Der erste Brief an die Thessalonicher
Kapitel 4
Im ersten Teil dieses Kapitels ermahnt der Apostel die Thessalonicher, Gott wohlgefällig zu wandeln. Nicht dass diese etwa untreu waren, o nein! Denn Paulus konnte seinen Äußerungen beifügen: „wie ihr auch wandelt“, sondern dass sie völliger würden. Der Heilige Geist wirkt fortdauerndes Wachstum in der Gnade und beständige Zunahme in der Heiligkeit. Wir dürfen nie mit uns selber zufrieden sein, sondern sollen stets der Heiligung nachjagen, damit wir mehr und mehr einen gottseligen Wandel führen. Des Apostels eigenes Verhalten in der Mitte der Thessalonicher verlieh seinen Ermahnungen Gewicht und Kraft. Wie gut, wenn man von jedem Arbeiter des Herrn dasselbe bezeugen könnte!
Der Apostel beschränkt sich jedoch nicht auf diese allgemeine Ermahnung; er geht auf Einzelheiten ein. „Denn dies ist Gottes Wille eure Heiligkeit, dass ihr euch der Hurerei enthaltet“ (Vers 3). Die Sitten der Heiden waren so verdorben, dass Hurerei von ihnen nicht als Sünde betrachtet wurde, stand doch die Hurerei in Verbindung mit ihrem abgöttischen Gottesdienst. Die Gläubigen in Thessalonich hatten früher ebenfalls in diesem Milieu gelebt, und die Gesellschaft, in der sie verkehrten, war von ebendenselben verderblichen Begriffen durchdrungen, so dass in dieser Hinsicht große Gefahren für sie bestanden. Und darum redet Paulus hier besonders ausführlich über diese Angelegenheit. Oberflächlich betrachtet kommt es uns merkwürdig vor, dass der Apostel eine solche Ermahnung an Gläubige richten musste, die so geistlich, waren wie die Thessalonicher. Wenn wir aber bedenken, wie die Begriffe von Sittlichkeit, von Gut und Böse, die wir von Jugend auf uns angeeignet haben, mit unserer Natur verwoben sind, so dass wir uns nur mit Mühe ihrem Einfluss entziehen können, so begreifen wir auch viel eher, dass den Thessalonichern jene Grundsätze der Unsittlichkeit eingefleischt waren. Es ist köstlich zu sehen, wie die Gnade Gottes, weit entfernt davon, mit Härte zu richten, mit Liebe warnt und die Begriffe von Sittlichkeit und Reinheit auf den Leuchter stellt, um die Gläubigen dadurch aus der verdorbenen Sphäre, in der sie sich bewegten, hinauszuheben.
Und welch herrliche Beweggründe für die Sittlichkeit werden uns vor Augen gestellt! Gott gab uns Seinen Heiligen Geist (Vers 8); dieser Geist wohnt in uns, denn unser Leib ist Sein Tempel. Lasst uns deshalb sowohl im Blick auf unseren eigenen Leib als auch hinsichtlich der Heiligkeit des Hauses Gottes in Reinheit wandeln. Darüber schreibt der Apostel: „Dass ein jeder von euch sein eigenes Gefäß in Heiligkeit und Ehrbarkeit zu besitzen wisse nicht in Leidenschaft der Lust, wie auch die Nationen, die Gott nicht kennen“ (Verse 4 und 5). Der Leib ist für den Menschen ein Gefäß, das er nach freiem Willen gebrauchen kann. Kinder Gottes sollten deshalb ihren Leib in Heiligkeit und Ehrbarkeit zu besitzen wissen und nicht zur Befriedigung der Lüste, wie die, welche Gott nicht kennen. Sollten wir uns den Nationen gleichstellen und gar die Brüder überlisten und deren Frauen zur Sünde zu verleiten suchen? Das sei ferne! „Er übersehe seinen Bruder nicht noch hintergebe er ihn in der Sache, weil der Herr Rächer ist über dies alles, wie wir euch auch zuvor gesagt und ernstlich bezeugt haben. Denn Gott hat uns nicht zur Unreinigkeit berufen, sondern in Heiligkeit. Deshalb nun, wer dies verachtet, verachtet nicht einen Menschen, sondern Gott, der euch auch Seinen Heiligen Geist gegeben hat“ (Verse 6–8). Wenn wir stets von dem Bewusstsein durchdrungen wären, dass der Heilige Geist in uns wohnt, wie viel mehr würden wir der Heiligkeit nachjagen! Gebe uns der Herr dazu viel Gnade!
Die Liebe war durch den Heiligen Geist in die Herzen der Thessalonicher ausgegossen. War es nun noch nötig, ihnen darüber zu schreiben, da sie ja von Gott gelehrt waren, einander zu lieben und diese Liebe nicht nur untereinander, sondern gegenüber allen Brüdern, die in Mazedonien wohnten, kundzutun? Gewiss; der Apostel wünschte, dass sie in der Liebe noch überströmender würden, und auch wir bedürfen dieser Ermahnung. Wir können nie zu viel Liebe üben. Jesus, unser Meister und Vorbild, gab für uns Sein Leben, und so schulden auch wir Ihm unser Leben. Und unsere Liebe zu den Brüdern soll soweit gehen, dass wir freudig bereit sind, unser Leben für sie darzulegen. Welch ein Vorrecht, Nachfolger des Christus zu sein und als Kinder Gottes in Liebe alle zu umfassen, die aus Ihm geboren sind!
Doch der Apostel fügt noch etwas bei. Er ermahnt die Thessalonicher, stille zu sein und ihre eigenen Geschäfte zu verrichten und mit ihren eigenen Händen zu arbeiten. Es bestand nämlich die Gefahr, dass die Gläubigen in jener Zeit, die gekennzeichnet war durch schwere Verfolgungen von außen und große Freude des Heiligen Geistes von innen, von ihren täglichen Pflichten und der Ausübung ihres Berufes abgezogen würden. Das konnte dem Herrn nicht gefallen. Gott will, dass wir auch im bürgerlichen Leben und in unserer täglichen Arbeit ein Zeugnis unseres Glaubens ablegen, indem wir ehrbar wandeln und in aller Treue unsere Arbeit verrichten, damit wir keinen Mangel leiden und nicht anderen zur Last fallen. Fürwahr, eine ernste, wichtige Ermahnung! Wie oft kommt es vor, dass man unter dem Schein von Geistlichkeit seine Arbeit und seine irdischen Pflichten versäumt und sich gar von anderen erhalten lässt! Wenn diese Ermahnung auch zu jeder Zeit sehr beachtenswert ist, so ist sie es doch besonders bei jungen Christen und vor allem in Zeiten großer Erweckung.
Wir kommen nun zu einem der wichtigsten Teile unseres Briefes, nämlich zu der Mitteilung, wie sich die Wiederkunft des Herrn gestalten wird, vor allem die Auferweckung der Entschlafenen in Christus und die gleichzeitige Aufnahme der dann lebenden Heiligen. Im weiteren erläutert der Apostel, dass zwischen dem Kommen Jesu für die Seinen, um sie in den Himmel aufzunehmen, und Seinem Kommen mit ihnen vom Himmel auf die Erde ein großer Unterschied besteht. Bevor wir uns näher mit der Wiederkunft des Herrn beschäftigen, wollen wir die Worte des Apostels noch einmal sorgfältig überlesen. Er schreibt darüber: „Wir wollen aber nicht, Brüder, dass ihr, was die Entschlafenen betrifft, unkundig seid, dass ihr euch nicht betrübt wie auch die übrigen, die keine Hoffnung haben. Denn wenn wir glauben, dass Jesus gestorben und auferstanden ist, also wird auch Gott die durch Jesus Entschlafenen mit Ihm bringen“ (Verse 13 und 14). So gewiß wie Christus gestorben und auferstanden ist, so gewiß wird auch der Herr, wenn Er wiederkommt, die vor Seiner Ankunft entschlafenen Heiligen mit Ihm bringen. Sie werden bei Seinem Erscheinen ebenso wenig fehlen wie die bei Seiner Ankunft Lebenden. Wie aber diese Vereinigung Beider mit Ihm stattfinden soll, sehen wir in den folgenden Versen: „Denn dieses sagen wir euch im Wort des Herrn, dass wir, die Lebenden, die übrigbleiben bis zur Ankunft des Herrn, den Entschlafenen keineswegs zuvorkommen werden. Denn der Herr selbst wird mit gebietendem Zuruf, Mit der Stimme eines Erzengels und mit der Posaune, Gottes herniederkommen vom Himmel, und die Toten in Christus werden zuerst auferstehen; danach werden wir, die Lebenden, die übrigbleiben, zugleich mit ihnen entrückt werden in Wolken dem Herrn entgegen in die Luft; und also werden wir allezeit bei dem Herrn sein. So ermuntert nun einander mit diesen Worten“ (Verse 15–18).
Wir haben hier eine besondere Offenbarung, ein besonderes Geheimnis (vergl. 1. Kor 15,51), das der Herr dem Apostel Paulus kundgemacht hat. Das geht schon aus den Worten in Vers 15 hervor: „Dies sagen wir euch im Wort des Herrn“; eine Art des Ausdrucks, die dem Apostel Paulus eigen ist, wenn er etwas Besonderes mitzuteilen hat. Aus dem Brief an die Galater wissen wir, dass er bezüglich der Heilswahrheit nichts von den Aposteln in Jerusalem, sondern alles direkt vom Herrn empfangen hatte, so dass er sagen konnte: „nach meinem Evangelium“, d. h. nach dem Evangelium, das ihm in besonderer Weise anvertraut war. Dennoch spricht er nicht immer so wie in unserem Text.
Die durch den Apostel hier mitgeteilte Offenbarung war neu. Neu in dem Sinn, dass die Thessalonicher das erste Mal etwas davon hörten. Neu auch hierin, dass sie der Apostel in diesem Brief zum erstenmal zu Papier brachte, denn wie wir schon früher sagten, ist der Brief an die Thessalonicher der erste Brief, den der Apostel Paulus geschrieben hat. Die Gläubigen waren mit dieser Offenbarung bezüglich der Ankunft Jesu noch nicht bekannt. Wie wir wissen, hatte der Apostel nur gut drei Wochen in der Mitte der Thessalonicher zugebracht und hatte während dieser Zeit nicht Gelegenheit gehabt, ihnen alle Dinge mitzuteilen. Ihre Betrübnis über die Brüder, die bei ihnen entschlafen waren, gab ihm nun Anlass, durch die Mitteilung dieser Offenbarung ihre Herzen zu beruhigen und zu trösten. Dadurch sind auch wir in den Besitz dieser herrlichen Wahrheit gekommen.
Wir haben gesehen, dass die Thessalonicher den Herrn Jesus vom Himmel erwarteten. Ihre Herzen waren so sehr mit dieser Erwartung erfüllt, dass man weitherum wusste, dass sie sich von den Abgöttern zu Gott bekehrt hatten, nicht nur, um dem lebendigen und wahrhaftigen Gott zu dienen, sondern auch, um den Herrn Jesus vom Himmel zu erwarten. Diese Hoffnung auf Jesu Wiederkunft war ihre tägliche Freude und stärkte sie inmitten des Kampfes und der Mühsal des Lebens. Nun waren aber nach der Abreise des Paulus einige Brüder entschlafen. Darüber waren sie traurig. Nicht so sehr, weil die Brüder weggegangen waren und sie von ihnen hatten Abschied nehmen müssen, sondern vor allem weil sie fürchteten, dass die entschlafenen Brüder beim Kommen Jesu auf Erden nicht gegenwärtig wären. Das geht aus der Weise, wie der Apostel sie tröstet, hervor. Wären sie nur deshalb traurig gewesen, weil die Brüder von ihnen hatten Abschied nehmen müssen, dann hätte die Antwort des Apostels ganz anders lauten müssen. Er hätte sie dann z. R. auf das Glück hinweisen müssen, das die Brüder jetzt beim Herrn genießen. Nun aber tröstet er sie mit der Mitteilung, dass die entschlafenen Brüder mit Jesus zurückkommen würden. Das beweist deutlich, dass diese Gläubigen in Bezug auf das, was bei der Ankunft Jesu stattfinden würde, noch ganz unkundig waren. Wären sie mit dem, was uns durch diese Offenbarung des Herrn kundgemacht ist, bekannt gewesen, dann wären sie über diese entschlafenen Brüder nicht betrübt gewesen, sondern dann hätten sie gewusst, dass die Entschlafenen sowohl wie die lebend Übrigbleibenden an der Wiederkunft Jesu, an der Entrückung, teilnehmen würden.
Diese Traurigkeit über die entschlafenen Brüder ist wohl ein treffender Beweis von der Liebe zu den Heiligen, die in diesen Gläubigen wohnte und zugleich von dem großen Interesse, das sie für die Ankunft des Herrn zeigten. Diese Ankunft Jesu war für ihre Herzen etwas so Großes und Herrliches und machte so sehr ihre Freude und Hoffnung aus, dass sie sich nicht nur täglich danach, sehnten, sondern auch betrübt waren bei dem Gedanken, dass etliche der Ihrigen nicht dabei wären. Und ihre Liebe zu den Heiligen war so groß, dass sie den Gedanken, dass einige von ihnen die Freude dieses Tages nicht mitgenießen sollten, nicht ertragen konnten. Wie beschämend für uns! Ach, wie sind wir oft so selbstsüchtig! Wenn nur wir es gut haben; dabei denken wir meistens nur wenig an das Wohl anderer. Und wie leicht vergessen wir darob die herrliche Hoffnung, die der Herr uns gegeben hat! ja, wir können von diesen Gläubigen lernen, dass die Erwartung des Herrn nicht eine bloße Sache des Verstandes, sondern des Herzens ist, nicht lediglich ein Wissen, sondern die Folge der Liebe zu Jesus. In der Erkenntnis mögen wir die gläubigen Thessalonicher vielleicht übertreffen, aber in der Liebe zum Herrn, in der Anhänglichkeit an Seine Person sind sie uns überlegen.
Die Antwort des Apostels vermochte die Thessalonicher völlig zu beruhigen und zu trösten. Sie brauchten nicht mehr betrübt zu sein betreffs der Entschlafenen wie die übrigen Menschen, die keine Hoffnung haben. „Denn wenn wir glauben“, sagt Paulus, „dass Jesus auferstanden ist, also wird auch Gott die durch Jesus Entschlafenen mit Ihm bringen“. Die entschlafenen Brüder hatten, wenn wir uns so ausdrücken dürfen, dasselbe Los wie der Herr Jesus. Er ist gestorben; Er ist auferstanden und Er kommt wieder. So verhält es sich auch mit ihnen. Sie sind gestorben; sie werden auferstehen; und wenn Jesus in Herrlichkeit kommt, werden sie mit Ihm zurückkehren. Unser Herr Jesus kommt mit allen Seinen Heiligen, so sagte Paulus am Schluss des dritten Kapitels; nun, hier versichert er die Thessalonicher, dass die entschlafenen Brüder, über die sie jetzt trauerten und über deren Teilnahme an der Herrlichkeit des Christus sie im Zweifel waren, bei der Ankunft Jesu mit Ihm kommen würden, wie auch die anderen Gläubigen, die nicht gestorben waren, so dass alle in gleicher Weise sich an der Herrlichkeit des Herrn erfreuen würden.
Der Ausdruck „durch Jesus entschlafen“, erheischt unsere besondere Aufmerksamkeit. Er ist nicht nur merkwürdig, sondern zugleich herrlich. Er zeigt uns die völlige Überwindung des Todes durch Jesus für die Seinen. Er schmeckte für uns den Tod und erduldete – für uns zur Sünde gemacht – die Schläge des Gerichtes Gottes; darum ist für uns das Sterben kein eigentliches Sterben mehr, sondern es ist gleich einem ruhigen Schlaf, aus dem man bald erwachen wird. Für alle, die da glauben, ist das Sterben lediglich ein „Entschlafen“ geworden. Der Gläubige, der stirbt, legt sich schlafen, und bei Jesu Wiederkehr wird Seine Stimme ihn aus dem Grab rufen. „Lazarus, unser Freund, schläft“, sagte der Herr zu Seinen Jüngern, „und Ich gehe hin, um ihn aus dem Schlaf aufzuwecken“. Und so wird es sein, wenn Jesus wiederkommt: die im Glauben an Ihn starben, werden durch Ihn aus den Toten auferweckt und werden Seiner Herrlichkeit teilhaftig.
Man glaube jedoch ja nicht, dass dieses Entschlafen ein Schlafen der Seele sei; o nein! der Leichnam wird ins Grab gelegt, aber die Seele geht bis zum Tage der Auferstehung zu Jesus ins Paradies. Und können wir uns denken, dass sie dort schlafe? Ach, wie trostlos wäre dieser Gedanke! Dann wäre es wahrlich nicht begehrenswert, dorthin zu gehen; dann wäre es besser, auf dieser Erde mit all ihren Mühen und Sorgen zu bleiben, denn auf der Erde kann man zum Mindesten die Gemeinschaft des Herrn genießen, und das ist nicht möglich, wenn die Seele schläft. Nein, die Seele genießt im Paradies die Gegenwart Jesu. „Abzuscheiden und bei Christus zu sein ist weit besser“, sagte Paulus in Philipper 1, und das wäre nicht so, wenn die Seele sich dort in einem Zustand der Bewusstlosigkeit befände. Gewiss, das Paradies ist noch nicht die vollkommene Herrlichkeit, ist noch nicht das Vaterhaus, aber dennoch wird es dort unbeschreiblich herrlich sein. „Ausheimisch“ von diesem Leib der Schwachheit, werden wir dort die Herrlichkeit des Herrn genießen. (Vgl. 2. Kor 5,1–9.)
Doch kehren wir zu unserem Text zurück und beachten wir wohl, wie der Apostel die Gläubigen zu Thessalonich tröstet. Nach der Vorstellung, die man sich während Jahrhunderten von der Wiederkunft Jesu gemacht hat, hätte der Apostel die Thessalonicher über das Entschlafen ihrer Brüder mit der Bemerkung trösten müssen, dass auch sie bald in den Himmel gehen würden. Er aber sagte ihnen gerade das Gegenteil. Die Entschlafenen werden ebenso gut wie sie, die lebend übriggebliebenen, mit Jesus auf Erden erscheinen, um an Seiner Offenbarung in Herrlichkeit teilzuhaben. Dies zu wissen hält die Erwartung des Kommens Jesu stets lebendig. Die Gläubigen sollen nicht an das Sterben denken, sondern immerfort in der Hoffnung leben, dass Jesus kommen wird, während sie noch hier auf Erden weilen.
Im dritten Kapitel hat der Apostel gesagt, dass, wenn Jesus kommt, alle Heiligen mit Ihm kommen werden. Es stellt sich uns also jetzt die Frage: wie kommen die Heiligen zu dem Herrn? Denn, um mit dem Herrn vom Himmel kommen zu können, müssen sie doch zuerst bei dem Herrn sein. Man wird vielleicht sagen: nun, wenn wir sterben, gehen wir zum Herrn; wir wohnen dann ausheimnisch vom Leib und einheimisch beim Herrn, und deshalb können wir dann mit dem Herrn erscheinen. Das wäre wohl möglich, wenn wir nicht als auferweckte und verherrlichte Heilige mit dem Herrn kommen müssten. Doch, da die Heiligen, die mit dem Herrn in Herrlichkeit offenbart werden sollen, Ihm gleich sein werden, so ist diese Erklärung unmöglich, und die Frage bleibt offen: Wie kommen die Heiligen zum Herrn?
Die folgenden Verse eröffnen uns dieses Geheimnis. Der Herr wird vom Himmel herabsteigen. Er wird sich von Seinem Platz zur Rechten des Vaters erheben, nicht, um sich in Herrlichkeit der Welt zu offenbaren, sondern um Seine Heiligen zu sich zu nehmen. Er kommt nicht auf die Erde, wie es der Fall sein wird, wenn Er mit allen Seinen Heiligen in Herrlichkeit erscheint. Dann allerdings werden Seine Füße auf dem Ölberg stehen (Sach 14,4), und Er wird Seine glorreiche Regierung hienieden beginnen. Bei der Entrückung kommt Er nicht weiter als bis „in die Luft“, und dort werden die Seinen Ihm begegnen, um durch Ihn ins Vaterhaus gebracht zu werden. Und wenn Er kommt, dann findet Er einen Teil der Seinen entschlafen und im Paradies weilend, und einen Teil noch lebend auf Erden. Als das Haupt Seines himmlischen Volkes, das auf Erden zerstreut ist, wird Er sie alle sammeln, um sie dann zusammen mit den bereits entschlafenen Gläubigen zu sich in Seine Herrlichkeit aufzunehmen.
Stehen wir hier ein wenig still. Die entschlafenen Heiligen befinden sich jetzt in dem Teil des Hades, d. h. an dem Ort, wo die Seelen der Menschen nach dem Tod hingehen, den der Herr selbst, als Er am Kreuz hing das Paradies genannt hat, und der in Lukas 16 nach der jüdischen Vorstellung der „Schoß Abrahams“ heißt. Was wird mit all den Insassen des Paradieses beim Kommen des Herrn geschehen? Der Herr wird sie aus dem Paradies mitbringen und ihre Seelen mit dem Leib vereinigen. Sie werden aus ihren Gräbern auferstehen. Der Herr wird kommen mit einem „gebietenden Zuruf“ – es ist die Stimme des Menschensohnes – welcher die Toten lebendig macht. Einem Erzengel gleich wird Er seine mächtige Stimme erschallen lassen und die Posaune Gottes1 wird ertönen, um das Heerlager des Herrn zum Aufbruch zu rufen. Die Toten in Christus werden unverweslich angetan mit einem neuen, geistlichen Leib, gleichförmig dem herrlichen Leib des Herrn, auferweckt werden (1. Kor 15,42–52; Phil 3,21).
Das ist das Erste, was bei Jesu Wiederkunft geschehen wird. Aber was wird aus den dann noch auf Erden lebenden Gläubigen? Von diesen „Lebenden, die bis zur Ankunft des Herrn übrigbleiben“ schreibt der Apostel, dass sie nicht sterben, sondern verwandelt werden. „Siehe Ich sage euch ein Geheimnis: Wir werden zwar nicht alle entschlafen, wir werden aber alle verwandelt werden“ (1. Kor 15,51). Es gibt also Gläubige, die nicht sterben, sondern lebend bleiben, bis der Herr kommt. Das wird mit kurzen Worten gesagt: „Wir werden nicht alle entschlafen“. Die Meinung, die so viele Jahrhunderte in der Christenheit geherrscht hat, und die auch jetzt noch in weiten Kreisen festgehalten wird, wonach alle Menschen sterben müssten, steht also im Widerspruch mit dieser deutlichen Aussage der Heiligen Schrift. Gewiss, es ist dem Menschen gesetzt, einmal zu sterben, danach aber das Gericht“ (Heb 9,27), aber für die, welche an Jesus glauben, ist der Tod durch Christus überwunden, weil Er für sie den Stachel des Todes, nämlich die Sünde, zunichte gemacht hat. Darum wird an derselben Stelle (Heb 9,27. 28) gesagt: „So wird auch der Christus, nachdem Er einmal geopfert worden ist, um vieler Sünden zu tragen, zum zweiten Mal denen, die Ihn erwarten, ohne Sünde (ohne Beziehung zur Sünde) erscheinen zur Seligkeit“. Wenn ein Christ stirbt, dann stirbt er nicht, weil er sterben muss, sondern weil der Herr noch nicht gekommen ist. Der Tod hat keine Macht mehr über die Erlösten, und das wird bei der Wiederkehr Jesu aufs Herrlichste offenbar werden, denn alsdann werden alle Gläubigen, die bis zu diesem Augenblick auf Erden leben, ohne zuvor zu sterben, verwandelt werden. Das Sterbliche in uns wird durch das göttliche Leben verschlungen (2. Kor 5,4). Unser verderblicher und sterblicher Leib wird in einen unverderblichen und unsterblichen verwandelt werden. Welch herrliches Teil!
Bei der Entrückung der Gemeinde (Ekklesia) werden also zuerst die entschlafenen Heiligen auferweckt und darnach die lebenden, die übrigbleiben, verwandelt werden. Nun muss man daraus aber nicht schließen wollen, dass zu diesem Akt viel Zeit erforderlich wäre; o nein! das alles geschieht in einem Augenblick, in einem Nu (1. Kor 15,52), in weniger Zeit als wir brauchen, um uns das im Geist nur vorzustellen. Welch eine Offenbarung der Macht Gottes! Nur ein Ruf – und all die Millionen Heiligen, die durch Jesus entschlafen sind, entsteigen mit einem neuen, verherrlichten Leib ihren Gräbern. Nur ein Wort – und alle lebend Übriggebliebenen sind verwandelt. Ihr schwacher, gebrechlicher, sterblicher d. h. sterben-könnender – Leib ist ein Herrlichkeits Leib geworden. Das Wort Jesu zu Martha ist dann in Erfüllung gegangen: „Wer an Mich glaubt, wird leben, auch wenn er gestorben ist; und jeder, der da lebt und an Mich glaubt, wird nicht sterben in Ewigkeit“ (Joh 11,25. 26).
Dann sind also alle Heiligen – Entschlafene und Übriggebliebene – verherrlicht. Alle Schwachheit und alle Sünde sind verschwunden; Verweslichkeit und Sterblichkeit bestehen nicht mehr; von Gebrechen, Elend und Krankheit ist keine Rede mehr; alle Tränen sind von den Augen abgewischt. Strahlend in Schönheit und Herrlichkeit tragen alle das Bild des himmlischen Menschen. Keiner der Heiligen fehlt; die ganze Ekklesia, die Brautgemeinde ist für ewig mit ihrem Herrn vereint.
Wie herrlich ist das! Der Herr selbst wird kommen, sagt der Apostel. Nicht ein feuriger Wagen mit feurigen Pferden wird uns abholen; nicht ein Engel wird gesandt werden, um uns zum Herrn zu führen, sondern der Herr selber, der liebevolle Bräutigam wird erscheinen, um Seine geliebte Braut heimzuführen. Diese Entrückung der Heiligen wird in gleicher Weise stattfinden wie die Himmelfahrt des Herrn. „Und als Er dies gesagt hatte, wurde Er emporgehoben, indem sie es sahen, und eine Wolke nahm Ihn auf von ihren Augen hinweg“, so lesen wir im ersten Kapitel der Apostelgeschichte. Und von unserer Entrückung wird gesagt: „Danach werden wir, die Lebenden, die übrigbleiben, zugleich mit ihnen entrückt werden in Wolken dem Herrn entgegen in die Luft.“ Welch eine unaussprechliche Gnade des Herrn, uns für ewig mit Ihm zu vereinigen!
Wiewohl es uns nicht direkt gesagt ist, so dürfen wir wohl annehmen, dass diese Himmelfahrt der Heiligen – wenn wir sie so nennen dürfen – für die Welt unsichtbar sein wird. Dies kann man nicht nur aus ihren Vorbildern schließen; z. B. aus der Entrückung des Henoch oder aus der Himmelfahrt des Herrn selbst, die von den Jüngern allein gesehen wurde, sondern dies folgt auch aus dem, was uns bezüglich unserer Offenbarung mit Jesus in der Herrlichkeit gesagt ist. „Es ist noch nicht offenbar geworden, was wir sein werden“, sagt Johannes (1. Joh 3,2). Die Herrlichkeit, die einmal unser Teil sein wird, und das ist die Herrlichkeit Jesu, ist jetzt noch vor den Augen der Welt verborgen, und darum kennt uns die Welt nicht. Wenn aber Christus offenbart werden wird, dann werden wir Ihm gleich sein. „Wenn der Christus, unser Leben, offenbart werden wird, dann werdet auch ihr mit Ihm offenbart werden in Herrlichkeit“ schreibt Paulus an die Kolosser (Kol 3,4). Wenn nun die Welt die Entrückung der Gläubigen sehen würde, dann sähe sie uns verherrlicht, bevor die Offenbarung des Christus in Herrlichkeit stattfindet; das aber ist unmöglich, weil uns gesagt ist, dass wir mit Ihm offenbart werden sollen in Herrlichkeit.
Fassen wir nun das, was uns in dieser wichtigen Stelle gelehrt wird, nochmals kurz zusammen. Der Herr selbst wird kommen „in die Luft“ in der vollen Macht als der Todesüberwinder; die entschlafenen Heiligen werden mit der Posaune Gottes auferweckt und die in diesem Zeitpunkt lebend Übriggebliebenen werden verwandelt, um gemeinsam dem Herrn entgegenzugehen, um für immer bei Ihm zu sein. Unser Hingang von dieser Erde wird dem Hingang Jesu vollkommen gleich sein; wir verlassen die Welt, zu der wir nicht gehören, um Jesu gleichförmig in den Himmel, unsere ewige Wohnstätte, einzugehen. Dann wird der Herr all die Seinigen mit sich bringen, wenn Er in Herrlichkeit erscheint. Zuerst kommt Er in der Luft, um die Seinen – die Entschlafenen sowohl als auch die lebendig Übriggebliebenen – von dieser Erde aufzunehmen in den Himmel, und dann erscheint Er „mit großer Kraft und Herrlichkeit“, mit allen Seinen Heiligen auf dieser Erde, um die Welt zu richten. Deshalb wird hier deutlich auf den Unterschied zwischen Jesu Kommen zur Entrückung der Heiligen und Seinem Kommen mit ihnen in Herrlichkeit hingewiesen.
„So tröstet nun einander mit diesen Worten“, schließt der Apostel seine kostbaren Mitteilungen, und wahrlich, er hatte reichlich Grund, so zu reden. Jesus selber, unser Herr und Heiland, der uns durch Sein Blut erkauft hat, uns leitet durch Seinen Geist und uns auf unserm Pilgerpfad soviel Liebe und Erbarmen erweist, wird kommen, um Seine geliebten Heiligen in die Wohnungen des Vaterhauses zu bringen. Welch ein wunderbarer Augenblick wird das sein! Wie herrlich, Ihn bald von Angesicht zu Angesicht zu sehen und Ihm gleich zu sein! Dann werden wir Seine Liebe vollkommen erkennen und an Seinem Herzen ausruhen von aller Mühe und allem Kampf und für ewig ungestört bei Ihm sein. Fülle von Freuden wird unser Teil sein. Und dann werden wir alle Geliebten Gottes sehen und antreffen – alle Heiligen, die wir kannten und auch die wir nie gesehen haben. Welch eine Hoffnung! Welch ein Trost für unsere Seele in dieser armen, mühevollen Welt! Möchte unser Herz nach dieser Stunde verlangen! Möge unser Auge auf den geliebten Bräutigam gerichtet sein, der mit sehnendem Verlangen nach dem Augenblick ausschaut, wo Er kommen und uns abholen kann. Möchten wir alle mehr denn je mit freudigem Herzen ausrufen: „Komm, Herr Jesu, ja, komme bald!“
Fußnoten
- 1 Die Posaune ist nicht zu verwechseln mit den Gerichtsposaunen in der Offenbarung.