Vorträge zum Matthäusevangelium
Kapitel 14
Das bisher Betrachtete ist indessen nicht die ganze traurige Wahrheit. Ungefähr um diese Zeit wurden die Zwölfe ausgesandt. Das sahen wir schon in Kapitel 10 als Teil jener besonderen Kette von Ereignissen, die in diesem Abschnitt des Evangeliums zusammengestellt wurden. Dem Zeitpunkt nach folgte die Aussendung der Apostel jedoch auf das fleischliche Urteil, daß dem Messias gerade zuteil wurde. Matthäus berichtet sie in schöner Weise schon früher, um das Bild von Christi geduldiger und beharrlicher Gnade an Israel zu vervollständigen. Außerdem sollte sie die Rechte Seiner Person als Jehova, dem Herrn der Ernte, bezeugen. Hier wird diese Sendung folglich nicht mehr erwähnt. Dafür sehen wir ihre Folgen. „Zu jener Zeit hörte Herodes, der Vierfürst, das Gerücht von Jesu und sprach zu seinen Knechten: Dieser ist Johannes der Täufer; er ist von den Toten auferstanden, und darum wirken solche Kräfte in ihm“ (V. 1–2).
Das gibt dem Geist Gottes die Gelegenheit, uns zu berichten, wie das Zeugnis Johannes’ des Täufers in seinem eigenen Blut erstickt wurde. Die Bewohner des Landes waren blind. Aber in ihrer Mitte herrschte auch ein falscher und rücksichtsloser König, der sich nicht fürchtete, zunächst jenen gesegneten Zeugen Gottes gefangenzusetzen und ihn zuletzt zu erschlagen. Dabei fürchtete er die Volksmenge (V. 5), sonst hätten ihn seine Leidenschaften schon früher zu dieser Tat getrieben. Auch fehlten Kummer und Gewissensbisse nicht, als es zur Tat kam. (V. 9). Doch was können diese Hemmnisse ausrichten in Gegenwart der versteckten Listen und ungehinderten Macht Satans? So böse Herodes auch war, er besaß noch ein Gewissen; und die Predigt Johannes hatte sein Gewissen soweit erreicht, daß ihm unbehaglich wurde. Dennoch ist das Ende nicht überraschend für den, der weiß, welch ein Feind hinter der Szene lauert. Satan haßt alles, was von Gott ist, und stachelt den Menschen an, sein Sklave und ein Feind Gottes zu sein, indem er die Lüste des Menschen befriedigt und ihm Ehren gewährt, die weniger wert sind als nichts. Welch ein Blick in die Welt und das menschliche Herz gibt Gott uns hier! Und mit welch heiliger Einfachheit wird vor uns ausgebreitet, was wir gut hören und bedenken sollten! „Doch der Mensch, der in Ansehen ist, bleibt nicht; er gleicht dem Vieh, das vertilgt wird. Dieser ihr Weg ist ihre Torheit; und die nach ihnen kommen, haben Wohlgefallen an ihren Worten. Man legt sie in den Scheol wie Schafe, der Tod weidet sie; und am Morgen herrschen die Aufrichtigen über sie“, sang der Psalmist (Psalm 49, 12–14). Das war gewiß richtig und von Gott. Und der König „sandte hin und ließ den Johannes im Gefängnis enthaupten. Und sein Haupt wurde auf einer Schüssel gebracht und dem Mägdlein gegeben, und sie brachte es ihrer Mutter“ (V. 10–11). So ist ein Mann (und auch eine Frau) ohne Gott.
Als diese Kunde vom Tod des Johannes zu Jesus gebracht wurde, zeigte Er sofort Seine Gefühle über diese Tat. „(Er) entwich von dannen in einem Schiffe an einen öden Ort besonders. Und als die Volksmengen es hörten, folgten sie ihm“ (V. 13). Er war nicht empfindungslos, wie groß Seine Geduld und Gnade auch immer sein mochten. Er fühlte das abscheuliche Unrecht, daß Gott, Seinem Zeugnis und Seinem Knecht zugefügt worden war. Er sah den Vorboten eines noch heftigeren Sturms und einer noch finstereren Bluttat, nämlich der schrecklichen Sünde Seiner eigenen Verwerfung. Er wollte jetzt nicht weiter eilen und zog sich zurück. Er war ein Dulder, ein vollkommener Dulder, sowie auch das Opfer. Seine Leiden erreichten zweifellos ihre größte Höhe in jenen ernsten Stunden, als Er unsere Sünden an Seinem Leib auf dem Holz trug. Es offenbart jedoch größte Gleichgültigkeit, wenn wir unsere Gedanken und Gefühle bezüglich Seiner Liebe und sittlichen Herrlichkeit ausschließlich auf jene abschließende Qual richten. Der Herr fühlte wegen Seiner selbstlosen Liebe und unbefleckten Heiligkeit das Böse nur umso mehr. Gerade in der Gegenwart Gottes wird es am stärksten empfunden; und dort hielt unser Herr sich ständig auf. Das Werk der Verwerfung schritt voran.
Unterbrach dieses tiefe Bewußtsein Seines Geistes von der zunehmenden Macht des Bösen in Israel den Lauf Seiner Liebe? Weit davon entfernt! „Und als er hinausging, sah er eine große Volksmenge, und er wurde innerlich bewegt über sie und heilte ihre Schwachen.“ (V. 14). Mochte der mörderische Unglaube handeln, wie er wollte – Er war Jehova und in Niedrigkeit hienieden anwesend, aber auch mit göttlicher Macht und Gnade.
Die Jünger zogen wenig Nutzen aus Seiner Gnade und ließen der Entfaltung Seiner wohltätigen Macht nur wenig Raum. So kamen sie abends zu Ihm und sagten: „Der Ort ist öde, und die Zeit ist schon vergangen; entlaß die Volksmengen, auf daß sie hingehen in die Dörfer und sich Speise kaufen.“ (V. 15). „Entlaß die Volksmengen!“ Von Jesus weg! Was für ein Vorschlag! Die Größe einer Schwierigkeit, die Dringlichkeit einer Not und verwickelte Umstände sind für den Unglauben eine Herausforderung zu tun, was er zu tun vermag. Der Glaube erkennt in ihnen vielmehr einen Anlaß zum Gebet an den Herrn und Gelegenheiten für Ihn, um zu zeigen, wer Er ist. „Jesus aber sprach zu ihnen: Sie haben nicht nötig wegzugehen; gebet ihr ihnen zu essen.“ (V. 16). O, die Blindheit des Menschen! Wie töricht und herzensträge waren die Jünger im Glauben! Und doch, geliebte Freunde, haben wir das nicht auch schon gesehen? Haben wir es nicht schon bei uns selbst gefunden? Wie wenig kümmern wir uns um andere! Wie wenig haben wir ihre Bedürfnisse erwogen und dabei an Ihn, der alle Macht im Himmel und auf Erden hat, gedacht! Dabei sendet Er uns im gleichen Atemzug, der uns diese herrliche Wahrheit versichert, aus, den tiefsten Bedürfnissen der durch Sünde verfinsterten Seelen zu begegnen. (Matthäus 28, 18–20).
„Sie aber sagen zu ihm: Wir haben nichts hier als nur fünf Brote und zwei Fische.“ (V. 17). Ach, waren sie, sind wir, zu blind, um zu sehen, daß es nicht darum geht, was, sondern Wen wir haben? Für das Fleisch ist Jesus nichts, auch wenn wir Jünger sind.
Er sprach: „Bringet sie mir her.“ (V. 18). Ach, hätten wir mehr Einfalt! Dann würden wir jeden Mangel und jeden dürftigen Vorrat Ihm bringen, Dessen Freude es ist, andere zu versorgen, und zwar sowohl um unsertwillen, als auch aus dem Antrieb Seiner Liebe heraus. Wir dürfen gewohnheitsmäßig auf Ihn rechnen als einem Geber, der nie Seine Größe verleugnen kann.
„Und er befahl den Volksmengen, sich auf das Gras zu lagern, nahm die fünf Brote und die zwei Fische, blickte auf gen Himmel und segnete sie; und er brach die Brote und gab sie den Jüngern, die Jünger aber gaben sie den Volksmengen. Und sie aßen alle und wurden gesättigt. Und sie hoben auf, was an Brocken übrigblieb, zwölf Handkörbe voll. Die aber aßen, waren bei fünftausend Männer, ohne Weiber und Kindlein.“ (V. 19–21).
Wie gesegnet ist diese Szene, und wie leuchtet die Vollkommenheit Christi durch alles hindurch! Er schränkt keineswegs Seine Gnade ein trotz des mörderischen Hasses, der sich gerade in Herodes gezeigt hatte. Sogar Sein Zurückziehen an einen öden Ort war nur ein weiterer Schritt auf Seinem Weg der Leiden und der Erniedrigung. Und doch entfaltete sich dort in der Wildnis dieses treffende Zeugnis an die große Volksmenge. Ihre Bedürfnisse hatten es hervorgerufen. Sollten sie daraus nicht mit Gewißheit entnommen haben, wer und was Er war? „Jehova hat Zion erwählt, hat es begehrt zu Seiner Wohnstätte. Dies ist meine Ruhe immerdar; hier will ich wohnen, denn ich habe es begehrt.“ (Psalm 132, 13–14). Doch jetzt herrschte ein Edomiter, der Sklave einer mörderischen Heidin; und das Volk war damit einverstanden, während die Hohenpriester bald ausrufen würden: „Wir haben keinen König als nur den Kaiser.“ (Johannes 19, 15). Dennoch bereitete der Verworfene einen Tisch in der Wüste, segnete die Speise Zions reichlich und sättigte seine Armen mit Brot. Auch wenn das Wunder nicht die eigentliche Erfüllung von Psalm 132, 15 ist, so liefert es nichtsdestoweniger ein Zeugnis von der Anwesenheit Dessen, Der jene Verheißung erfüllen kann und wird. Er war der Messias, doch, wie immer in unserem Evangelium, der verworfene Messias. Er sättigte Seine Armen mit Brot. Das geschah jedoch in der Wildnis, wohin Er sich vor der ungläubigen Nation und dem eigensinnigen, abtrünnigen König zurückgezogen hatte.
Danach tritt ein Wechsel vor unsere Blicke. „Alsbald nötigte er die Jünger, in das Schiff zu steigen und ihm an das jenseitige Ufer vorauszufahren, bis er die Volksmengen entlassen habe. Und als er die Volksmengen entlassen hatte, stieg er auf den Berg besonders, um zu beten. Als es aber Abend geworden, war er daselbst allein“ (V. 22–23). Noch sollte die Krone nicht auf Seinem Haupt ruhen. Er mußte Sein altes Volk wegen ihres Unglaubens verlassen, einen neuen Platz in der Höhe einnehmen und einen Überrest in eine neue Stellung leiten. Nachdem Er als Messias auf der Erde verworfen war, wollte Er nicht ein König nach dem Willen der Menschen werden, um ihre irdischen Lüste zu befriedigen (vgl. Johannes 6!). Statt dessen stieg Er in die Höhe, um Seinen Priesterdienst vor Gott auszuüben. Das ist ein genaues Bild von dem, was der Herr getan hat. Die Masse Israels („die große Versammlung“) wurde weggeschickt und Seine Auserwählten auf einen Schauplatz der Schwierigkeiten geführt, während ihr Lehrer in der „Nacht“ des „Tages des Menschen“ abwesend war. „Das Schiff aber war schon mitten auf dem See und litt Not von den Wellen, denn der Wind war ihnen entgegen“ (V. 24).
Das sind einige Folgen der Verwerfung Christi. Droben und nicht in der Wildnis bittet Er für die Seinen. In räumlicher Hinsicht weit von ihnen entfernt – und doch in Wahrheit viel näher – bittet Er für die Jünger, die dem äußeren Anschein nach allein gelassen sind. Sie sind jene, die „gerettet werden sollten“ (Apostelgeschichte 2, 47), die Auserwählten, die Gefährten Seiner Erniedrigung, während Israel Ihn verwirft.
„Aber in der vierten Nachtwache kam er zu ihnen, wandelnd auf dem See. Und als die Jünger ihn auf dem See wandeln sahen, wurden sie bestürzt und sprachen: Es ist ein Gespenst! Und sie schrieen vor Furcht. Alsbald aber redete Jesus zu ihnen und sprach: Seid gutes Mutes, ich bin’s; fürchtet euch nicht! Petrus aber antwortete ihm und sprach: Herr, wenn du es bist, so befiehl mir, zu dir zu kommen auf den Wassern. Er aber sprach: Komm! Und Petrus stieg aus dem Schiff und wandelte auf den Wassern, um zu Jesus zu kommen. Als er aber den starken Wind sah, fürchtete er sich; und als er anfing zu sinken, schrie er und sprach: Herr, rette mich! Alsbald aber streckte Jesus die Hand aus, ergriff ihn und spricht zu ihm: Kleingläubiger, warum zweifeltest du?“ (V. 25–31). Ohne jetzt bei der sittlichen Lehre zu verweilen, mit denen wir alle mehr oder weniger vertraut sind, werden vielleicht einige Worte zur sinnbildlichen Bedeutung des Abschnitts willkommen sein.
Der Herr wird Seinen Platz der Fürsprache droben verlassen und wieder mit Seinen Jüngern zusammentreffen, wenn ihre Schwierigkeiten und ihre Verwirrung am größten sind. Berg, See, Sturm, Stille, Finsternis und Licht spielen für Christus in Hinsicht auf Sicherheit keine Rolle. Aber Sein Eintreten in die Bedrängnis ist für eine natürliche Gesinnung mit äußerstem Schrecken verbunden. Zunächst waren selbst die Jünger bestürzt und sagten: „Es ist ein Gespenst! Und sie schrieen vor Furcht.“ Erst das Zeichen Seiner bevorstehenden Ankunft brachte sie zum Schweigen. Diese Umstände und die Lage der Jünger gehen wohl kaum über diejenigen des jüdischen Überrestes hinaus. Nur in Petrus erkennen wir etwas von jener neuen Stellung. Auf das Wort des Herrn Jesus hin verließ er das Boot, welches den normalen Zustand des Überrestes versinnbildlicht, und ging auf den Heiland zu, um Ihm außerhalb aller Hilfsmittel der Natur zu begegnen. Es ist unser Teil, die Welt in göttlicher Kraft zu durchziehen; denn wir wandeln durch Glauben und nicht durch Schauen. Der Wind war noch nicht beruhigt worden und die Wellen genauso drohend wie vorher. Aber hatte Petrus nicht das Wort „Komm!“ gehört? Genügte es nicht? Es kam von dem Herrn und Gott aller Dinge. „Petrus stieg aus dem Schiff und wandelte auf den Wassern, um zu Jesus zu kommen.“ Solange Jesus und Sein Wort vor seinem Herzen standen, gab es kein Versagen und keine Gefahr. „Als er aber den starken Wind sah, fürchtete er sich; und als er anfing zu sinken, schrie er und sprach: Herr, rette mich!“ Wie auch die Kirche versagte Petrus darin, Christus entgegen zu gehen und mit Ihm zu wandeln. Doch wie in seinem Fall so ist es auch bei uns – Christus ist treu, „welcher uns von so großem Tod errettet hat und errettet, auf welchen wir unsere Hoffnung gesetzt haben, daß er uns auch ferner erretten werde“ (2. Korinther 1,10). „Und als sie in das Schiff gestiegen waren, legte sich der Wind. Die aber in dem Schiffe waren, kamen und warfen sich vor ihm nieder und sprachen: Wahrhaftig, du bist Gottes Sohn!“ (V. 32–33). Jesus vereinigte sich wieder mit dem Überrest. Unmittelbar darauf folgte Ruhe und wurde Er als Sohn Gottes anerkannt.
Das ist jedoch nicht alles. Denn sie „kamen in das Land Genezareth. Und als die Männer jenen Ortes ihn erkannten, schickten sie in jene ganze Umgegend und brachten alle Leidenden zu ihm; und sie baten ihn, daß sie nur die Quaste seines Kleides anrühren dürften; und so viele ihn anrührten, wurden völlig geheilt“ (V. 34–36). Der Herr wird nun voller Freude dort aufgenommen, wo Er vorher verworfen wurde (Matthäus 8,34). Dies ist ein Vorschatten von der Segnung und Heilung einer elenden und seufzenden Welt als Folge Seiner Rückkehr in anerkannter Macht und Herrlichkeit.