Der Brief an Titus
Titus 1
Die Einleitung des Briefes an Titus ist höchst belangreich und merkwürdig. „Paulus, Knecht Gottes, aber Apostel von Jesus Christus, nach dem Glauben der Auserwählten Gottes und nach der Erkenntnis der Wahrheit, die nach der Gottseligkeit ist, in der Hoffnung des ewigen Lebens, welches Gott, der nicht lügen kann, verheißen hat vor ewigen Zeiten, zu seiner Zeit aber sein Wort offenbart hat durch die Predigt, die mir anvertraut worden ist nach Befehl unseres Heiland-Gottes! Titus, meinem echten Kind nach unserem gemeinschaftlichen Glauben: Gnade und Friede von Gott, dem Vater, und Christus Jesus, unserm Heiland!“ (Verse 1–4).
In seinem Dienst ist Paulus ein Knecht Gottes und ein Apostel von Jesus Christus. Nur in diesem Brief stellt er sich so vor. In seinen Briefen an die Römer und Philippen nennt er sich einen Knecht von Jesus Christus; hier einen „Knecht Gottes“. Er war von Gott eingesetzt und von Jesus Christus berufen nach, d. h. in Bezug auf den Glauben der Auserwählten Gottes und der Erkenntnis der Wahrheit, die nach der Gottseligkeit ist, zu predigen in Übereinstimmung mit der Hoffnung des ewigen Lebens, welches Gott, der nicht lügen kann, verheißen hat vor ewigen Zeiten.
„Nach dem Glauben der Auserwählten Gottes“ ist ein merkwürdiger und bedeutungsvoller Ausdruck. Wohl kann der christliche Glaube, die christliche Heilswahrheit, als ein System angenommen werden von Tausenden, die dennoch des wahren Glaubens ermangeln. Darum spricht Paulus vom Glauben der Auserwählten. Es ist nicht die Annahme irgendeines religiösen Bekenntnisses, sondern der Glaube des Herzens, gewirkt durch die Gnade, durch die Kraft des Heiligen Geistes, was bei den Auserwählten die Freude ihrer Seele, das Licht ihres Verstandes und der Stützpunkt ihres Herzens ausmacht. Die menschliche Natur kann das weder erfassen noch begreifen. Für sie ist es eher ein Hindernis, ein Ärgernis. Und da es den Auserwählten Gemeinschaft mit Gott schenkt, ist es für den natürlichen Menschen, wenn er auch ein christliches Bekenntnis angenommen hat, unbegreiflich und kommt ihm anmaßend und unerträglich vor.
Dieser Glaube der Auserwählten Gottes, der die Seele in Gemeinschaft mit Gott bringt und ihr die Kenntnis von Gottes ewigen Ratschlüssen verleiht – von dieser göttlichen Liebe, welche die Auserwählten zu Gegenständen dieser Ratschlüsse macht – das war das Ziel des Dienstes von Paulus. Dieser Glaube brachte sie zu der Erkenntnis der Wahrheit, die nach der Gottseligkeit ist. Nicht nur zum Glauben an die Wahrheit; nicht nur zur Annahme eines Lehrsystems; sondern zur Erkenntnis der Wahrheit durch den Heiligen Geist, so dass die Seele in der Wahrheit lebt und durch die Wahrheit ernährt und dadurch befähigt wird, in Übereinstimmung mit der Gottseligkeit sich in der Welt zu offenbaren. Denn der Glaube des Herzens, die Kenntnis, welche die Seele von der Wahrheit Gottes erhalten hat, muss sich nach außen in einem Zeugnis offenbaren und in einem Wandel, der Gott verherrlicht und vor der Welt ein lebendiges Zeugnis ist.
Dieser Glaube der Auserwählten Gottes ist in Übereinstimmung mit der Hoffnung des ewigen Lebens. Kein irdisches Glück, keine zahlreiche Nachkommenschaft, keine Segnung hienieden war die Hoffnung ihrer Seele, sondern das ewige Leben, das Gott, der nicht lügen kann, vor ewigen Zeiten verheißen hat, nun aber einem jeden, der glaubt, in Christus geschenkt und durch die Predigt des Evangeliums bekannt gemacht hat. Vor ewigen Zeiten, also vor Grundlegung der Welt, hat Gott, der Vater, Seinem Sohn das ewige Leben verheißen als das Teil der Auserwählten Gottes; und dieses ewige Leben ist in Christus offenbart und uns geschenkt worden. (Siehe
Wer könnte Worte finden, um das Glück derer auszusprechen, die das ewige Leben besitzen, die Teilhaber der göttlichen Natur geworden sind. Je mehr wir darüber nachdenken, je mehr wir die Mitteilungen des Heiligen Geistes darüber erwägen, desto mehr erfüllt Bewunderung und Anbetung unsere Seele. Vor allem, wenn wir dann in der Ewigkeit hören und vernehmen werden, welche Ratschlüsse gefasst, welche Pläne vom Vater und vom Sohn gemacht worden sind, und welche Verheißungen der Vater dem Sohn gegeben hat im Blick auf das Teil der Auserwählten Gottes. Wunderbare Liebe, die nicht nur von Ewigkeit uns gedacht und uns zu Teilhabern des ewigen Lebens bestimmt hat, sondern die auch darin Gefallen fand, uns die Gedanken Seines Herzens mitzuteilen und uns in Kenntnis zu setzen über die Freude, die Ihn über unsere Glückseligkeit in Christus erfüllte!
Haben wir das begriffen, dann wird uns Gottes Wort unaussprechlich teuer; denn dieses Wort ist es, das uns die Gedanken und Beschlüsse Gottes mitteilt. Das Wort ist die Mitteilung in der Zeit von Gottes ewigen Ratschlüssen in Christus. Im Alten Testament haben wir die Vorbereitung in Vorbildern und Abschattungen, von denen Christus der Geist, der Inhalt ist; aber erst nach der Verherrlichung des Christus zur Rechten Gottes wird die Wahrheit völlig offenbart und werden Gottes Gedanken und Pläne uns in ihrer ganzen Ausdehnung mitgeteilt. „Und zu seiner Zeit hat Gott Sein Wort offenbart durch die Predigt, die mir anvertraut worden ist nach Befehlt unseres Heiland -Gottes.“ Paulus hat die Mitteilung der Ratschlüsse und Pläne Gottes in Christus durch Offenbarung direkt empfangen und auf Befehl Gottes, unseres Erlösers, durch die Predigt den Auserwählten Gottes mitgeteilt, mündlich und schriftlich, so dass diese, indem sie Seinem Wort glauben, des Besitzes des ewigen Lebens und aller Segnungen, die in Christus Jesus uns geschenkt sind, versichert sind. Sie sind dadurch zugleich imstande, die Vorbilder und Abschattungen des Alten Bundes, durch welche Gott die kommenden Güter vorgebildet hatte, die aber von den Heiligen vor uns nicht oder nur zum Teil begriffen werden konnten, zu verstehen und zu genießen.
Nach dieser denkwürdigen Einleitung kommt Paulus sofort zum Hauptzweck seines Schreibens. „Deswegen ließ ich dich in Kreta, dass du, was noch mangelte, in Ordnung bringen und in jeder Stadt Älteste anstellen möchtest, wie ich dir geboten hatte“ (Vers 5). Durch diesen Auftrag des Paulus an Titus wird die Richtigkeit unserer Bemerkungen zu
Es ist wichtig zu beachten, dass Paulus nie in seinen Briefen an die Versammlungen über Älteste schreibt und ihnen diesbezüglich keine einzige Anweisung gibt. Ebenso wenig finden wir dies in den Briefen der andern Apostel. Gott hat dafür gesorgt, dass in Seinem Wort keine einzige Anleitung dazu zu finden ist. Nur in den Briefen an einzelne Personen, die einen bestimmten Auftrag von Gott empfangen hatten, kommen diese Anweisungen vor, da niemand anders als sie ermächtigt waren, Älteste anzustellen. Weder Apollos noch Silas hatten diesen Auftrag erhalten, nur dem Titus und dem Timotheus wurde er gegeben.
Hieraus folgt, dass wir jetzt keine autorisierten Ältesten haben können2. Wo sind die Apostel oder ihre Abgesandten, die sie anstellen könnten? Wir haben beides nicht mehr. Es ist darum Anmaßung, heute Älteste zu wählen und anzustellen. Wollen wir uns nicht lieber Gottes Wort und Willen unterwerfen, und unsere Unfähigkeit und Unbefugtheit diesbezüglich anerkennen? Ja, lasst uns jeder Ältestenwahl enthalten. Man wird uns vielleicht fragen, warum der Herr jetzt keine Männer mehr erweckt – Er hätte natürlich Macht es zu tun – und sie autorisiert, um Älteste anzustellen. In diesem Fall ist unsere Antwort: Weil die Christenheit im Verfall liegt, weil der größte Teil ihrer Glieder aus ungläubigen Menschen besteht, und weil sie in allerlei Parteien und Sekten zerteilt ist. Würde der Herr bestimmte Personen als Älteste legitimieren, so würde er diesen Zustand anerkennen und die verschiedenen Trennungen rechtfertigen. Und wo die Menschen das in die Hand nehmen, was nicht ihrer Sorge anvertraut ist, da liefern sie, wie jeder Unbefangene selbst urteilen kann, ein Spottbild von dem, was Gott von einem Ältesten erwartet.
Lasst uns noch beifügen, dass wir mangels an apostolischer Macht keine benannten Ältesten haben können, dennoch durch Gottes Gnade und Güte Personen in der Versammlung finden, die den Dienst eines Ältesten verrichten. Der Herr erweckt auch jetzt Männer in unserer Mitte, die für das Wohl der Gläubigen ein Herz haben, die über die Seelen wachen und ihre Interessen vertreten; und es geziemt uns, sie um ihres Werkes und Dienstes willen mit Dankbarkeit als Gottes Gabe anzuerkennen und liebzuhaben. Auf diese Weise sorgt der Herr für unsere Bedürfnisse, und auf sie trifft zu, was Paulus in
Wie wir früher bereits bemerkten, sehen wir hier, dass „Ältester“ (presbyteros) und „Aufseher“ (episkopos), woher das Wort „Bischof“ abgeleitet ist, ein und dasselbe Amt ist. Paulus hat Titus auf Kreta gelassen, um in jeder Stadt „Älteste“ anzustellen, und gibt dann an, wie die Ältesten sein sollen, während er weiter sagt: „Denn der Aufseher muss untadelig sein.“
Was der Apostel hier in Bezug auf die Eigenschaften, die ein Ältester haben soll, sagt, stimmt beinahe wörtlich überein mit dem, was er in seinem ersten Brief an Timotheus gesagt hatte, und wir werden uns also hier nicht weiter dabei aufhalten. Aber man beachte, dass er hier hinzufügt, dass ein Ältester rein sein soll in der Lehre und zugleich tüchtig, um dieser Lehre entsprechend zu ermahnen. „Anhangend dem zuverlässigen Wort nach der Lehre, damit er fähig sei, sowohl mit der gesunden Lehre zu ermahnen, als auch die Widersprechenden zu überführen“ (Vers 9). Er sagt das im Blick auf den Zustand der Versammlungen auf Kreta. Es waren dort, wie an anderen Orten, „viele zügellose Schwätzer und Betrüger, besonders die aus der Beschneidung“. Es war nötig, diesen das Maul zu stopfen, da sie „ganze Häuser umkehren, indem sie um schändlichen Gewinnes willen lehren, was sich nicht geziemt“ (Verse 10–11). Auf listige Weise machten sie Gebrauch vom Volkscharakter der Kreter. „Einer aus ihnen, ihr eigener Prophet, hat gesagt: Die Kreter sind immer Lügner, böse, wilde Tiere, faule Bäuche, und dieses Zeugnis ist wahr“ (Vers 12), sagt Paulus. Es ist klar, dass diese verkehrten Lehrer von den schlechten Eigenschaften der Kreter Gebrauch machten, um dadurch ihren Irrtümern und schlimmen Praktiken Eingang zu verschaffen. Es ist doch eine allgemeine Erfahrung, dass der Volkscharakter auch auf den Christen einen Einfluss ausübt und dass es manchmal geraume Zeit dauert, ehe das sittliche Bewusstsein so weit entwickelt ist, dass die Begriffe, die man von jung an eingesogen hat, verurteilt und die Untugenden, die man angenommen hatte, verabscheut werden. Der Feind unserer Seele weiß mit viel Geschicklichkeit von dem allem Gebrauch zu machen und dem Zeugnis für Christus sehr zu schaden. „Um dieser Ursache willen“, so ruft Paulus dem Titus zu, „um dieser Ursache willen weise sie streng zurecht, dass sie gesund seien im Glauben und nicht achten auf jüdische Fabeln und Gebote von Menschen, die sich von der Wahrheit abwenden“ (Verse 13–14).
Jüdische Fabeln und Gebote von Menschen sind von Anfang an eine große Plage für die Versammlung Gottes: gewesen. Sie erregen Gott zur Eifersucht, da sie den Menschen erheben und Gottes Gnade verdunkeln. Einige Dinge halten sie für unrein, andere verbieten sie einfach, weil sie sie verbieten wollen, doch dem Herrn wird dadurch nicht gedient; Er macht Anspruch auf das Herz und auf die völlige Hingabe unserer Person. „Den Reinen ist alles rein“, sagt Paulus, „den Befleckten aber und Ungläubigen ist nichts rein, sondern befleckt ist sowohl ihre Gesinnung als auch ihr Gewissen“ (Vers 15). Für solche ist es nicht nötig, etwas Unreines außerhalb sich selber zu suchen; alles was in ihnen ist, ihr Verstand und ihr Gewissen, sind befleckt. Essen sie auch mit gewaschenen Händen und aus reinen Schüsseln, verwerfen sie auch allerlei Speisen, die Gott zum Gebrauch für Seine Kinder geschaffen hat; aus ihren Herzen kommt allerlei Böses hervor, wodurch sie sich stets verunreinigen. Alle diese Fabeln und Gebote von Menschen dienen nur dazu, sie vergessen zu lassen, was in ihren eigenen Herzen wohnt, und sie in den Wahn zu versetzen, besser zu sein als andere. „Sie geben vor, Gott zu kennen, aber in den Werken verleugnen sie Ihn und sind abscheulich und ungehorsam und zu jedem guten Werk unbewährt“ (Vers 16).
Denken wir ernstlich darüber nach, was der Apostel hier lehrt? Nur die wahre christliche Freiheit führt zu einem heiligen, Gott würdigen Wandel; zu einer gänzlichen Hingabe aller unserer Kräfte und Gaben an Ihn, der uns lieb hat, der uns loskaufte und der uns in Gemeinschaft mit sich selbst brachte, niemals aber gesetzliche Kasteiung. Böse Menschen haben die Freiheit zu einer Ursache für das Fleisch missbraucht; doch, wenn man, um dem zu entgehen, die Zuflucht zum Gesetz und zu allerlei Geboten von Menschen nimmt, dann verunehrt man die herrliche Freiheit, zu der uns Christus freigemacht hat und geht, vielleicht in der besten Meinung, am Ziel vorbei. Das Gesetz kann doch nur Zorn hervorbringen, es bringt uns unter den Fluch, kann kein Leben und also auch keine Kraft schenken. Das Werk des Geistes wird gebannt, aber wo der Geist des Herrn ist, da ist Freiheit in jeder Hinsicht; da ist die Freude und der Genuss der herrlichen Stellung, in die wir vor Gott gebracht sind, und die Fähigkeit, nach Gottes Wort und Gedanken zu wandeln. Alles, was zum Leben und zur Gottseligkeit gehört, ist uns geschenkt durch die Erkenntnis Dessen, „der uns berufen hat durch Herrlichkeit und Tugend“ (
Fußnoten
- 1 Siehe unter dem Kommentar zu 1. Timotheus 3.
- 2 R. Brockhaus schreibt darüber: „Hat nach dem Heimgang der Apostel und. ihrer Bevollmächtigten das Amt der Ältesten aufgehört, und sind wir des gesegneten Dienstes solcher Männer für immer beraubt? Keineswegs! Gottes liebende Sorge für Sein Volk hört niemals auf. Der Herr denkt an die Bedürfnisse Seiner Herde auch in den schwierigsten Zeiten und kommt ihnen entgegen. Es gibt – Sein Name sei dafür gepriesen! – noch viele Männer, die von Ihm zu Ältesten und Aufsehern bestimmt sind, obwohl es keine Apostel mehr gibt, um sie zu wählen und einzusetzen. Man kann kaum einen Blick in irgendeine Versammlung von Kindern Gottes werfen, ohne von dem einen oder andern würdigen Bruder zu hören, der den Irrenden nachgeht, die Unordentlichen zurechtweist, die Kleinmütigen tröstet, den Schwachen aufhilft, mit einem Wort: der da ermahnt, warnt und Aufsicht übt. Und was ist die Pflicht der Gläubigen solchen Männern gegenüber, auch wenn sie nicht, wie im Anfang, förmlich angestellt sind? Sie um ihres Dienstes willen zu schätzen, sie zu heben und ihnen unterwürfig zu sein als solchen, die der Geist Gottes gegeben und gesehen hat, um über die Seelen ihrer Geschwister im Herrn zu wachen. Man braucht sie nicht Älteste zu nennen, sie nicht zu wählen und anzustellen, um so die demütigende Tatsache möglichst zu verdecken, dass heutzutage in der Christenheit alles im Verfall liegt und in Unordnung ist. Nein, lasst uns lieber diesen Verfall und seine Folgen bereitwillig anerkennen und uns dementsprechend vor Gott und Menschen verhalten! Der Herr wird uns in Seiner Gnade zu Hilfe kommen, und wir werden erfahren, dass Er für Seine kleine schwache Herde sorgt, auch wenn so vieles fehlt, was einst das Zeugnis zierte.“