Der Brief an die Galater
Galater 4
Wenn nun das Gesetz und die Verheißungen – obschon beide von Gott sind – im Grundsatz, Charakter und Zweck so ganz voneinander verschieden sind, welches war dann die Stellung der Gläubigen unter dem Alten Bund, und welches ist ihr gegenwärtiges Verhältnis zu Gott? Diese Fragen werden uns in der ersten Hälfte dieses Kapitels beantwortet, wo der Apostel nochmals auf das Gesagte zurückkommt.
„Ich sage aber: So lange der Erbe unmündig ist, unterscheidet er sich in nichts von einem Knecht, obwohl er Herr ist von allem, sondern er ist unter Vormündern und Verwaltern bis zu der vom Vater festgesetzten Frist“ (Vers 1. 2). Hier wird also genau die Stellung beschrieben, die die Gläubigen unter dem Alten Bund oder dem Gesetz einnahmen. Sie waren einem unmündigen Kind gleich, das nach den Gedanken des Vaters in keiner direkten Beziehung zu ihm steht, sondern wie ein Knecht Befehle empfängt, ohne deren Beweggründe zu kennen. Sie waren Erben, sie sollten mit Abraham, Isaak und Jakob zu Tische sitzen – hierin bestand der Unterschied nicht. Auch war die Wiedergeburt zu allen Zeiten und unter allen Haushaltungen dieselbe, obwohl jetzt eine größere Fülle von Gnade offenbart ist. Von Anbeginn, sowohl vor als nach der Sintflut, war der Erbe Herr von allem. Doch trotz diesem allem standen sie nicht in direkter Verbindung mit dem Vater und Seinen Ratschlüssen in Christus, sondern waren unter Hüter und Versorger gestellt. Als Unmündige waren sie „geknechtet unter die Elemente der Welt“ (Vers 3). Wohl hatte sie Gott in dieses System gestellt; aber sie waren doch in Dienstbarkeit. Sie waren unter Vormündern und Verwaltern „bis zu der vom Vater festgesetzten Frist ... Als aber die Fülle der Zeit gekommen war, sandte Gott Seinen Sohn, geboren von einer Frau, geboren unter Gesetz, damit Er die, welche unter Gesetz waren, loskaufte, damit wir die Sohnschaft empfingen“ (Verse 4. 5).
Sobald die bestimmte Zeit gekommen war, sandte Gott Seinen Sohn. Gott selber tat es. Er selber wirkte. Er handelte in unumschränkter Güte, um Seine ewigen Ratschlüsse zu erfüllen und Sein ganzes Wesen zu offenbaren. Das Gesetz verlangte Werke und offenbarte, dass der Mensch das Gegenteil war von dem, was er jenem gemäß hätte sein sollen. Der Sohn aber kommt und fordert nichts. In Seiner Beziehung zum Menschen wurde Er auf zweierlei Weise offenbart: als Mensch, geboren von einer Jungfrau, und geboren „unter dem Gesetz“. Er musste Mensch sein, um dem Kind Abrahams unter allen Umständen entgegenzukommen; und Er musste ein Jude sein, um das Gesetz und die Verheißungen zu erfüllen. Er kam in vollkommener Gnade. Die Sünde und der Tod waren durch das Weib gekommen – auch Christus kam in diese Welt, geboren von einer Frau. Das Gesetz war gekommen, hatte alle Hoffnung des Menschen vernichtet und ihn unter den Fluch gebracht – auch Christus kam, geboren unter dem Gesetz. Er kam, wo der Mensch war. Er nahm den Platz ein in Gnade und ohne Sünde, aber mit der ganzen Verantwortlichkeit, die damit verbunden war, und der Er allein entsprechen konnte. Dies alles geschah nun, um die zu erlösen, die unter dem Gesetz waren; denn das Halten des Gesetzes allein hätte niemand erlösen können. Es war für die Gerechtigkeit Gottes notwendig, dass Er ein vollkommener Mensch unter dem Gesetz, ein vollkommener Israelit war; aber um „die, die unter dem Gesetz waren, loszukaufen“, musste Er sterben. Sein Gehorsam konnte uns nicht erlösen; Er musste ein Fluch werden für uns; Er musste unsere Stelle einnehmen und von Gott verurteilt werden. Gott wollte nicht, dass Seine Kinder in Knechtschaft sein sollten; Er wartete im Gegenteil mit Freuden auf den herrlichen Augenblick, wo Ihm durch den Tod Seines Sohnes das volle Recht gegeben würde, Sein Volk aus diesem Zustand zu erlösen und in eine ganz neue Stellung zu bringen, worin durch diesen Tod die Fesseln des Gesetzes für immer zerbrochen sein sollten.
Doch dies ist nicht alles. Die Befreiung von den Banden des Gesetzes war für Gott nicht genügend. Er sandte Seinen Sohn, um die, welche unter dem Gesetz waren, loszukaufen, „damit wir die Sohnschaft empfingen“ (Vers 5). Und damit niemand denken sollte, dass diese Erlösung nur für die Gläubigen aus Israel war, wendet sich der Apostel sofort an die Nationen. „Weil ihr aber Söhne seid, so hat Gott den Geist Seines Sohnes in unsere Herzen gesandt, Der da ruft: Abba, Vater!“ (Vers 6). Von Natur waren sie Heiden und hatten in Unwissenheit und Abgötterei gelebt; aber durch den Geist der Gnade waren sie von allem erlöst und durch den Glauben an Christus zu Gotteskindern gemacht worden. Die Sendung des Heiligen Geistes, durch den sie „Abba, Vater!“ riefen, bewies ihre Annahme als Kinder. „Weil ihr aber Söhne seid, so hat Gott den Geist Seines Sohnes in unsere Herzen gesandt“ – sowohl in die Herzen der gläubigen Juden, als auch in die der Gläubigen aus den Nationen. Der Heide, der „Fremdling des Hauses“, und der Jude, der als Unmündiger in nichts sich vom Sklaven unterschied, waren nun beide Söhne geworden; beide standen jetzt in direkter Beziehung zum Vater – eine Beziehung, von welcher der Heilige Geist die Kraft und das Zeugnis war. Das Erlösungswerk, das der Sohn Gottes für sie vollbrachte und das sowohl der Jude unter dem Gesetz, als auch der Heide in seinen Sünden benötigte, hatte sie beide in diese herrliche Stellung versetzt. Und was ist die Folge dieses Empfanges der Sohnschaft? „Also bist du nicht mehr Knecht, sondern Sohn; wenn aber Sohn, so auch Erbe durch Gott“ (Vers 7). Sobald man Christus angenommen hat, ist man der ganzen Fülle der Segnung teilhaftig, die Gott für Seinen geliebten Sohn bestimmt hat. Man ist dann nicht nur Erbe von diesem oder jenem, sondern Erbe durch Gott. Alles, was Gott besitzt, alles, was Er auf den zukünftigen Tag der Segnungen besitzen soll, wird Er mit Seinen Kindern teilen. Welche Gnade, welche Herrlichkeit!
Man könnte denken, dass der Heide, da er das Gesetz nicht kannte, nicht so ohne weiteres diese herrliche Stellung hätte einnehmen können; doch man irrt sich. Der Jude musste nicht nur von der Sünde, sondern auch vom Gesetz erlöst werden. Der Heide hatte nichts als Sünde, und darum war das Werk, wenn ich mich so ausdrücken darf, bei ihm viel einfacher. Der Jude hatte zu verlernen, der Heide lediglich zu lernen. Der Heide hatte seine verdorbene Natur, bis er durch das Licht der göttlichen Gnade bekehrt wurde; der Jude jedoch musste noch vom Gesetz freigemacht werden und wurde oft lange aufgehalten durch das, was ihm vom gesetzlichen System noch anhaftete.
Der Apostel kommt nun mit einer ernsten Warnung. „Aber damals freilich, als ihr Gott nicht kanntet, dientet ihr denen, die von Natur nicht Götter sind, jetzt aber, da ihr Gott erkannt habt, vielmehr aber von Gott erkannt worden seid, wie wendet ihr wieder um zu den schwachen und armseligen Elementen, denen ihr wieder von neuem dienen wollt?“ (Verse 8. 9). Es ist klar, dass Paulus hier zu den Gläubigen aus den Nationen spricht. Als Heiden kannten sie Gott nicht, während die Juden unter dem Gesetz eine gewisse Kenntnis von Ihm hatten. Was wollten nun die Christen aus den Nationen tun? Wollten sie zu ihrem früheren Götzendienst zurückkehren? O nein! Daran dachten sie nicht, aber sie nahmen die Grundsätze des Gesetzes an. Nun nennt der Apostel das Gesetz, von dem er anderswo sagt, dass es „heilig, gerecht und gut“ (Römer 7, 12) ist, „armselige Elementen“, sobald man es als ein Mittel zur Rechtfertigung gebrauchen will, und er stellt ihre Haltung der Abgötterei der Heiden gleich; – „wie wendet ihr wieder um zu den schwachen und armseligen Elementen, denen ihr wieder von neuem dienen wollt?“ Sie wünschten wieder in der Dienstbarkeit dieser armseligen Elemente zu sein, die weltlich und fleischlich waren, gleich jenen, in denen sie früher gelebt hatten. Die „Elemente“, einst Israel von Gott gegeben, hatten für den Christen ihren Wert verloren. Als Vorbilder von den Wirklichkeiten, die in Christus sind, als Abschattungen Seines Werkes und Seiner Person, waren sie nützlich. Sie dienten als ein Prüfstein für den Menschen im Fleisch, um zu sehen, ob er vor Gott bestehen und Ihm dienen konnte. Da nun aber Gott die Unfähigkeit des Menschen, sich zu rechtfertigen, bewiesen hat und die Verwirklichung dieser Vorbilder gekommen ist, ist die Rückkehr zu jenen Satzungen ein Zurückkehren zur Stellung des Menschen im Fleisch, zu einem fleischlichen Dienst, der von Menschen ohne Auftrag Gottes eingerichtet wurde und den Hinzunahenden in keinerlei Weise in Beziehung zu Gott bringen kann; mit einem Wort, ein Zurückkehren zur Abgötterei. Wie ernst sind diese Worte für alle, die daran denken, ihren Gottesdienst auf dem Boden des Gesetzes ausüben zu wollen.
„Ihr beobachtet Tage und Monate und Zeiten und Jahre“ (Vers 10). Paulus ermahnt die Galater wegen dem Beobachten der Feste, während die Christenheit heutzutage sich über die verwundert, die keine Feste einhalten. Im Heidentum hatten die Feste eine große Bedeutung; und Gott gebot sie im Judentum, da sie ein Mittel zur Ausübung eines Gottesdienstes waren, der der Stellung Israels und dem weltlichen Heiligtum entsprach. Das Judentum hatte einen menschlichen Gottesdienst, obwohl er von Gott verordnet war. Da diese Gottesdienstordnung nicht mehr in Kraft ist, ist das Zurückkehren zu diesem System nichts anderes als eine Rückkehr zum Heidentum, aus dem sie herausgerufen worden waren, um mit Christus an den himmlischen Dingen teilzuhaben. Dort war alles verändert; das Halten dieser besondern Feste und Zeiten als ein Mittel, um Gott wohlgefällig zu sein, ist durch den Heiligen Geist ganz beiseite gestellt.
Durch diesen Zustand der Galater war das Herz des Apostels sehr betrübt. Er fragte sich, ob sie wohl wahre Christen wären. „Ich fürchte um euch, ob ich nicht etwa vergeblich an euch gearbeitet habe“ (Vers 11). So hatte er nie zu den Korinthern gesprochen, wie viele Übelstände auch bei ihnen vorhanden sein mochten. Das ist kein Wunder; die gesetzliche Gesinnung ist eine trügerische Sache, weil sie so schön aussieht. Wo sie sich offenbart, glaubt man heiliger zu sein, als man in Wirklichkeit ist, und das ist Heuchelei. Wahre Heiligkeit kann nur da gefunden werden, wo Gott das Wollen und das Vollbringen nach Seinem Wohlgefallen wirkt.
Der Apostel spricht nun über sein Verhältnis zu den Heiligen in Galatien. Die gesetzlich gesinnten Lehrer beschuldigten ihn, dass er kein gewissenhafter Jude wäre, da er sich von der Autorität des Gesetzes losgemacht hätte. Auf diese Weise suchten sie die Galater gegen ihn aufzuhetzen. Anstatt sich zu verteidigen, bestätigt Paulus das, was sie sagten. „Seid wie ich, denn auch ich bin wie ihr, Brüder!“ (Vers 12). Er war frei vom Gesetz. Er hatte das Joch des Judentums abgeworfen und war, wie einer aus den Nationen, vollkommen frei. Der Tod und die Auferstehung des Christus hatten ihn vom Gesetz geschieden und in eine neue Stellung gebracht. Darum sagt er. „Seid wie ich“; seid doch frei vom Gesetz, da ihr ihm in Christus gestorben seid. Nehmt die Stellung ein, die euch zukommt, da ihr wisst, dass es der Wille Gottes ist, dass ihr in keiner Beziehung zum Gesetz steht. „Seid wie ich, denn ach ich bin wie ihr“; ich habe nichts mit dem Gesetz zu tun, da ich durch Christus von ihm freigemacht bin. „Ihr habt mir nichts zuleide getan“, indem ihr dies sagtet; es ist wahrlich so, ich bin frei vom Gesetz.
„Ihr wisst aber, dass ich euch einst in Schwachheit des Fleisches das Evangelium verkündigt habe; und die Versuchung für euch, die in meinem Fleisch war, habt ihr nicht verachtet noch verabscheut, sondern wie einen Engel Gottes nahmt ihr mich auf, wie Christus Jesus“ (Verse 13. 14). Paulus war weit davon entfernt, mit etwas zu kommen, das den Schein von fleischlichem Vertrauen auf fleischliche Macht hatte. Er war als ein schwacher, leidender Mann zu ihnen gekommen; man konnte die Zeichen der Schwachheit an ihm sehen; denn es war ihm ein Dorn für das Fleisch gegeben (2. Kor 12), irgend ein leibliches Gebrechen, das seine Person verächtlich machte. Doch wie hatten ihn die Galater trotz diesem aufgenommen. Sie hatten kein Ansehen nach dem Fleisch gesucht; sie waren so erfüllt vom Evangelium, so glücklich, die Gnade und den Segen der Wahrheit zu finden, dass sie den Apostel, anstatt ihn zu verachten, wie einen Engel Gottes, ja wie Christus selber aufgenommen hatten. „Was war denn eure Glückseligkeit? Denn ich gebe euch Zeugnis, dass ihr, wenn möglich, eure Augen ausgerissen und mir gegeben hättet“ (Vers 15). Zu solch einem Opfer wären sie damals bereit gewesen; nun aber hatten ihre Zuneigungen zum Apostel völlig aufgehört. Das ist und wird immer die Frucht falscher Lehre sein. Sie lässt die Liebe erkalten.
Der Apostel musste mit der Frage zu ihnen kommen: „Bin ich also euer Feind geworden, weil ich euch die Wahrheit sage?“ (Vers 16). Wie traurig! Früher war er wie ein Bote Gottes von ihnen empfangen worden, und jetzt war er ihr Feind geworden. Und welche Absicht hatten diese falschen Lehrer dabei? „Sie eifern um euch nicht gut“ – ist die Antwort des Apostels – „sondern sie wollen euch ausschließen, damit ihr um sie eifert“ (Vers 17). Die falschen Lehrer wollten die Galater für sich gewinnen; sie wollten sie von andern Lehrern, die nicht zu ihrer Partei gehörten, abwendig machen, damit sie ihnen anhangen sollten. Die Lehre des Paulus von der Freiheit vom Gesetz war ihnen ein Dorn im Auge, und darum wollten sie die Galater von ihm wegziehen. Nun sagt Paulus: „Es ist aber gut, allezeit im Guten zu eifern, und nicht allein, wenn ich bei euch gegenwärtig bin“ (Vers 18). Wie ganz anders war das Benehmen der Philipper! Ihnen konnte Paulus schreiben: „Daher, meine Geliebten, gleichwie ihr allezeit gehorsam gewesen seid, nicht allein als in meiner Gegenwart, sondern jetzt vielmehr in meiner Abwesenheit ...“ (Phil 2, 12). Sie wandelten in der Gegenwart Gottes; sie vollbrachten ihren Lauf in Seiner Gemeinschaft. Ihr Eifer nahm sogar zu, nachdem der Apostel sie verlassen hatte. Bei den Galatern finden wir das Gegenteil. Sie waren während seiner Abwesenheit einem fleischlichen Gebrauch des Gesetzes verfallen und hatten alle ihre Zuneigung für ihn verloren und waren der einst empfangenen Segnungen verlustig gegangen. Dies betrübte ihn sehr, und er ruft aus: „Meine Kindlein, um die ich abermals Geburtswehen habe, bis Christus in euch gestaltet worden ist; ich wünschte aber jetzt bei euch gegenwärtig zu sein und meine Stimme umzuwandeln, denn ich bin eurethalben in Verlegenheit“ (Verse 19. 20).
Die gesetzliche Gesinnung hatte die Wahrheit so sehr in ihren Seelen abgeschwächt, dass sie wieder in den ersten Anfängen der Gnade unterwiesen werden mussten. Das Leben war da, aber es war nicht entwickelt. Christus hatte keine Gestalt in ihren Herzen. Äußerlich bewiesen sie großen Eifer, aber der Genuss der Seele und das Zeugnis für Christus waren preisgegeben. Paulus wusste nicht mehr, was er von ihnen denken musste. Seine Liebe für sie war jedoch so groß, dass er bereit war, aufs Neue die Schmerzen durchzumachen, die Geburtswehen gleichkamen und die er schon einmal erlitten hatte, als sie die Kenntnis der Wahrheit empfingen. Moses sagte unter ähnlichen Umständen: „Bin ich mit diesem ganzen Volk schwanger gelangen, oder habe ich es geboren, dass Du zu mir sprichst: Trage es in deinem Busen, gleichwie der Wärter den Säugling trägt?“ (4. Mo 11, 12). Doch bei Paulus war die Liebe des Christus so stark, dass sie durch keine Undankbarkeit geschwächt, durch keine Verkennung gekränkt werden konnte. Herrliches Zeugnis von der Kraft dieser Liebe!
Nach dieser schönen Erklärung redet der Apostel aufs Neue vom Gesetz. Er fragt die Galater: „Sagt mir, die ihr unter Gesetz sein wollt, hört ihr das Gesetz nicht?“ (Vers 21). Das Wort Gesetz hat hier eine zwiefache Bedeutung. Paulus will sagen: „Ihr, die ihr unter der Autorität des Gesetzes sein wollt, hört ihr nicht, was die Bücher des Gesetzes – die ersten Schriften der Bibel – sagen?“ Unter Gesetz wurde häufig das ganze Wort Gottes verstanden, wie in Psalm 19: „Das Gesetz des HERRN ist vollkommen, erquickend die Seele!“ Wenn aber gesagt wird, dass der Christ nicht unter dem Gesetz ist, dann hat es die Meinung, dass er nicht unter gewisse Verpflichtungen gestellt ist, um vor Gott zu bestehen. Das letztere will der Apostel hier zeigen. „Sagt mir, die ihr unter Gesetz sein wollt, hört ihr das Gesetz nicht? Denn es steht geschrieben, dass Abraham zwei Söhne hatte, einen von der Magd und einen von der Freien; aber der von der Magd war nach dem Fleisch geboren, der aber von der Freien durch die Verheißung, was einen bildlichen Sinn hat; denn diese sind zwei Bündnisse: eines vom Berg Sinai, das zur Knechtschaft gebiert, welches Hagar ist“ (Verse 21–24).
In Hagar haben wir also das System des Gesetzes, das zur Knechtschaft gebiert und von der Erbschaft ausschließt, während wir in Sara das System der Gnade haben, das zur Freiheit gebiert und der Erbschaft teilhaftig macht. Diese beiden Systeme konnten nicht vereinigt werden; denn der Sohn der Dienstmagd war nach dem Fleisch geboren und der Sohn der Freien nach der Verheißung. Das Gesetz und der Bund am Sinai standen in Beziehung zum Menschen im Fleisch. Selbst wenn auf der Grundlage des Gesetzes eine Verbindung zwischen dem Menschen und Gott möglich gewesen wäre, so wäre das stets eine solche zwischen dem Menschen im Fleisch und einem gerechten Gott gewesen. Unter dem Gesetz fand der Mensch nur Knechtschaft. Sein Ziel war, seinen Willen zu zügeln, ohne aber diesen zu ändern. Es ist von großer Wichtigkeit zu verstehen, dass der Mensch unter dem Gesetz gleichsteht mit dem Menschen im Fleisch. Ist er wiedergeboren, ist er mit Christus gestorben und auferstanden, dann ist er nicht mehr unter dem Gesetz; denn das Gesetz hat die Herrschaft nur über den Menschen, der lebt.
„Denn Hager ist der Berg Sinai in Arabien, entspricht aber dem jetzigen Jerusalem, denn sie ist mit ihren Kindern in Knechtschaft“ (Vers 25). Hagar stimmt also überein mit dem Jerusalem hier auf Erden, das unter dem Gesetz und darum mit seinen Kindern in Knechtschaft ist. Die Galater eiferten für das Gesetz und liefen so Gefahr, Kinder von Hagar zu werden. Sie verstanden die Stimme der Schrift nicht, sonst hätten sie eingesehen, dass sie ganz gegen sie war, da sie deutlich zeigte, dass Gott die Verheißung nicht den Erfüllern des Buchstabens, sondern den Kindern des Geistes schenkt. Jedes religiöse System, das auf dem Grundsatz des Gesetzes steht, hat jüdischen Charakter. Man braucht nur die Augen aufzutun, um diese Wahrheit zu sehen. Warum hat man prächtige Gebäude und allerlei Zeremonien beim Gottesdienst? Nach welchem Muster ist das eingerichtet? Der Tempel ist das Muster; und die besondere Klasse von Personen ist eine Nachbildung der jüdischen Priesterschaft. Es ist eine Nachbildung dessen, was Gottes Wort „das weltliche Heiligtum“ nennt. Ehe Christus kam, hatte der Tempel eine wichtige Bedeutung; aber nachdem Christus von der Erde verworfen und zum Himmel zurückgekehrt ist, ist alles verändert; das Herz der Gotteskinder muss zum Himmel gerichtet sein. Das wahre Heiligtum für uns ist der Name Jesus. „Wo zwei oder drei versammelt sind in Meinem Namen, da bin Ich in ihrer Mitte“ (Mt 18, 20). Ach, das ist in unsern Tagen so wenig zu finden. Die gesetzliche Gesinnung, die in den ersten Anfängen in Galatien wirkte, ist gegenwärtig zu einer bedenklichen Höhe angewachsen. Man hat die Stellung Isaaks verlassen, um diejenige von Ismael einzunehmen. Man ist aus der Freiheit in die Knechtschaft gegangen.
„Aber das Jerusalem droben ist frei, welches unsere Mutter ist“ (Vers 26). Paulus sagt nicht „unser aller Mutter“, sondern: „unsere Mutter“. Sara, als ein Vorbild der Gnade, entspricht dem Jerusalem, das droben ist. Es steht im Gegensatz zu dem Jerusalem auf Erden, das in seinen Grundsätzen dem Sinai entsprach und von den Juden als ihre Mutter betrachtet wurde. Wir aber gehören dem Jerusalem an, das droben ist, weil wir Christus angehören. „Denn es steht geschrieben: Sei fröhlich, du Unfruchtbare, die du nicht gebierst, brich in Jubel aus und schreie, die du keine Geburtsweben hast! Denn die Kinder der Einsamen sind zahlreicher als der derjenigen, die den Mann hat“ (Vers 27).
Für viele bietet diese Stelle manche Schwierigkeit, da man meint, dass hier noch von Sara und Hagar gesprochen wird. Das ist nicht der Fall, da der Gedanke an das himmlische Jerusalem den Anlass zur Anführung dieser Stelle gab. Sie ist dem Propheten Jesaja entnommen, wo die Freude und Herrlichkeit des irdischen Jerusalem im Anfang des Tausendjährigen Reichs dargestellt wird (Jes 54). Zurückblickend auf die verflossenen Tage ihrer Leiden und Verwüstung, in denen diese Stadt zur Zeit noch ist, wird ihr dann zugerufen: „Sei fröhlich du Unfruchtbare“ usw. Im Tausendjährigen Reich, in den Tagen der Herrlichkeit, wird der HERR dann wieder ihr Mann sein. Er war dies auch unter dem Gesetz; aber um ihrer Sünde willen hat Er sie verlassen, und sie ist einsam und verwüstet. Doch, zur bestimmten Zeit, bevor sie selber noch aus der Gefangenschaft und der Unterdrückung der Nationen erlöst ist, hat die Gnade zu wirken begonnen; und alle, die zu Christus gebracht sind, werden in gewissem Sinn zu ihren Kindern gerechnet. Darum hat sie jetzt, während sie einsam ist, mehr Kinder als zu der Zeit, da der HERR ihr Mann war. Unter dem Gesetz hatte Jerusalem nur wenig Kinder, aber unter dem Evangelium, wo sie ohne Mann ist, hat sie eine große Menge. Der Apostel redet hier nicht von der Gemeinde, die ein Geheimnis in Gott verborgen war und die eine viel höhere Stellung einnimmt. Er sagt hier nur, dass das Evangelium, was die Verheißung betrifft, aus Jerusalem gekommen ist und wir darum als ihre Kinder betrachtet werden können. In der Zeit der Herrlichkeit wird Jerusalem auf die Tage ihrer Einsamkeit und Verwüstung zurückschauen; und im Hinblick auf die Christen, die dann ihren Platz in den himmlischen Örtern haben werden und die der Herr zu den Kindern der verlassenen Frau rechnen wird, wird sie ausrufen: „Sei fröhlich, du Unfruchtbare, die du nicht gebierst; brich in Jubel aus und schreie, die du keine Geburtswehen hast! Denn die Kinder der Einsamen sind zahlreicher als derjenigen, die den Mann hat.“
„Ihr aber, Brüder, seid gleichwie Isaak Kinder der Verheißung. Aber so wie damals der nach dem Fleisch Geborene den nach dem Geist Geborenen verfolgte, also auch jetzt“ (Verse 28. 29); gleichwie Ismael damals tat, so tun die Juden jetzt. „Aber was sagt die Schrift? Stoße hinaus die Magd und ihren Sohn, denn der Sohn der Magd soll nicht erben mit dem Sohn der Freien“ (Vers 30). Wie entschieden widerspricht dies allen, die meinen, dass ein Christ noch etwas mit dem Gesetz zu tun habe. Um zu erben, muss man ein Sohn der Freien sein und nicht, wie jene wollen, beiden angehören. Einer muss hinausgeworfen werden. Gesetz und Gnade, Geist und Fleisch gehen nicht zusammen. „Also, Brüder, sind wir nicht Kinder der Magd, sondern der Freien“ (Vers 31). Die Juden als solche waren Söhne der Magd und in Knechtschaft; die Christen aber sind Söhne der Freien. Gott selber hat uns zu Söhnen gemacht; Er selber hat uns im auferstandenen Christus zur vollen Freiheit gebracht.
Der Herr gebe uns stets offene Augen und ein einfältiges Herz, um unsere herrliche Stellung zu verstehen und sie durch einen würdigen Wandel zu verwirklichen!