Der Brief an die Philipper
Kapitel 1
Schon die ersten zwei Verse dieses Kapitels geben uns Klarheit über die Eigenart des Briefes: „Paulus und Timotheus, Knechte von Jesus Christus, allen Heiligen in Christus Jesus, die in Philippi sind, mit den Aufsehern und Dienern: Gnade euch und Friede von Gott, unserm Vater, und dem Herrn Jesus Christus!“ (Verse 2). In der Mehrzahl seiner Briefe, selbst wo Paulus sich der Gemeinde als Knecht von Jesus Christus vorstellt, erwähnt er sein Amt als Apostel (Römer 1,5) und macht einen deutlichen Unterschied zwischen sich als Apostel und den Brüdern, die mit ihm wirksam waren. Im Brief an die Römer schreibt er: „Paulus, Knecht von Jesus Christus, berufener Apostel“, im ersten Brief an die Korinther: „Paulus, berufener Apostel von Jesus Christus durch Gottes Willen, und Sosthenes, der Bruder“ auch im zweiten Brief an die Korinther und in den Briefen an die Galater, Epheser, Kolosser, an Timotheus und Titus nimmt er Bezug auf seine Stellung als Apostel. Der Grund hierfür ist, dass er in allen diesen Briefen mit apostolischer Macht an die Gemeinde und an einzelne Personen gelangt, sei es, um ihnen die Wahrheit, die Gott ihm anvertraut hatte, zu offenbaren, sei es, um ihnen die Gebote Gottes betreffs Ordnung, Einrichtung und Zucht in der Gemeinde zu vermitteln. Im Brief an die Philipper ist dies nicht der Fall. Der Zweck dieses Briefes ist nicht die Offenbarung der Grundwahrheiten des Christentums oder der Ordnung in der Gemeinde, sondern die Darstellung des himmlisch gesinnten Wandels eines Christen. Darum stellt sich Paulus hier nicht als Apostel, sondern einfach als Knecht von Jesus Christus vor, denn als Knechte standen die Philipper auf demselben Boden mit ihm. Er schreibt denn auch nicht allein in seinem Namen, sondern auch im Namen des Timotheus, und zwar ohne sich hier, wie im zweiten Brief an die Korinther, dem Stand nach von ihm zu unterscheiden. Hier schreibt er „Paulus und Timotheus, Knechte von Jesus Christus“, dort „Paulus, Apostel von Jesus Christus durch Gottes Willen, und Timotheus, der Bruder“. Der Unterschied ist auffallend und gibt, wie bereits bemerkt, das Gepräge dieses Briefes an. Dieses Gepräge ergibt sich auch aus der Art, in der Paulus die Gläubigen anredet. Er schreibt nicht, wie in andern Briefen: „Der Versammlung Gottes, die in Philippi ist“, sondern einfach: „allen Heiligen in Christus Jesus, die in Philippi sind“, woraus wir deutlich erkennen können, dass er nicht darüber berichtet, was die Gemeinde des Christus als solche betrifft, sondern über das, was jeder Heilige persönlich nötig hat.
Noch eine andere Besonderheit in diesen beiden Versen erheischt unsere Aufmerksamkeit. Paulus schreibt nicht nur an alle Heiligen zu Philippi, sondern auch ausdrücklich an die Aufseher und Diener. Der Brief an die Philipper ist der einzige, in dem er das tut. Das ist sicher sehr merkwürdig. Weder im Brief an die Römer, noch in denen an die Korinther, Kolosser und Epheser finden wir Aufseher oder Älteste (das sind zwei Wörter für ein und dasselbe Amt, siehe Titus 1,5–9) und Diener in der Anrede erwähnt. Wenn der Apostel den Weg zur Seligkeit verkündigt, wenn er die Verführer widerlegt und vor ihnen warnt, oder wenn er die Verkehrtheiten und Sünden der Gläubigen straft und auf die Ausübung der Zucht dringt, dann wendet er sich nicht an die Ältesten und Diener, sondern an die Versammlung. Für alle diese Dinge ist die Versammlung als solche verantwortlich und keineswegs die Ältesten allein. Die Versammlung und nicht der Älteste muss ausschließen und wieder aufnehmen, die Versammlung muss sich von den falschen Lehren absondern. Die Ältesten oder Aufseher waren eingesetzt, um über die Herde zu wachen und sie zu weiden, und dazu gehörte auch, dass sie die Gläubigen vor verkehrten Lehren warnten und sie vor deren schlechtem Einfluss zu bewahren suchten (Apg 20,28–31). Aber für Ordnung und Zucht ist die Versammlung verantwortlich; es gehört dies keineswegs zum Amt eines Ältesten. Von daher rührt, dass der Apostel in diesem Brief, in dem er über den christlichen Wandel spricht, sich sowohl an die Aufseher, als auch an alle Heiligen wendet, weil die Aufseher und Diener über den Wandel der Gläubigen zu wachen hatten. Aus dem, was Paulus betreffs der Aufseher und Diener in seinen Briefen an Timotheus und Titus schreibt, geht am deutlichsten hervor, dass ihr Amt in Verbindung stand mit dem Wandel der Gläubigen und keineswegs mit der Lehre und der Zucht in der Gemeinde. Überdies lesen wir in 1. Timotheus 5,17: „Die Ältesten, welche wohl vorstehen, lass doppelter Ehre würdig geachtet werden, sonderlich die da arbeiten in Wort und Lehre“, hieraus folgt, dass ein Ältester wohl in Wort und Lehre arbeiten konnte, wenn er dazu die Gabe vom Herrn empfangen hatte, aber dass dies keineswegs zu seinem Amt als Ältester gehörte. Hatte er neben seinem Amt als Ältester auch noch die Gabe zu predigen und zu lehren, dann musste er doppelter Ehre würdig geachtet werden. 1
Diese Bemerkungen sind von großer Wichtigkeit für die Gläubigen in unsern Tagen, weil die Gemeinde des Christus heute in viele Parteien und Sekten zerteilt ist. Gott gab in den Tagen der Apostel Älteste der Versammlung Christi an gewissen Orten z. B. der Versammlung in Jerusalem, in Ephesus usw. Jetzt ist die Gemeinde des Christus nicht mehr an einem Ort versammelt, denn überall sind die Gläubigen in verschiedene Parteien und Sekten aufgeteilt und kommen an verschiedenen Orten zusammen. Wenn nun Gott einer der Parteien Älteste gäbe, würde Er damit sagen: Das ist die Versammlung des Christus an diesem Platz. Dies ist aber unmöglich, weil alle zusammen den einen Leib ausmachen. Gott kann unmöglich einzelne Parteien oder Kirchengenossenschaften als Gemeinde anerkennen, weil Er selber sagt, dass alles dies fleischlich ist (1. Kor 3,3.4). Die Menschen mögen nach ihrem Gutfinden Älteste anstellen, und dann behaupten, dass sie von Gott seien, aber deswegen sind sie doch keineswegs von Gott. Stellt euch vor, ich wohne in einer Stadt, wo nebeneinander alle möglichen Gemeinden bestehen, von denen jede ihre Ältesten hätte und jede würde behaupten, dass ihre Ältesten von Gott seien; welchen Ältesten muss ich dann anerkennen? Zudem reden diese Männer ganz verschiedene Dinge, ja häufig das Entgegengesetzte, der eine sagt dies, der andere das; was muss ich nun tun? Wem muss ich gehorchen? Wird uns nicht klar, dass dies lauter menschliche Anmaßung ist, und dass die Christenheit durch ihre Vereinigung mit der Welt und ihre Zersplitterung in allerlei Parteien vom einfältigen Gehorsam der ersten Gemeinde abgekommen ist? Nun, zufolge der Untreue der Gläubigen gibt Gott keine Ältesten mehr; das will heißen, Er gibt niemandem das Amt eines Ältesten; wohl ist es möglich, dass Er Brüder erweckt, die das Werk eines Ältesten verrichten, ohne indes das Amt eines Ältesten zu besitzen. Da nun der Zustand der Christenheit also ist, erkennen wir, von welcher Bedeutung die oben gemachten Bemerkungen für die Gläubigen sind. Und obschon wir wegen der Untreue der Christenheit viel entbehren müssen, und es uns nicht erlaubt ist eigenmächtig und ohne biblische Grundlage vorzugehen, finden wir doch in den Briefen des Paulus die Anweisung, wie es uns als Gläubigen zu handeln geziemt.
Bevor Paulus in Vers 12 mit den eigentlichen Mitteilungen beginnt, lässt er sein Herz überfließen in innigem Dank gegen Gott für den guten Zustand, in dem die Philipper waren. „Ich danke meinem Gott bei aller meiner Erinnerung an euch allezeit in jedem meiner Gebete, indem ich für euch alle das Gebet mit Freuden tue, wegen eurer Teilnahme an dem Evangelium vom ersten Tag an bis jetzt“ (Verse 3–5). Welch ein gutes Zeugnis über die Philipper! Paulus kann Gott allezeit danken, nicht allein weil sie das Evangelium angenommen hatten, sondern weil sie fortdauernd an dem Evangelium teilnahmen, vom ersten Tag an bis jetzt. Ihr Wandel entsprach ihrem Bekenntnis, so dass Paulus, indem er für sie betete, sein Gebet allezeit mit Freuden tun konnte. Wurden die Philipper nicht hochmütig ob solch einem Zeugnis? So fragen wir, und wir nehmen uns meistens so sehr in Acht, jemanden zu loben, und wenn wir loben, tun wir es oft auf eine verkehrte Weise. Dies ist ein Beweis, dass wir die Gnade noch wenig verstehen. Paulus rühmt den guten Zustand, in dem die Philipper waren; doch wessen ist die Ehre? Gott allein. „Ich danke Gott“, sagt er. Wenn wir so den Gläubigen ein Lob aussprechen, dann wird nicht Hochmut, sondern ein tieferes Gefühl von Gottes unendlicher Gnade die Folge sein. Und, geliebte Brüder, wie steht es mit uns? Könnte uns der Apostel auch ein solches Zeugnis geben? Könnte er Gott danken für unsere Teilnahme an dem Evangelium, vom ersten Tag an bis jetzt? Oder lasst mich lieber fragen – denn Paulus ist jetzt beim Herrn – kann uns der Herr Jesus ein solches Zeugnis geben? Wie schön wäre es, wenn diese Frage bejahend beantwortet werden könnte!
Sind die Worte des Apostels nicht ein schönes Zeugnis von der Treue und Hingabe der Philipper an das Evangelium? Sind sie nicht zugleich ein treffender Beweis seiner großen Liebe für die Versammlung? „Allezeit in jedem meiner Gebete, indem ich für euch alle das Gebet mit Freuden tue.“ Ermunternde Worte! Paulus betete unaufhörlich für die Philipper; in keinem seiner Gebete vergaß er sie; allezeit waren sie in seinen Gedanken; stets befahl er sie Gott an. Und dies tat er für alle, er bat nicht allein für die, mit denen er am innigsten Gemeinschaft pflegte; nein, er bat für alle, niemand wurde von ihm vergessen, der Schwächste so wenig wie der Stärkste. Das ist wahre göttliche Liebe. Sie umfasst alle Heiligen. Und Paulus tat das Gebet nicht mit Seufzen, weil er es tun musste, oder weil er es sich zur Pflicht gemacht hatte; nein, er tat es mit Freuden. Als er das erste Mal zu den Philippern gekommen war, hatte er ihnen mit Freuden das Evangelium verkündigt und im Gefängnis mit Silas Loblieder gesungen; und nun, in Rom gefangen und bereits eine geraume Zeit von ihnen abwesend, hatte er sie nicht vergessen, sondern verharrte für sie alle mit Freuden im Gebet. Welche Liebe! Wahrlich, Paulus war ein treuer Nachfolger Jesu! Welch ein Trost für die Philipper, dass solch ein Mann für sie einstand. Und welch ein Trost für uns, dass Einer ist, größer als Paulus, der für uns unaufhörlich bittet. Paulus ist fortgegangen, Jesus bleibt allezeit; ja, Jesus lebt. Nie sind wir einen Augenblick von Ihm vergessen; Er trägt uns jederzeit auf Seinem Herzen und bringt unsere Bedürfnisse und Nöte vor den Vater.
„Indem ich eben dessen in guter Zuversicht bin“, fährt Paulus fort, „dass Der, welcher ein gutes Werk in euch angefangen bat, es vollführen wird bis auf den Tag des Jesus Christus“ (Vers 6). Der Apostel hatte das Werk Gottes in den Philippern gesehen; die Früchte, die sie brachten, ließen deutlich ihren guten Herzenszustand erkennen, darum vertraute er, dass das in ihnen begonnene Werk vollendet werde. Dies ist sehr bemerkenswert. Im 1.Brief an die Korinther ist die Treue Gottes der Grund seines Vertrauens. Unter den Galatern wurden verkehrte Lehren verkündigt; deshalb ist Paulus im Zweifel über sie, bis er an Christus denkt; und dann hofft er, dass sie trotz allem des Herrn Eigentum seien. Hinsichtlich der Philipper ist es ganz anders. Des Apostels Vertrauen ist hier nicht allein durch die Treue und Ratschlüsse Gottes begründet, sondern durch das, was er an diesen Gläubigen von Christus sah. An ihr christliches Leben denkend, konnte er das Werk Gottes in ihnen erblicken. Er sah eine solch ununterbrochene Gemeinschaft mit Christus, solch eine Liebe zu Gott bei ihnen, dass sein Vertrauen sich nicht allein auf das stützte, was sie in Christus waren, sondern auch auf das, was durch den Heiligen Geist in ihnen gewirkt war. Welch ein treffender Beweis ihres guten Zustandes! Auch wenn ein Christ weltlich gesinnt ist oder fleischlich wandelt, kann ich mich auf Gott verlassen, der in Seiner Treue ihn wieder zurechtbringen wird; aber wieviel mehr wird mein Vertrauen gestärkt, wenn ich die schönen Früchte sehe, die das Werk der Gnade Gottes hervorgebracht hat.
Die Worte des Apostels können zugleich ein großer Trost sein für uns, die wir weder berufene noch ins Amt gesetzte Älteste und Diener haben, wie die Philipper. Wiewohl wir durch die Untreue und Sünden der Gemeinde – ja durch unsere Untreue und unsere Sünden – vieler Hilfskräfte beraubt sind, bleibt Gott dennoch Derselbe; Er kann uns nicht genommen werden; und Er ist der Geber aller guten Gaben. Was uns auch fehlen mag, wir können auf Gott vertrauen, der das gute Werk, das Er begonnen hat, vollführen wird bis auf den Tag des Jesus Christus.
Die zwei folgenden Verse liefern uns einen herrlichen Beweis für die innige Gemeinschaft und Liebe, die zwischen Paulus und den Philippern bestand. „Wie es für mich recht ist, dass ich dies über euch alle denke, weil ihr mich im Herzen habt, und sowohl in meinen Fesseln als auch in der Verteidigung und Bestätigung des Evangeliums ihr alle meine Mitteilnehmer der Gnade seid“ (Vers 7). Und in Vers 8 sagt Paulus von sich selber: „Denn Gott ist mein Zeuge, wie ich mich nach euch allen sehne mit dem Herzen des Jesus Christus“. Welch inniges Band der Liebe! Welch innige Gemeinschaft des Geistes! Die Philipper behielten Paulus in ihrem Herzen. Obschon er schon lange fern von ihnen war, hatten sie ihn nicht vergessen; nein! sie blieben in inniger Liebe mit ihm verbunden. Wiewohl er im Gefängnis in Rom saß, schämten sie sich seiner nicht; nein, sie rechneten es sich als eine Ehre an, mit diesem Mann, der um des Evangeliums willen litt, Gemeinschaft zu haben. Sie hatten sogar an seinen Fesseln und seiner Drangsal teilgenommen. Auf welche Weise? Sie hatten ihm etwas zu seiner Notdurft gesandt. Wie schön ist das! Teilnehmend an den Leiden und der Bedrängnis des Dieners des Herrn wurden sie besonderer Gnade mitteilhaftig. Und wie lange Paulus auch von den Philippern entfernt war, so hatte er sie doch nicht vergessen; wiewohl gefangen in Rom und allerlei Leiden unterworfen, wodurch er so leicht mit sich selber hätte beschäftigt sein können, denkt er an sie, trägt sie auf seinem Herzen, ja, verlangt nach ihnen mit dem Herzen des Jesus Christus. Wer wird daran zweifeln, dass das Herz des Herrn Jesus nach uns verlangt? Welch ein Trost für uns! Obschon erhöht zur Rechten Gottes, vergisst Er uns ebenso wenig, als Er während Seinen schwersten Leiden hier auf Erden Seine Jünger vergaß. Welch einen Herrn haben wir! In welchen Umständen Er sich auch befinden mag, im Leiden auf Erden oder zur Rechten des Vaters im Himmel, Er vergisst die Seinen nie. Und mit diesem Herzen des Jesus Christus sehnte sich Paulus nach den Philippern. „Wie kann das sein!“ rufen wir aus. „Gott ist mein Zeuge“, sagt er, denn er redete die Wahrheit. O, welche Liebe vermag Gott in den Seinen zu wirken!
Die Liebe Gottes war also in den Philippern reichlich wirksam; die herrlichen Früchte davon waren offenbar. Dennoch begnügte sich der Apostel damit nicht. O nein! Er wünscht, dass sie mehr und mehr in der Liebe zunehmen sollten. Nichts ist natürlicher als das. Wenn wir uns mit andern Menschen vergleichen, dann werden wir vielleicht sagen: „wir lieben mehr als sie“, aber sobald wir unsere Liebe mit der Liebe Gottes vergleichen, sehen wir einen gewaltigen Unterschied. Diese Liebe ist ohne Ende, sie ist Gottes Natur – Gott ist Liebe – und darum ist sie unendlich, gleichwie Gott selber unendlich ist. Und in dieser Liebe werden wir uns bis in alle Ewigkeit erfreuen, ohne sie je erschöpfen zu können. Darum betete Paulus auch für die Philipper, dass ihre Liebe überströmen möchte. „Und um dieses bete ich, dass eure Liebe noch mehr und mehr überströme in Erkenntnis und aller Einsicht, damit ihr prüfen mögt, was das Vorzüglichere sei, dass ihr lauter und unanstößig seid auf den Tag des Christus, erfüllt mit der Frucht der Gerechtigkeit, die durch Jesus Christus ist, zur Herrlichkeit und zum Preise Gottes“ (Verse 9–11). Erkenntnis ohne Liebe bläht auf; aber wo Liebe ist, da ist ein Verlangen nach Erkenntnis und Einsicht hinsichtlich der Wege und Gedanken Gottes. Je mehr unser Herz mit Gottes Liebe erfüllt ist, desto mehr werden wir begierig sein, Gott und Seine herrlichen Ratschlüsse kennen zu lernen. Wir werden in allen Dingen unterscheiden können, was das Beste, was das Gott Wohlgefällige ist, so dass wir lauter und ohne Anstoß sind auf den Tag des Christus. Sicherlich straucheln wir zuweilen und müssen beständig unsere Verkehrtheiten und Abirrungen bekennen; aber soweit wir in der Gemeinschaft mit Gott wandeln und Seine Liebe in uns wirksam ist, werden wir lauter und unanstößig sein. Dies muss stets vor unsern Augen stehen, und je mehr wir Gemeinschaft pflegen mit Gott, desto mehr werden wir erfüllt sein mit der Frucht der Gerechtigkeit, die durch Jesus Christus ist, zur Herrlichkeit und zum Lobe Gottes.
Nach dieser Einleitung beginnt der Apostel über seine Erlebnisse in Rom zu sprechen. Scheinbar hatte der Teufel durch die Gefangennahme des Paulus einen großen Sieg davongetragen, aber durch die Kraft Gottes, der alle Dinge leitet, und der in Paulus wirksam war, hatten die Listen des Teufels zur Förderung des Evangeliums gedient. Zwei Dinge wurden dadurch bewirkt. Erstens hatte die Gefangennahme von Paulus ermöglicht, das Evangelium im Prätorium bekanntwerden zu lassen, wo es sonst nicht gehört worden wäre (Verse 12, 13). Das Prätorium war außer Untersuchungsgefängnis Kaserne der kaiserlichen Leibgarde. Viele Soldaten dieser Leibgarde hatten Paulus bewacht und seine Predigt gehört (Apg 28). Und zweitens hatten viele Brüder, indem sie durch seine Bande Vertrauen in den Herrn bekamen, desto mehr gewagt, das Wort furchtlos zu verkündigen (Vers 14). Wenn der Glaube nicht erschüttert wird, ist dies immer der Fall. Wird ein gesegneter Arbeiter vom Schauplatz seiner Wirksamkeit weggenommen, dann werden die andern – wenn nämlich ihr Glaube nicht erschüttert ist – desto eifriger und reichlicher das Wort Gottes verkündigen. Die Energie des Glaubens wird sie dazu anspornen.
Doch die Abwesenheit des Apostels hatte auch zu anderen und zwar traurigen Dingen Anlass gegeben. Einige, die, solange der Apostel anwesend war, ohne Kraft waren und nicht hervortraten, benützten seine Abwesenheit, um ebenfalls das Evangelium zu predigen. Eifersüchtig auf die Gaben von Paulus, trachteten sie, da er nun gefangen saß, durch ihre Predigt zu glänzen und Einfluss auszuüben und dadurch das Ansehen des Apostels zu untergraben und seinen Einfluss abzuschwächen. Sie predigten also wohl das wahre Evangelium, aber der Beweggrund war nicht die Liebe des Christus, sondern der Neid. Unlautere Absichten waren die Triebfeder ihrer Predigt. Sich selber an den Platz des Apostels zu drängen, war das geheime Ziel ihrer Predigt, Liebe zu den Seelen war der Vorwand. „Wird doch auf alle Weise, sei es aus Vorwand oder Wahrheit, Christus verkündigt“ (Vers 18). Die Folge davon war, dass der Apostel bei den Banden, die er um Christus willen trug, noch innerliche Mühe und Besorgnis hatte. Diese Menschen trachteten darnach, „seinen Banden Trübsal zu erwecken“. Doch der Apostel war durch die Gnade Gottes darüber erhaben. Sich selber ganz vergessend, dachte er allein an die Förderung des Evangeliums; mochte dann auch das Evangelium durch Menschen mit unlauteren Absichten, unter einem Vorwand gepredigt werden, um seinen Ketten Trübsal zu bringen, so freute er sich dennoch, weil auf diese Art doch das Evangelium gepredigt und Christus bekannt gemacht wurde.
Es handelt sich hier also nicht um die Predigt eines verkehrten Evangeliums, wie man etwa denkt, sondern um das Predigen des echten Evangeliums mit unlauteren Absichten. Dies ergibt sich deutlich aus dem Zusammenhang. Paulus sagt: „Etliche zwar predigen Christus auch aus Neid und Streit, etliche aber auch aus gutem Willen“ (Vers 15). Hieraus folgt, dass er nicht über das, was sie verkündigten schreibt, sondern über den Zustand der Herzen derer, die solches taten. Einige taten es aus Liebe, weil sie wussten, dass Paulus zur Verantwortung des Evangeliums gesetzt und nun außerstande war zu predigen, sie setzten so das durch ihn begonnene Werk fort. Andere wirkten aus Neid und Streit, indem sie sich selbst suchten, anstatt das Heil der Seelen. Beachten wir den Unterschied zwischen den Worten, die der Apostel hier gebraucht und der Art, wie er über die falschen Lehrer spricht: „Ich wollte, dass sie sich auch abschnitten, die euch aufwiegeln!“ sagt er zu den Galatern (Kap. 5,12); und in unserm Brief nennt er die gesetzlich gesinnten Lehrer Hunde und böse Arbeiter (Kap. 3,2), ja, er sagt sogar: „Verflucht ist ein jeder, der euch ein anderes Evangelium verkündigt“ (Gal 1,8.9). Hier dagegen: „Wird doch auf alle Weise, sei es aus Vorwand oder in Wahrheit, Christus verkündigt, und darüber freue ich mich, ja, ich werde mich auch freuen“ (Vers 18). Das ist sicher eine große Verschiedenheit. Ist die Rede von einem andern Evangelium als dem von Christus, oder vom Predigen gewisser Irrtümer, dann gebraucht Paulus harte Worte, er kennt keine Schonung. Wenn es sich aber um das Predigen des Evangeliums mit unlauteren Absichten handelt, kann er sich trotzdem freuen, weil dennoch Christus verkündigt wird. Weshalb dieser Unterschied? Die Verkündigung eines andern Evangeliums, das Predigen von Irrlehren tastet die Ehre und Herrlichkeit des Christus an; Christus zu verkündigen mit unlauteren Absichten hatte wohl den Zweck, dem Apostel Trübsal zu bereiten, vermochte es jedoch nicht, weil es auf diese nur ihn persönlich betreffenden Dinge nicht eintrat. Wo es aber um die Ehre von Christus ging, war er mit glühendem Eifer erfüllt.
Welch ein Mann war Paulus! Im Gefängnis zu Rom, gefesselt zwischen zwei Kriegsknechten, ist er voll Freude über die Ausbreitung des Evangeliums. Anstatt über seine Gefangenschaft zu klagen oder unter den Leiden und Bedrückungen, die so reichlich sein Teil waren, zu seufzen, freut er sich, dass seine Gefangenschaft zur Förderung des Evangeliums gedient hat, so dass viele, die vordem außerhalb dem Bereich des Evangeliums waren, dieses nun vernommen hatten und zudem viele Brüder das Wort mit mehr Freimütigkeit redeten. Und obschon es welche gab, die sich selbst suchten, sein Ansehen untergruben, ließ er sich in seiner Freude nicht beirren. Was mit ihm geschah, und was man von ihm sagte, war ihm weniger wichtig, wenn nur Christus verherrlicht wurde. „Denn ich weiß, dass dies mir zur Seligkeit ausschlagen wird durch euer Gebet und durch Darreichung des Geistes von Jesus Christus, nach meiner sehnlichen Erwartung und Hoffnung, dass ich in nichts werde zu Schanden werden, sondern mit aller Freimütigkeit, wie allezeit, so auch jetzt Christus hoch erhoben werden wird an meinem Leib, sei es durch Leben oder durch Tod“ (Verse 19, 20). Unterstützt durch die Gebete der Heiligen und durch die Hilfe des Heiligen Geistes war Paulus, ferne davon, durch den Feind niedergeschlagen und erschreckt zu sein, des Sieges durch Christus vollkommen gewiss. Es war sein unerschütterliches Vertrauen, dass er in nichts sollte zu Schanden werden, sondern dass er allen Freimut gebrauchen und Christus an ihm verherrlicht werde, sei es durch Leben oder durch Tod. Bedenken wir wohl, dass ihm der Tod sozusagen vor den Augen stand. Wenn er vor den Kaiser gerufen wurde, konnte über ihn das Todesurteil ausgesprochen werden. Doch, was auch geschehen mochte, sein einziger Wunsch und sein unerschütterliches Vertrauen war, dass Christus an seinem Leib hoch erhoben würde.
Das Heil, worüber in Vers 19 geredet wird, bezieht sich, wie auch in Kapitel 2 und 3, auf die Zukunft. Es ist der völlige Sieg über den Feind und unsere Verherrlichung im Himmel. In Epheser 2,6 und 2. Timotheus 1,9 wird von der Seligkeit gesprochen, die wir bereits in Christus besitzen; hier von der Seligkeit, die wir empfangen sollen, wenn uns der Herr von dieser Erde in die Herrlichkeit aufnehmen wird. Beide Dinge sind für den Christen wahr. Er ist errettet durch den Glauben an Christus, und er wandelt in dieser Welt, um nach der Überwindung aller Mühen und Nöte die Seligkeit im Himmel zu empfangen. Im ersten Fall wird das Heil als die Erlösung durch das Werk des Christus gesehen, im andern ist es die Erlösung im weitesten Sinn des Wortes, welche die völlige Überwindung des Teufels und unsere Verherrlichung im Himmel in sich schließt.
„Denn das Leben ist für mich Christus, und das Sterben Gewinn“ (Vers 21). In diesen merkwürdigen Worten teilt uns der Apostel mit, was der Hauptgrundsatz seines christlichen Lebens und die Ursache seiner Gleichförmigkeit mit Christus war. Er schreibt nicht: „Christus ist mein Leben“, sondern „das Leben ist für mich Christus“. Das erstere trifft für jeden zu, der an Christus glaubt. „Wer an den Sohn glaubt, hat ewiges Leben.“ „Euer Leben ist mit Christus verborgen in Gott“. Der Besitz dieses Lebens hängt ab vom Besitz des Christus, denn „wer den Sohn hat, hat ewiges Leben“. Der schwächste sowohl wie der meistgefördertste Gläubige kann dies sagen. Nicht über diese Wahrheit schreibt Paulus hier, sondern: „Das Leben ist für mich Christus.“ Er redet nicht vom Leben, das wir alle durch den Glauben an Christus besitzen, sondern vom Zweck und Ziel seines Lebens hier auf Erden. Christus war Ausgangspunkt und Ziel seines neuen Lebens. Für Paulus bestand lediglich ein Gegenstand, mit dem er sich allezeit beschäftigte und auf den sein Blick stets gerichtet war, und dieser eine Gegenstand war Christus. Nichts besaß Wert für ihn außer Christus. Die Welt und alles, was zur Welt gehört, sowie seine Vorrechte nach dem Fleisch hatten für ihn nichts zu bedeuten. Christus war ihm teuer über alles. Ihm wohlgefällig zu sein, Ihm nachzufolgen, sich in Ihm zu verlieren, das war sein Leben; und darum war das Sterben für ihn Gewinn. Dies war für ihn nicht nur wahr im allgemeinen Sinn dieser Worte, sondern in jeder Hinsicht. Von jedem sterbenden Christen kann gesagt werden, dass das Sterben ihm Gewinn ist, weil er durch den Tod zum Herrn geht. Aber in dem Sinn, wie Paulus diese Worte hier gebraucht, bedeutet es viel mehr. Sein Herz war hienieden an nichts gebunden und wurde durch nichts entzückt als durch die Herrlichkeit des Christus, und darum war das Sterben für ihn in jeder Hinsicht Gewinn, er brauchte nichts zu verlassen und von nichts losgemacht zu werden. Herrlicher Zustand des Herzens! Und das schrieb er nicht am Beginn seiner Laufbahn, als das überströmende Maß von Jesu Gnade, die sich ihm, dem selbstgerechten Verfolger der Gemeinde, erwiesen hatte, sein Herz erfüllte, sondern am Ende seiner Laufbahn, nachdem er viele Jahre Kampf und Verfolgung, sowohl von außen wie von innen, durchlebt hatte.
Das war die persönliche Selbsthingabe des Paulus, für ihn stellte sich nicht mehr die Frage, was er wollte, und was für ihn gut und angenehm sei, sondern er fragte allein nach dem Willen des Christus und folglich nach dem Wohl der Gemeinde; denn Christus und die Versammlung sind aufs Innigste verbunden. Von dieser Einstellung gibt er uns in den folgenden Versen einen herrlichen und treffenden Beweis. „Wenn aber das Leben im Fleisch mein Los ist, das ist für mich der Mühe wert, und was ich erwählen soll, weiß ich nicht. Ich werde aber von beidem bedrängt, indem ich Lust habe, abzuscheiden und bei Christus zu sein, denn es ist weit besser das Bleiben im Fleisch aber ist nötiger um euretwillen. Und in dieser Zuversicht weiß ich, dass ich bleiben und mit und bei euch allen bleiben werde zu eurer Förderung und Freude im Glauben, dass euer Rühmen in Christus Jesus meinethalben überströme durch meine Wiederkunft zu euch“ (Verse 22–26). Welch ein Vergessen seiner selbst! Zu sterben war für ihn Gewinn, denn dann würde er, erlöst von Mühe, Kampf und Unterdrückung, für immer bei Christus sein, und das wäre für ihn weitaus das Beste. Doch für die Versammlung war seine Gegenwart nötiger, und er hielt es der Mühe wert, im Fleisch auszuharren, war doch das Leben für ihn Christus. Er wurde also von zwei Begierden bedrängt. Erlöst zu werden und bei Christus zu sein, oder hier zu bleiben im Fleisch und seinen Dienst fortzusetzen. Das erste war besser für ihn, das letztere war notwendig für die Heiligen. Und was erwählt er? Er erwählt zu bleiben. „Ich weiß, dass ich bleiben werde zu eurer Förderung und Freude im Glauben.“ Sein eigenes Interesse verschwand gänzlich; nur das Wohl der Versammlung lag ihm am Herzen. Welch eine Selbstverleugnung! Es handelte sich für ihn nicht um Dinge der Welt, um Vorteil oder Genuss, sondern um das Verlangen, bei Christus zu sein, das Gott so gerne in unsern Herzen findet. Und doch verzichtet Paulus auf diesen Wunsch und erwählt, hier zu bleiben, um der Versammlung zu dienen. Er war wirklich ein Nachfolger des Herrn Jesus. Er gab sozusagen seine eigenen Vorrechte preis für das Wohl der Gemeinde. Christus liebte die Versammlung und hatte sich selber für sie hingegeben, und Paulus tat desgleichen. Er dachte nicht an sich, sogar in dieser Sache nicht, wo sein Verlangen völlig rechtmäßig und Gott wohlgefällig war. Und wodurch war er zu solch einer Selbstverleugnung imstande? Weil das Leben für ihn Christus war. O, möchten auch wir durch diesen herrlichen Grundsatz geleitet werden! Möchte Christus allezeit unser einzig erstrebenswertes Ziel sein!
Das ist der Wunsch des Paulus für die Philipper. Er ermahnt sie, dass sie würdig des Evangeliums von Christus wandeln sollten. Da Christus die Versammlung so unaussprechlich liebt, war es der Wunsch des Apostels, dass die Gemeinde für Christus das sei, was sich für sie geziemte. Und im Hinblick auf sie waren es vor allem zwei Dinge, die ihn beschäftigten, sei es, dass er kam und sie sah, oder dass er abwesend blieb, erstens, dass sie in einem Geist feststehen möchten, mit einer Seele mitkämpfend mit dem Glauben des Evangeliums, und zweitens, dass sie im Kampf mit dem Feind ohne Furcht sein möchten (Verse 27. 28). Beide Dinge sind das Zeugnis der Gegenwart und Wirksamkeit des Heiligen Geistes in der Gemeinde. Die Herrschaft und Kraft des Heiligen Geistes lässt die Gläubigen festhalten an der Wahrheit und mitkämpfen am Evangelium. Der Glaube an das Evangelium wird hier gleichsam als streitbare Person dargestellt, die sich vor den Widersachern nicht zu fürchten hat. Da Gott mit den Seinen ist, verschwindet die Furcht, die der Teufel und seine Helfershelfer ihnen einflößen könnten.
Findet sich dieses Mitkämpfen am Evangelium in der Versammlung Gottes, dann ist dies ein deutlicher Beweis für die Errettung der Einzelnen, d. h. für die völlige und endgültige Erlösung aus der Macht Satans, da sie durch die Gegenwart und. die Kraft Gottes keine Furcht empfinden im Streit gegen den Feind. Für die Widersacher hingegen ist die Entdeckung ihrer Ohnmacht ein schlagender Beweis ihrer schließlichen Niederlage und ihres ewigen Verderbens. Eine furchtbare Entdeckung für die Widersacher, eine unaussprechliche Freude für die Gläubigen. Wie mächtig der Teufel auch erscheint, das Urteil über ihn ist gefällt; noch eine kurze Zeit, und der Sieg ist errungen. Es ist der Sieg Gottes. Bis dahin gehen die Gläubigen hienieden durch Leiden; aber anstatt dass dieses Leiden sie furchtsam und unglücklich macht, können sie sich dessen rühmen; „Denn euch ist es in Bezug auf Christus geschenkt worden, nicht allein an Ihn zu glauben, sondern auch für Ihn zu leiden“ (Vers 29). Kostbare Tatsache! Es ist Gnade von Gott, nicht allein an Christus zu glauben, sondern auch für Ihn zu leiden. Die Geschichte des Apostels diente dafür als Beweis. Den Kampf, den auch die Philipper zu bestehen hatten, sahen sie an Paulus, als er bei ihnen war, und spürten ihn jetzt aus seinem Brief. Im Kerker zu Philippi sang er Loblieder, und mit einem Herzen voll Freude schrieb er ihnen aus dem Gefängnis in Rom.
Fußnoten
- 1 Beachte die Notiz über die Ältesten und Diakonen in Betrachtungen über den Brief an die Epheser (http://www.bibelkommentare.de/index.php?page=comment&comment_id=74).