Der Brief an die Galater
Galater 5
„Für die Freiheit hat Christus uns freigemacht; steht nun fest und lasst euch nicht wiederum unter einem Joch der Knechtschaft halten“ (Vers 1). Durch das Werk des Christus ist der Gläubige freigemacht, sowohl von der Sünde als auch vom Gesetz. Unter dem Joch des Gesetzes war der Mensch unter dem Fluch, da er in seiner eigenen Verantwortlichkeit vor Gott stand; wenn er also zum Gesetz zurückkehrte, stellte er sich wiederum unter den Fluch. Darum ermahnt der Apostel so ernstlich: „Steht nun fest!“
Die Galater wollten, wie wir bereits früher sahen, das Gesetz wieder einführen. Es mochte vielleicht einen Schein von Rechtfertigung dafür geben. Man konnte auf folgende Weise argumentieren: Gott selber hat die Beschneidung eingeführt; nicht nur in Israel, sondern schon vor dem Gesetz hat Er sie auf das Bestimmteste befohlen; und sie verbindet ja, als ein sichtbares Zeichen, die Gläubigen mit Abraham, Isaak und Jakob. Warum sollten wir dann nicht beibehalten, was Gott Abraham und seinen Nachkommen so ausdrücklich befohlen hat und was die Väter so sehr geschätzt hatten?
Diese und ähnliche Gedankengänge konnten den menschlichen Geist beschäftigen. Doch der Apostel, geleitet vom Heiligen Geist, lässt nicht zu, dass man in irgendwelcher Hinsicht das Gesetz wieder einführt. Welchen Nutzen die Beschneidung auch immer vor Christus gehabt haben mochte, jetzt hatte sie keinen Wert mehr; im Gegenteil: „Siehe, ich, Paulus, sage euch, dass, wenn ihr beschnitten werdet, Christus euch nichts nützen wird“ (Vers 2). Christus ist nicht allein ein vollkommener, sondern auch der einzige Seligmacher. Fügen wir also etwas zu Christus hinzu, dann machen wir das Heil durch Ihn zunichte. Das ist von großer Wichtigkeit, da viele sagen: „Wir bekennen im Grund dasselbe; der einzige Unterschied ist der, dass ich etwas mehr glaube als du.“ Ja, aber dieses „etwas mehr“ macht den Glauben und den Wert von Christus zunichte. Wenn wir mit etwas kommen, das zu unserer Rechtfertigung vor Gott durch uns getan werden muss, dann ist Christus mir nichts nütze. So war es mit der Beschneidung. Obschon sie einst mit besonderer Feierlichkeit von Gott eingeführt worden war und jeden, der sich ihr nicht unterwarf, mit dem Tod bedrohte, so hat derselbe Gott, Der Christus gegeben hat, sie gänzlich aufgehoben. Sie hat ihren Dienst getan; und ihre Wiedereinführung würde das Werk des Christus verdunkeln, entehren, ja zunichte machen. Gott hat durch sie als Vorbild gezeigt, dass der alte Mensch als schlecht und tot behandelt werden musste. Das geschah, als Christus für uns zur Sünde gemacht wurde; und der Gedanke etwas vom alten mit dem neuen Menschen als einem Mittel zur Rechtfertigung zu vereinigen, heißt das Werk des Christus herabsetzen. Obschon die Galater auch einen Unterschied machten zwischen dem moralischen und dem zeremoniellen Gesetz, wodurch sie zugaben, dass das erstere den Menschen nicht rechtfertigen konnte, das letztere aber eine herrliche Bedeutung hatte, so beweist ihnen der Apostel doch ihre Torheit. „Ich bezeuge aber wiederum jedem Menschen, der beschnitten wird, dass er das ganze Gesetz zu tun schuldig ist“ (Vers 3). Die Beschneidung kann nicht vom Gesetz getrennt werden; denn wiewohl sie vor dem Gesetz bestand, hat sie Gott doch so mit dem Gesetz verbunden, dass sie das Fundament des Gesetzes ist. Sobald man also einen Teil des Dienstes anerkennt, ist man für das ganze gesetzliche System verantwortlich; man ist schuldig, das ganze Gesetz zu tun.
Ist denn nicht jeder Christ schuldig, das Gesetz zu tun? Sicherlich nicht! Er wäre ein verlorener Mensch, wenn er schuldig wäre, es zu halten. Einige Christen meinen, dass Christus uns, außer der Vergebung, auch die Kraft schenkt, das Gesetz zu halten; doch dies beweist eine bedauerliche Unkenntnis der Wahrheit des Evangeliums. – Hat denn ein Christ die Freiheit, das Gesetz zu brechen? Noch lauter rufe ich: Gewiss nicht! Es liegt ein großer Unterschied darin: kein Schuldner des Gesetzes zu sein und die Freiheit zu besitzen, sich dem Gesetz nicht zu unterwerfen. Der Jude war ein Schuldner des Gesetzes und derjenige, der die Freiheit zu haben glaubt, seinen eigenen Willen zu tun, ist ein gesetzloser und gottloser Mensch. Der Christ steht aber auf einem ganz andern Boden. Er ist durch die Gnade errettet und ist berufen in der Gnade zu wandeln. Der Charakter der Gerechtigkeit, die Gott in ihm sucht, ist von ganz anderer Art, der nicht durch das Gesetz kommt, sondern durch Jesus Christus zur Verherrlichung und Ehre Gottes. Christus und keineswegs das Gesetz ist der Maßstab für den Wandel des Christen.
Man könnte ferner fragen: Aber war denn nicht Christus selber unter dem Gesetz? Sicherlich, „damit Er die, welche unter Gesetz waren, loskaufte“, aber Er stand auch über dem Gesetz. Der Christ sowohl wie der Heide waren nie unter dem Gesetz. Nachdem wir durch den Glauben in Christus gepflanzt sind, stehen wir auf einem Boden, wo das Gesetz keine Anwendung findet. Folglich wird jeder Christ als aus dem Tod lebendig gemacht betrachtet, um Gott Frucht zu tragen. Er ist ein Orgamisnus mit dem gestorbenen und auferstandenen Christus. Das Gesetz ist für ihn nicht mehr nötig, um zu prüfen, ob er tüchtig ist, etwas Gutes zu tun; denn sobald er Christus annahm, gab er dies alles preis und nahm den herrlichen Standpunkt ein, vereinigt zu sein mit Ihm, der gestorben und auferstanden ist. Wie gesegnet ist es, wenn wir es verstehen, dass wir nicht mehr unter dem Gesetz, sondern unter der Gnade sind! Und doch ist es für viele Christen so schwierig diese Wahrheit zu verstehen. Während die Galater das Gesetz mit der Rechtfertigung in Verbindung brachten, bringen es viele in unsern Tagen mit der Heiligung in Verbindung. Der Christ hat aber weder in dieser noch in jener Form etwas mit dem Gesetz zu tun. Alles ist Gnade für ihn, sowohl in Bezug auf seine Errettung als auch in Bezug auf seinen Wandel. Die Gnade ist die Quelle von allem und Gott hat ihre Fülle in Christus offenbart.
„Ihr seid abgetrennt von dem Christus, so viele ihr im Gesetz gerechtfertigt werdet; ihr seid aus der Gnade gefallen“ (Vers 4). So musste Paulus zu ihnen sprechen; denn es ist unmöglich, im Werk des Christus zu ruhen und zugleich sich berufen zu glauben, die Gerechtigkeit nach dem Gesetz zu vollbringen. Sobald man das tut, steht man nicht mehr auf dem Boden der Gnade. Nun sucht der Christ die Gerechtigkeit nicht als einer, der sie nicht besitzt, denn er ist der Gerechtigkeit Gottes in Christus teilhaftig geworden, und Christus selbst ist der Maßstab dieser Gerechtigkeit. Der Glaube ruht darin, gleichwie Gott darin ruht. Man verlässt die einzige Grundlage, auf der Gott die Gerechtigkeit zurechnen kann, wenn man das Gesetz als ein Mittel zur Rechtfertigung mit Christus verbindet. Gott rechtfertigt den Sünder. Im Werk des Christus ist Gott nicht allein gnädig, sondern auch gerecht. Wenn ich Christus besitze, dann ist Gott ebenso gerecht, indem Er mich rechtfertigt, als wenn Er mich verdammen würde, wenn ich Christus nicht besitze. Gottes Gerechtigkeit, die den Sünder verdammt, ist dieselbe, die den Sünder rechtfertigt. Doch darüber hinaus macht Er ihn der göttlichen Natur teilhaftig. Er rechtfertigt ihn nicht nur, sondern gibt ihm auch ein neues Leben. Er empfängt dieses Leben, sobald er Christus annimmt. In Ihm haben wir mit einem Wort die Rechtfertigung des Lebens. Und welchen Charakter hat dieses Leben? Es ist nicht wie das von Adam; denn dieses würde uns nichts nützen, da Adam fiel, nachdem er lebendig gemacht war. Christus aber ließ Sein Leben, damit Er es in der Auferstehung wieder nehmen sollte; und darum verlieren wir das Leben nie, das Er uns gegeben hat; denn unser Leben ist Christus, auferstanden aus den Toten. Über Ihn hat der Tod keine Macht mehr und also auch nicht über uns. Wir können natürlich körperlich sterben, doch wir reden jetzt vom Leben aus Gott, das der Seele mitgeteilt ist; und dieses Leben ist das Leben des Christus, weil Er unsere Sünden am Kreuz hinweggenommen hat.
Der Apostel schließt nun seine Beweisführung mit den Worten: „Denn wir erwarten durch den Geist aus Glauben die Hoffnung der Gerechtigkeit“ (Vers 5). Er sagt nicht, dass wir durch den Geist aus Glauben erwarten „gerechtfertigt zu werden“, sondern die „Hoffnung der Gerechtigkeit“. Und was ist der Gegenstand dieser Hoffnung? Der Lohn der Gerechtigkeit – die Herrlichkeit Gottes. Wir haben diese Gerechtigkeit, aber noch nicht die Hoffnung davon; „wir rühmen uns in der Hoffnung der Herrlichkeit Gottes“ (
Die Galater hofften, gerechtfertigt zu werden; doch der Apostel sagt ihnen: Ihr seid schon gerechtfertigt, und wenn ihr meint, dies durch die Beschneidung zu befestigen, dann verliert ihr alles und seid verpflichtet, das zu tun, was den Fluch über euch bringt. „Denn in Christus Jesus vermag weder Beschneidung noch Vorhaut etwas, sondern der Glaube, der durch die Liebe wirkt“ (Vers 6). Derselbe Glaube, der uns rechtfertigt und der die Herrlichkeit erwartet, wirkt durch die Liebe und nicht durch das Gesetz. Der Gläubige braucht sich also nicht unter das Gesetz zu stellen; denn wenn sein Glaube durch die Liebe wirkt, erfüllt er das, was das Gesetz sucht, aber niemals zum Vorschein bringt. Und der Glaube, der durch die Liebe wirkt, hat seinen Ursprung in seinem Ruhen in der Liebe Gottes. Er kennt die Errettung, die dieser Liebe entspringt. Die Liebe Gottes, offenbart in Christus, erfüllt das Herz des Gläubigen. Er hat eine Hoffnung, die ihn nicht beschämt, weil die Liebe in sein Herz ausgegossen ist durch den Heiligen Geist. Und je mehr er die Fülle der Liebe Gottes erkennt, desto mehr ist er imstande, Gott und den Nächsten zu lieben.
Das Herz des Apostels ist tief betrübt beim Gedanken an das Unheil, das diese falsche Lehre stiftete, und darum bricht er seine Beweisführung ab mit den Worten: „Ihr lieft gut; wer hat euch aufgehalten, dass ihr der Wahrheit nicht gehorcht? Die Überredung ist nicht von Dem, der euch beruft“ (Verse 7. 8). Es war nicht das Werk Dessen, der sie berufen hatte, dass sie sich so bald durch diese jüdische Lehre, die ein grober Irrtum war, hatten überreden lassen. Nur durch die Gnade waren sie Christen geworden. „Ein wenig Sauerteig durchsäuert den ganzen Teig“ (Vers 9). Ist es nicht sehr ernst, dass dasselbe Wort „Sauerteig“, das in
„Ich habe Vertrauen zu euch im Herrn, dass ihr nicht anders gesinnt sein werdet“ (Vers 10). Der Apostel bekommt sein Vertrauen zurück, sobald er nach oben sieht. Die Gnade, deren er in Christus teilhaftig war, beruhigt ihn. Schaute er auf die Galater, dann stand er im Zweifel; schaute er aber auf Christus, dann hatte er Vertrauen, dass sie nicht anders gesinnt sein würden. Wie ergreifend ist es, die Unruhe des Apostels zu sehen, wenn er an die Galater denkt und dann sein Vertrauen zu schauen, wenn sein Herz sich zum Herrn erhebt. Sein gedrängter Stil, seine abgebrochenen und unzusammenhängenden Worte beweisen deutlich, wie sehr sein Herz erschüttert war. Kein Wunder! Der Irrtum, den er in ihrer Mitte sah, musste ihre Seele von Christus scheiden und die Herrlichkeit des Erlösers verdunkeln. Es war ein wohl überlegtes Werk des Teufels, der das Evangelium von Christus verderben wollte. Und darum ruft der Apostel aus: „Wer euch aber verwirrt, wird das Urteil tragen, wer er auch sei“ (Vers 10).
Es ist wahrscheinlich, dass sich die jüdischen Lehrer darauf beriefen, dass Paulus den Timotheus hatte beschneiden lassen und also im Widerspruch mit seiner Lehre gehandelt hatte. Paulus hatte aber nicht gegen die Grundsätze Gottes gehandelt, obschon er Timotheus beschneiden ließ. Er begegnete dadurch dem Mund der Gegner und brachte durch die Beschneidung des Timotheus die jüdischen Lästerer zum Schweigen. Titus aber, der ein Grieche war, wollte er nicht beschneiden lassen, obschon er ihn mit nach Jerusalem nahm. Das könnte manchem eigensinnig vorkommen; doch die Gnade kennt die rechte Zeit, um fest zu bleiben oder nachzugeben. Man muss die Weisheit von Gottes Geist besitzen, um zu wissen, ob und wo man seine Freiheit gebrauchen darf. Als Timotheus beschnitten wurde, kam die Gnade nur den fleischlichen Fragen entgegen und keineswegs dem Gesetz. Es lag dem Apostel fern, die Beschneidung zu predigen. „Ich aber, Brüder, wenn ich noch Beschneidung predige, was werde ich noch verfolgt? Dann ist ja das Ärgernis des Kreuzes hinweggetan“ (Vers 11).
Die Juden waren gewöhnlich die Anstifter der Verfolgungen, die Paulus seitens der Nationen widerfuhren. Der Geist des Judentums, der religiöse Geist des natürlichen Menschen, war und ist das brauchbare Mittel Satans in seinem Kampf gegen das Evangelium. Wenn Christus das Fleisch anerkennen würde, dann könnte die Welt Ihn gut ertragen und so fromm sein, als man nur wünschen könnte. Doch dann wäre es nicht mehr der wahre Christus. Er kam als Zeuge, dass der natürliche Mensch verloren und ohne Hoffnung ist, tot in Sünden und Übertretungen, dass das Fleisch wirklich und völlig verderbt ist. Predige nur die Beschneidung, bekenne die Religion des Fleisches, unterwirf dich den Vorschriften der Menschen, und alle Schwierigkeiten hören auf. Die Welt wird dein Evangelium annehmen; doch es ist dann nicht mehr das Evangelium des Christus. Man kann sicher sein, dass das Kreuz und die durch die Gnade vollbrachte Erlösung stets ein Stein des Anstoßes für den natürlichen Menschen sein wird. Welch traurige Erfahrungen hat man nicht seit den Zeiten des Apostels gemacht bis zum heutigen Tag. Die christliche Kirche hat die jüdischen Grundsätze nicht nur in ihre Mitte aufgenommen, sondern ist ganz davon durchsäuert. Ach, wie wenig wird das empfunden und wie wenige wagen mit Paulus zu sagen. „Ich wollte, dass sie sich auch abschnitten, die euch aufwiegeln“ (Vers 12). ja, wo ist heute diese heilige Entrüstung der Gläubigen über das religiös Böse?
In der zweiten Hälfte dieses Kapitels beweist Paulus, dass die Freiheit, die vollkommene Gnade ohne Gesetz, mit einem heiligen Wandel verbunden ist. Viele Gläubige verstehen wohl, dass Gott uns freigemacht hat in Bezug auf die Rechtfertigung, doch sie kennen die Freiheit für ihren Wandel vor Gott nicht. Die traurige Folge davon ist, dass der eine, der ein zartes Gewissen hat, in einer gesetzlichen Form sich Regeln und Pflichten unterwirft, während ein anderer, der gleichgültig ist, seine Freiheit so sehr ausdehnt, dass er den Lüsten seiner Natur nachgibt, weil er denkt, dass Gott, Der weiß, dass im Fleisch nichts Gutes wohnt, in Seiner großen Güte Nachsicht üben werde. Bei beiden fehlt die Kenntnis der wahren Freiheit und das Bewusstsein der Innewohnung des Heiligen Geistes als Leben und Kraft.
„Denn ihr seid zur Freiheit berufen worden, Brüder, allein gebraucht nicht die Freiheit zu einem Anlass für das Fleisch, sondern durch die Liebe dient einander“ (Vers 13). Gott gab das Gesetz zur Überführung von Sünde; das Fleisch gebrauchte es, um eine Gerechtigkeit zu erlangen. Gott handelt in Gnade, um uns von der Herrschaft der Sünde zu erlösen; das Fleisch würde die Gnade gebrauchen wollen als eine Freiheit, zu sündigen ohne bestraft zu werden. Der Christ aber ist frei vom Joch der Sünde und von ihrer Verdammnis; der auferstandene Christus ist sein Leben und seine Gerechtigkeit, und der Geist ist die Kraft und der Führer in seinem Wandel zur Herrlichkeit Gottes. Anstatt nach den Begierden seines Fleisches zu leben, sucht er seinem Nächsten zu dienen; und das tut er in Liebe, weil er frei ist. So wird das Gesetz erfüllt, ohne dass wir unter seinem Joch sind. „Denn das ganze Gesetz ist in einem Wort erfüllt, in dem: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst“ (Vers 14). Die Galater versuchten, das Gesetz zu halten; und was war die Folge? „Ihr beißt und fresst einander.“ Das war wahrlich nicht die Erfüllung des Gesetzes. Es ist denn auch etwas ganz anderes, das Gesetz zu lehren oder es zu erfüllen; man beginnt gewöhnlich mit guten Vorsätzen und endigt ohne zu vollbringen. Ist aber Christus unser Gegenstand, dann wird das Gesetz erfüllt ohne mit ihm beschäftigt zu sein. Christus ist die Kraft Gottes – das Gesetz die Kraft der Sünde; darum kann uns Christus allein zum Guten tüchtig machen. Das Gesetz ist heilig, gerecht und gut, doch was für eine Heiligkeit hatte es bei ihnen bewirkt! „Wenn ihr aber einander beißt und fresst, so seht zu, dass ihr nicht voneinander verzehrt werdet“ (Vers 15). Sie stritten mit denen, die nicht beschnitten waren, und auf diese Weise verzehrten sie einander. Das war die traurige Folge ihres Eiferns für die armseligen Elemente des Gesetzes. Und so geht es immer. Das Gesetz ist eine tötende Macht, nicht weil das Gesetz, sondern weil unsere Natur schlecht ist. Das Gesetz richtet sich an unsere Natur, und zwar an den alten und keineswegs an den neuen Menschen. Doch wenn die Liebe wirkt, dann ist das Gesetz erfüllt. Das Gesetz fordert diese Liebe; aber die Gnade schenkt sie. Darum hat man auch keine Kraft über die Sünde, solange man unter dem Gesetz ist; wer aber den Geist Gottes besitzt, „wird die Lust des Fleisches nicht vollbringen.“ „Ich sage aber: Wandelt im Geist!“ (Vers 16).
„Denn das Fleisch gelüstet wider den Geist, der Geist aber wider das Fleisch; diese aber sind einander entgegengesetzt, damit ihr nicht das tut, was ihr wollt“ (Vers 17). Es sind zwei gegeneinander stehende Kräfte. Das Fleisch sucht uns zu hindern, wenn wir nach dem Geist wandeln wollen, und der Geist widersteht der Wirksamkeit des Fleisches. Das Fleisch ist in mir und der Geist wohnt in mir; der Geist ist in Übereinstimmung mit den Wünschen meiner Seele und gibt mir Kraft, das Gute zu tun und dem Bösen zu widerstehen. In dem Streit zwischen Fleisch und Geist bin ich berufen, die Partei des Geistes zu erwählen; und dazu gibt mir der Geist selber die Kraft. Wenn ich mich dann vom Geist leiten lasse, tue ich nicht, was ich von Natur tun würde.
Es wird oft eine andere Auslegung dieser Stelle gegeben; man hat sie namentlich mit
„Wenn ihr aber durch den Geist geleitet werdet, so seid ihr nicht unter Gesetz“ (Vers 18). Dies ist die notwendige Folge. Unter der Leitung des Geistes kann man nicht unter dem Gesetz sein. Wie bestimmt ist diese Erkenntnis; doch wie wenig wird sie in unsern Tagen verstanden! Sowohl der persönliche Umgang mit Gott, als auch der Gottesdienst haben vielfach einen gesetzlichen Charakter. Man ist nicht unter dem Gesetz, wenn man das Gesetz gebraucht, um einen armen, gottlosen Menschen von seinen Sünden zu überzeugen, wohl aber, wenn man das Gesetz als eine Regel betrachtet, die uns von Gott gegeben ist, um darnach zu wandeln, oder wenn man Gott bittet, dass Er uns in den Stand setze, die zehn Gebote zu halten.
Der Apostel zeigt nun den Unterschied zwischen den Werken des Fleisches und den Früchten des Geistes. „Offenbar aber sind die Werke des Fleisches, welche sind: Hurerei, Unreinigkeit, Ausschweifung, Götzendienst, Zauberei, Feindschaft, Hader, Eifersucht, Zorn, Zank, Zwietracht, Sekten, Neid, Totschlag, Trunkenheit, Gelage und dergleichen“ (Verse 19–21). Und um die Christen ernstlich davor zu warnen, diesen Dingen nachzugeben, lässt er darauf folgen: „Von denen ich euch vorhersage, gleichwie ich auch vorhergesagt habe, dass die solches tun, das Reich Gottes nicht ererben werden.“
„Die Frucht des Geistes aber ist: Liebe, Freude, Friede, Langmut, Freundlichkeit, Gütigkeit, Treue, Sanftmut, Enthaltsamkeit“ (Vers 22). Der Apostel beginnt mit der „Liebe“, mit dem, was von Gott ist und direkt von Ihm kommt; sie ist mehr als etwas anderes das Mittel zur Erkenntnis der Wesenheit Gottes. Dann nennt er das, was durch die Liebe Gottes zum Vorschein gebracht wird – Freude, Friede, Langmut, Freundlichkeit, Gütigkeit, Treue. Weiter gibt er den Charakter der gegenseitigen Gemeinschaft an, Sanftmut um endlich von der „Enthaltsamkeit“ zu reden, durch welche die Natur im Zaume gehalten wird. Dies alles sind Früchte des Geistes; und der Apostel fügt bei: „Wider solche gibt es kein Gesetz“ (Vers 23). Das Gesetz kann solche Früchte niemals zum Vorschein bringen, aber die, „die des Christus sind, haben das Fleisch gekreuzigt samt den Leidenschaften und Lüsten“ (Vers 24). Sie haben sich mit ihrer ganzen Natur dem Urteil des Todes unterworfen: sie haben das Fleisch gekreuzigt. Wir wissen, dass dies vollkommen in Christus geschehen ist, dass diese Kreuzigung des Fleisches samt den Leidenschaften und Begierden am Kreuz von Christus vollzogen ist, und darum ist es wahr von jedem Gläubigen. Wenn nun jemand fragen wollte. „Aber muss ich denn das Fleisch nicht kreuzigen?“, dann antworte ich ihm: „Das ist schon geschehen; du hast lediglich zu glauben und in der Kraft dieses Glaubens zu wandeln.“ O, welch ein Trost ist es, zu wissen, dass das Fleisch verurteilt ist! Nichts kann uns mehr Kraft geben als das Bewusstsein, dass wir nicht mehr im Fleisch, sondern im Geist sind. „Wenn wir durch den Geist leben, so lasst uns auch durch den Geist wandeln“ (Vers 25). Die Kraft und die Triebfeder zur Heiligkeit sind in dem Geist. Und der Heilige Geist wird Sein Werk in uns tun, wenn unser Auge auf Christus gerichtet ist. Vertrauen wir auf uns selbst, dann werden wir sehen, dass Gott das Mittel unseres Selbstvertrauens zu unserer Züchtigung braucht. Darum „lasst uns nicht eitler Ehre geizig sein, indem wir einander herausfordern, einander beneiden“ (Vers 26).