dem Zustand der abgeschiedenen Seelen. „Und ich werde dir die Schlüssel des Reiches der Himmel geben.“ Die Versammlung und das Reich der Himmel sind nicht dasselbe. Nirgendwo wird gesagt, daß Christus die Schlüssel der Kirche an Petrus vergab. Wären die Schlüssel der Versammlung (Kirche) oder des Himmels Petrus anvertraut worden, dann brauchte ich mich nicht zu wundern, daß die Menschen sich einen Papst ausgedacht haben. Doch das „Reich der Himmel“ spricht von der neuen Haushaltung, die jetzt auf der Erde abläuft. Gott wollte eine neue Haushaltung eröffnen, die Juden und Heiden frei zugänglich sein sollte. Die Schlüssel dazu gab Er Petrus. Einer dieser Schlüssel wurde, wenn ich so sagen darf, benutzt, als Petrus an Pfingsten zu den Juden, und ein anderer, als er später zu den Heiden predigte. Er öffnete den Menschen den Weg in das Reich, und zwar sowohl den Juden als auch den Nichtjuden. „Und ich werde dir die Schlüssel des Reiches der Himmel geben; und was irgend du auf der Erde binden wirst, wird in den Himmeln gebunden sein, und was irgend du auf der Erde lösen wirst, wird in den Himmeln gelöst sein.“ (V. 19).
Die ewige Vergebung der Sünden ist ausschließlich Gottes Sache, obwohl in einem gewissen Sinn auch Petrus und den übrigen Aposteln die Autorität zur Vergebung übertragen wurde – eine Autorität, die auch heute noch gilt. Immer wenn die Versammlung (Kirche) im Namen des Herrn handelt und wirklich Seinen Willen tut, liegt der Stempel Gottes auf ihren Handlungen. „Meine Versammlung“, gebaut auf diesen Felsen, ist Sein Leib – ein Tempel von Gläubigen, aufgebaut auf den Herrn. Das „Reich der Himmel“ umfaßt hingegen jeden Menschen, der Christi Namen bekennt. Das Reich begann mit Predigen und Taufen. Wenn ein Mensch getauft wird, betritt er das „Reich der Himmel“, selbst wenn er sich als Heuchler erweist. Als ein Ungläubiger wird er natürlich niemals in den Himmel kommen. Sei er Unkraut oder echter Weizen, ein böser Knecht oder ein treuer, eine törichte Jungfrau oder eine kluge, er befindet sich im „Reich der Himmel“. Das Reich der Himmel nimmt den ganzen Schauplatz des christlichen Bekenntnisses ein.
Wir sehen jedoch: Wenn Christus von „meiner Versammlung“ spricht, handelt es sich um etwas anderes. Sie wurde gebaut auf die Anerkennung und das Bekenntnis Seiner Person; und wir wissen: „Jeder, der da glaubt, daß Jesus der Christus ist, ist aus Gott geboren.“ (1. Johannes 5, 1). Ferner lesen wir: „Der, welcher glaubt, daß Jesus der Sohn Gottes ist“, überwindet die Welt (1. Johannes 5, 5). Wenn jemand Jesus als den Christus anerkennt, findet das erste Wirken des Lebens in ihm statt. Wo außerdem Jesus als der Sohn anerkannt wird, war die Macht des Heiligen Geistes noch tiefgreifender tätig. Dabei wächst die geistliche Kraft zur Überwindung dieser Welt und für den Weg durch dieselbe mit der Größe der Anerkennung Christi. Ein Gläubiger ist geistlicher als ein anderer, weil er die Person Christi besser kennt. Alle Kraft beruht auf der Wertschätzung Christi. Beachte die Worte unseres Herrn! „Glückselig bist du, Simon, Bar Jona; denn Fleisch und Blut haben es dir nicht geoffenbart, sondern mein Vater, der in den Himmeln ist.“ Zuerst muß Christus gefunden werden, und zwar außerhalb der Versammlung. Die Seele muß zuallererst Christus erkannt haben. Es ist Christus und Seine Person, die der Vater als erstes und vor allem einem Herzen offenbart. Dazu mag Er Menschen, die zur Versammlung gehören, als Werkzeuge benutzen oder Sein Wort unmittelbar gebrauchen. Welches Mittel Er auch immer verwendet – der Vater ist es, Der die Herrlichkeit des Sohnes einem armen Sünder offenbart. Nachdem diese Grundlage gelegt ist, sagt Christus einer Seele: „Auf diesen Felsen will ich meine Versammlung bauen.“ Der Reihenfolge und dem Weg Gottes nach kommt zuerst der Glaube an Christus und danach die Versammlung. Darin besteht eine der großen Kontroversen zwischen Gott und dem Geheimnis der Gesetzlosigkeit, welches jetzt in der Welt wirkt. (2. Thessalonicher 2, 7). Der Heilige Geist will Christus verherrlichen, jenes Geheimnis das Ich. Der Heilige Geist bringt uns diese gesegnete Offenbarung, die der Vater vom Sohn gemacht hat. Nachdem die persönliche Frage entschieden ist, folgen das gemeinsame Vorrecht und die gemeinsame Verantwortlichkeit in der Versammlung.
Das Bekenntnis, Christus empfangen zu haben, genügt daher nicht, so unendlich gesegnet es auch ist. Wenn ich Ihn als Sohn Gottes erkenne, sollte ich auch glauben, daß Er Seine Versammlung baut. Kenne ich meinen Platz in ihr? Wandle ich im Licht Christi als ein lebendiger Stein an dem Ort, wo Er mich hingestellt hat? Arbeite ich in gesunder Tätigkeit als ein Glied Seines Leibes, von Seinem Fleisch und von Seinem Gebein? Die Versammlung wird auf der Erde gebaut. Die Errettung wurde hienieden bewirkt; und hier wird auch die Versammlung auf den Felsen gebaut; und die Pforten des Hades, der unsichtbare Zustand der Abgeschiedenen, können gegen sie nicht bestehen. Der Tod mag eintreten, doch die Pforten des Hades vermögen nichts gegen die Versammlung. Der Herr sagt in der Offenbarung, daß Er die Schlüssel des Todes und des Hades hat. (Offenbarung 1, 18). Der Tod des Gläubigen, des Christen, befindet sich in den Händen Christi. Alles ist jetzt verwandelt. Er ist der Herr sowohl der Toten als auch der Lebendigen. Nicht der Tod ist unser Herr, sondern Christus. „Sei es, daß wir leben, wir leben dem Herrn; sei es, daß wir sterben, wir sterben dem Herrn. Sei es nun, daß wir leben, sei es, daß wir sterben, wir sind des Herrn.“ (Römer 14, 8). Der Herr hat unumschränkte Herrschaft über uns. Daher ist der Tod all jener Eigenschaften beraubt, die ihn sogar in den Augen Gläubiger, welche ihn mit ungläubigen Augen betrachten, so schrecklich macht. Der Herr sagt hier, daß die Pforten des Hades nicht gegen die Versammlung bestehen können. Das Buch der Offenbarung zeigt uns am Ende dieses glückselige Licht. Dieses Buch, welches die Menschen im allgemeinen als das dunkelste der ganzen Bibel ansehen, ist gerade dasjenige, dem wir das meiste Licht über diesen und andere Gegenstände verdanken. Dort finden wir den Herrn mit den Schlüsseln von Tod und Hades. Er gab die Schlüssel für das Reich der Himmel dem Petrus, weil er sowohl Juden als auch Nichtjuden predigen sollte. Diese Schlüssel erfüllten Ihren Dienst. Die Tür wurde zuerst am Pfingsttag aufgestoßen und später noch viel weiter geöffnet, als die Heiden hineingeführt wurden.
Des weiteren hören wir, wie dem Petrus durch Binden und Lösen eine interne Verwaltung übertragen wird. Christus bekleidet ihn mit Autorität, hier auf der Erde öffentlich zu handeln, mit der Zusage, daß diese Handlungen im Himmel anerkannt würden. „Was irgend du auf der Erde binden wirst, wird in den Himmeln gebunden sein, und was irgend du auf der Erde lösen wirst, wird in den Himmeln gelöst sein.“ Das wurde zuerst zu Petrus gesagt. Wie ich Matthäus 18, 18 entnehme, übertrug der Herr diese Binde- und Lösegewalt auch auf die anderen Jünger. Dort lesen wir: „Wahrlich, ich sage euch: Was irgend ihr auf der Erde binden werdet, wird im Himmel gebunden sein, und was irgend ihr auf der Erde lösen werdet, wird im Himmel gelöst sein.“ Falls ich mich nicht irre, sind nicht allein die Apostel, sondern alle Jünger gemeint. (Vergleiche auch den Auftrag in Johannes 20, 19–23!). Auf diesem Grundsatz werden Menschen in die christliche Versammlung (Kirche) aufgenommen und auf demselben Grundsatz die Bösen hinausgetan, bis letztere wieder zugelassen werden können. Vorher muß jedoch eine Buße erfolgt sein, die als ausreichend akzeptiert werden kann. Die Versammlung vergibt natürlich keine Sünden in Hinsicht auf das ewige Gericht; die Gewalt dazu besitzt ausschließlich Gott. Doch Er fordert uns auf, den Zustand einer Person vor der Aufnahme in den Kreis, der den Namen Christi hier auf der Erde bekennt, zu beurteilen oder sie gegebenenfalls davon auszuschließen.
In Apostelgeschichte 5 band Petrus Ananias und Sapphira ihre Sünde auf. Das beweist nicht notwendigerweise ihr Verlorensein. Ihre Sünde wurde ihnen aufgebunden und stellte sie unter ein irdisches Gericht. Weder Petrus noch Paulus waren in Korinth. Dort handelte der Herr selbst und legte Seine Hand auf die Schuldigen. Einige wurden schwach und krank und andere entschliefen. Ihnen wurden tatsächlich ihre Sünden behalten. Das spricht jedoch nicht gegen ihre endgültige Errettung, sondern eher für das Gegenteil. Indem der Herr sie richtete, wurden sie gezüchtigt, um nicht mit der Welt verurteilt zu werden, d. h. verloren zu gehen. (1. Korinther 11, 32). Auch wenn der Tod sie hinwegnahm, sind sie doch am Tag des Herrn errettet. Die Versammlung setzt eine böse Person hinaus. Der Mann in Korinth, den sie aus der Gemeinschaft entfernen sollten, war einer entsetzlichen Sünde schuldig. Er war indessen nicht verloren. Er wurde zum Verderben des Fleisches dem Satan überliefert, „auf daß der Geist errettet werde am Tag des Herrn Jesus.“ (1. Korinther 5, 5). Im nächsten Brief finden wir diesen Mann vom Kummer über seinen sittlichen Fall so überwältigt, daß die Korinther aufgefordert werden, ihm ihre Liebe zu erweisen. (2. Korinther 2, 8).
Nichts ist einfacher zu verstehen als dieses „Binden“ und „Lösen“, das die Leute oft so rätselhaft finden. Die einzigen Sünden, welche die Kirche (Versammlung) zu richten hat, sind solche, die so anstößig in Erscheinung treten, daß sie nach dem Wort Gottes öffentlichen Tadel finden müssen. Die Versammlung soll kein kleinlicher Gerichtshof für alles sein. Wir sollen nie auf ein Eingreifen der Versammlung bestehen außer bei einem Übel, welches so eindeutig ist, daß die
Gewissen aller sich damit beschäftigen müssen. Das ist, denke ich, die Bedeutung von „Binden“ und „Lösen“. Das erste wird angewandt, wenn eine Seele unter die öffentliche Zucht der Versammlung gestellt wird, das zweite, wenn sie sich demütigt und förmlich ihre Wiederaufnahme erfolgt. Die ewige Vergebung der Sünden ist etwas ganz anderes. Darin zeigt sich die Verderbtheit des Papsttums. Es verwechselt die Vergebung in dieser Welt mit der unumschränkten und ewigen Vergebung, die Gott sich Seiner eigenen Gewalt vorbehalten hat. Der Protestantismus hat die andere Wahrheit aufgegeben, nämlich die der Kirche (Versammlung) auferlegte Pflicht, für dieses gegenwärtige Leben Sünden zu richten.
„Dann gebot er seinen Jüngern, daß sie niemand sagten, daß er der Christus sei.“2 (V. 20). Welch einen bemerkenswerten Wechsel finden wir hier! Petrus hatte Ihn als Christus, den Sohn des lebendigen Gottes, bekannt. Jetzt verbietet Er ihnen nicht zu verkünden, daß Er der „Sohn des lebendigen Gottes“, sondern daß Er der Christus sei. Was bedeutet dies? Es besagt soviel wie, „Es ist zu spät! Ich bin als der Christus, der Messias, der Gesalbte Jehovas verworfen worden!“ Israel wies Ihn zurück; und Er akzeptierte es. Beachten wir jedoch folgendes! „Von der Zeit an begann Jesus seinen Jüngern zu zeigen, daß er nach Jerusalem hingehen müsse und von den Ältesten und Hohenpriestern und Schriftgelehrten vieles leiden, und getötet und am dritten Tag auferweckt werden müsse.“ (V. 21).
Wenn wir unseren Abschnitt mit dem entsprechenden im Lukasevangelium vergleichen, sehen wir die Besonderheiten noch deutlicher. Dort wird uns gesagt (Kap. 9, 20): „Er sprach aber zu ihnen: Ihr aber, wer saget ihr, daß ich sei? Petrus aber antwortete und sprach: Der Christus Gottes.“ Ist das nicht auffallend? „Der Christus Gottes.“ „Der Sohn des lebendigen Gottes“ wird bei Lukas nicht erwähnt. Folglich wird auch nichts vom Bau der Versammlung gesagt. Wie vollkommen ist die Schrift! Beides gehört zusammen. Bei Lukas folgt dann: „Er aber bedrohte sie und gebot ihnen, dies niemand zu sagen [d. h., daß Er der Christus Gottes ist], und sprach: Der Sohn des Menschen muß vieles leiden“, usw. Letzteres durften sie weitererzählen. Es besteht ein großer Unterschied zwischen dem „Christus“ und dem „Sohn des Menschen“. Der zweite Titel bezieht sich auf Seine Verwerfung und darauf folgende Erhöhung im Himmel. Hier, als Er den Jüngern verbietet, von Ihm als dem Christus zu sprechen, stehen wir am Wendepunkt des Dienstes Christi. Das heißt nichts anderes, als daß Er Seinen jüdischen Titel aufgab. Darum sprach Er auch vorher von Seiner Versammlung (Kirche). „Auf diesen Felsen will ich meine Versammlung bauen.“
Von dieser Zeit an begann Jesus zu Seinen Jüngern zu sagen, „daß er nach Jerusalem hingehen müsse und von den Ältesten und Hohenpriestern und Schriftgelehrten vieles leiden, und getötet und am dritten Tag auferweckt werden müsse.“ Lukas weist darauf hin, daß Sein Leiden vorausgeht. All dieses ist verbunden mit dem Bau der Versammlung, der begonnen wurde, nachdem Christus aus den Toten auferstanden war und Seinen Platz im Himmel eingenommen hatte. So werden auch im Epheserbrief am Anfang die Auferstehung Christi und Sein Sitzen auf dem neuen Platz im Himmel herausgestellt und erst danach die Versammlung. Wir lesen von der Auserwählung der Heiligen in Christus Jesus durch Gott, aber nicht von der Versammlung. Die Auserwählung ist persönlich. Er hat uns auserwählt – dich und mich und alle anderen Heiligen Gottes, wer immer sie seien. Er hat uns auserwählt, „daß wir heilig und tadellos seien vor ihm in Liebe.“ (Epheser 1, 4). Nachdem Paulus jedoch den Tod und die Auferstehung Christi vorgestellt hat, schreibt er, daß Gott „ihn als Haupt über alles der Versammlung gegeben, welche sein Leib ist, die Fülle dessen, der alles in allem erfüllt.“ (Epheser 1, 22–23).
Das geschah erst, als Christus zur Rechten Gottes saß. Dort begann Er, das Haupt zu sein. Seine Sohnschaft währt seit Ewigkeiten. Dann wurde Er Mensch in dieser Welt und zuletzt das Haupt der Versammlung, nachdem die Erlösung vollbracht war. Das Wort Gottes ist weiser als die Menschen. Was diese Torheit nennen, ist in Wirklichkeit die Weisheit Gottes. Wir sind verpflichtet, unsere Lieblingsvorstellungen sowie auch die Meinungen anderer Menschen aufzugeben und sollen immer dem Standard des Wortes Gottes folgen. Dabei sollen wir nicht unablässig andere Leute korrigieren, sondern uns selbst. Gottes Wort enthält alles, was wir benötigen. Es ist zweifellos auch für andere sehr nützlich; doch wir müssen es zuerst gewissenhaft auf unser eigenes Herz anwenden. Als die Kinder Israel den Krieg gegen die Kanaaniter begannen, erschien ihnen der Herr und tat ihnen kund, daß sie zuerst das Messer gegen sich selbst richten mußten, bevor sie das Schwert gegen andere ergreifen durften. (Josua 5).
Doch beachten wir, welch ernstes Ereignis folgt! Gerade hatte Simon dieses herrliche Bekenntnis vom Herrn Jesus abgelegt. Jetzt wird er nicht „Petrus“, sondern „Satan“ genannt. Wie konnte das geschehen? Weil er nicht die Dinge Gottes, sondern der Menschen schätzte! Nach menschlichem Urteil hatte er kein unangemessenes Wort gesagt. Er hatte nicht einmal voreilig gehandelt, wie es seine Gewohnheit war. Der Herr benannte niemals eine einfache Erregung mit dem Wort „Satan“. Aber Er nannte Petrus so, weil dieser Ihn von Leiden und Tod abhalten wollte. Das Geheimnis liegt darin, daß Petrus keineswegs fühlte, was Sünde, noch was die Gnade Gottes wirklich ist. Er stellte sich dem Herrn auf Seinem Gang zum Kreuz in den Weg. Ging Er nicht für Petrus dorthin? Hätte Petrus die Worte „Gott behüte dich, Herr!“ gesagt, wenn er daran gedacht hätte? Er war ein Mensch; und wenn ein Mensch die Wege Christi durchkreuzen will, nennt der Herr ihn „Satan“. „Er aber wandte sich um und sprach zu Petrus: Geh hinter mich, Satan! du bist mir ein Ärgernis, denn du sinnest nicht auf das, was Gottes, sondern auf das, was der Menschen ist.“ (V. 23). Petrus’ Fühlen und Handeln hier entspricht dem Geheimnis der Gesetzlosigkeit. Und doch war es derselbe Petrus, von dem wir unmittelbar vorher erfahren, was nicht Fleisch und Blut, sondern Gott ihn gelehrt hatte. Wahrhaftig, alles Fleisch ist wie Gras!
Danach wandte sich unser Herr an die Jünger. Er stellte ihnen vor, daß, so wie Er selbst zum Kreuz ging, sie sich auf einen ähnlichen Weg vorbereiten sollen. Wenn ich den wahren Pfad Jesu betrete, muß ich mich selbst verleugnen, das Kreuz aufnehmen und Ihm folgen – und nicht den Jüngern oder dieser oder jener Kirche. Ich muß einen Weg gehen, der meinem fleischlichen Herzen ganz und gar zuwider ist. Ich werde in dieser gegenwärtigen bösen Welt von Schande und Verwerfung umgeben sein – wenn nicht, verlaßt euch darauf, folge ich nicht Jesus nach! Denken wir daran, wie gefährlich es ist, an Jesus zu glauben, ohne Ihm zu folgen! Der Herr bestimmt, daß ein Mensch sein Leben sozusagen verlieren muß. Zur gegenwärtigen Zeit ist das Bekennen Christi im allgemeinen vergleichsweise leicht. Es gibt nur wenig Widerstand oder Verfolgung. Wie zeigt das wieder das Herz des Menschen! Die Menschen bilden sich ein, daß die Welt verwandelt sei; und sie sprechen von Fortschritt und Aufklärung. In Wirklichkeit haben sich die Christen verändert. Allerdings wird die Welt heutzutage in der Ausführung ihrer Gesetzlosigkeit gehemmt. „Nur ist jetzt der, welcher zurückhält, bis er aus dem Weg ist.“ (2. Thessalonicher 2, 7).
An jenem Tag wird die Welt nicht allein vom üblichen Geist des Hasses beseelt sein. Gott sendet den Menschen dann nämlich einen starken Irrwahn, damit sie der Lüge glauben und so bereit sind, den Antichristen, den Mann nach ihrem Herzen, anzunehmen. Ich folge nicht meiner Einbildung, wenn ich Leid und Unheil voraussage, sondern dem Wort Gottes. Vor einem Erdbeben ist eine große Stille. Man ruft „Friede und Sicherheit“ aus; doch dann kommt schnell die Zeit der Auflösung all der Dinge, welche der Mensch für festgegründet und sicher ansieht. (1. Thessalonicher 5, 3). Wir Christen werden von der Erde weggenommen, um bei unserem Heiland zu sein, bevor jener Tag kommt. Daran brauchen wir nicht zu zweifeln. Wir sollen auf die lichte Seite sehen, nämlich auf das Kommen Jesu, um uns in das Vaterhaus zu führen. Für die kurze Zeit unseres Lebens auf der Erde, ist es jedoch wichtig, daran zu denken, daß, so wie Jesus um unserer Errettung willen unbedingt zum Kreuz gehen mußte, auch jeder Christ sein Kreuz empfangen hat. Wollen wir in dieser Hinsicht treu sein? Wir dürfen sicher sein, daß auch wir dann unser Kreuz finden. Fragen wir uns selbst, inwieweit wir uns vor unserem Kreuz drücken und Jesus nicht nachfolgen! „Wenn jemand mir nachkommen will, der verleugne sich selbst und nehme sein Kreuz auf und folge mir nach. Denn wer irgend sein Leben erretten will, wird es verlieren; wer aber irgend sein Leben verliert um meinetwillen, wird es finden.“ (V. 24–25).
Welch eine Lehre für unsere Seelen! Das Fleisch beansprucht leicht die Herrschaft über den Geist; und schnell tritt auf dem Pfad des Wohllebens Nachgiebigkeit gegen das Ich auf (allerdings durch Satan bewirkt) unter dem Deckmantel von Liebe und Wohlwollen. Ist das Kreuz Christi unser Ruhm? Sind wir bereit, in der Ausübung Seines Willens zu leiden? Welch eine Verführung für Seine Nachfolger sind gegenwärtige Ehre und Genuß!
Fußnoten
- 1 d. h. in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, als in Großbritannien große Erweckungen stattfanden. (Übs.).
- 2 Vergl. Fußnote, S. 119! Kelly schreibt zu diesem Vers als Fußnote: „Das Wort „Jesus“ wird hier von den besten Autoritäten weggelassen. Das stimmt auch mit dem inneren Zusammenhang des Textes überein.“