Der Brief an die Galater
Galater 2
Nach seinem Besuch von fünfzehn Tagen in Jerusalem war Paulus unter den Nationen tätig; erst nach vierzehn Jahren ging er, wie er uns hier im ersten Vers mitteilt, wieder nach Jerusalem mit Barnabas und nahm auch Titus mit. Die Veranlassung zu dieser Reise finden wir in Apostelgeschichte 15 erwähnt. Paulus und Barnabas waren, nachdem sie viele Reisen gemacht hatten, wieder nach Antiochien gekommen, wo sie der Gnade Gottes anbefohlen worden waren zu dem Werk, das sie vollbracht hatten (Apg 13). Sehr bald mussten sie wahrnehmen, dass der Teufel in den Gemeinden beschäftigt gewesen war Unkraut zu säen. Denn „etliche, die von Judäa herabkamen lehrten die Brüder: Wenn ihr nicht beschnitten worden seid nach der Weise Moses, so könnt ihr nicht errettet werden. Als nun ein Zwiespalt entstand und ein nicht geringer Wortwechsel zwischen ihnen und dem Paulus und Barnabas, ordneten sie an, dass Paulus und Barnabas und etliche andere von ihnen zu den Aposteln und Ältesten nach Jerusalem hinaufgehen sollten wegen dieser Streitfrage“ (Apg 15, 1–2). Wie sie in Jerusalem ankamen, fanden sie dort dieselbe Sache: „Etliche aber derer von der Sekte der Pharisäer welche glaubten, traten auf und sagten: Man muss sie beschneiden und ihnen gebieten, das Gesetz Moses zu halten“ (Apg 15, 5). Daraus geht hervor, dass dieses Übel schon im Schoß der Gemeinde Platz gefunden hatte. Dann fand die Konferenz der Apostel und Ältesten in Gegenwart der ganzen Gemeinde über diesen Gegenstand statt. In Galater 2 teilt uns der Heilige Geist noch ein paar Einzelheiten mit, die in der Apostelgeschichte nicht erwähnt werden, nämlich, dass Paulus den Titus mitnahm und dass er infolge einer Offenbarung hinaufging. In der Apostelgeschichte wird uns einfach das äußere Geschehen mitgeteilt; hier finden wir die Absicht des Apostels, das, was sein Herz bewegte. Eine Tatsache von größtem Gewicht war, dass der Apostel Titus mitnahm, da dieser kein Jude war. Es war dies nicht einmal wie bei Timotheus, dessen Mutter eine Jüdin war. Titus war ein Grieche, der nie beschnitten worden war und diesen bringt der Apostel vor die Augen der zwölf Apostel und aller mit nach Jerusalem. Es war ein mutiger Schritt, um auf diese Weise den Streit zwischen ihm und den jüdisch gesinnten Christen zur Entscheidung zu bringen, und in Wahrheit ein sehr entschiedenes Gebrauchmachen von der Freiheit, die Paulus in Christus Jesus besaß. Und nachdem er den Galatern gesagt hat: „Ich zog aber hinauf zufolge einer Offenbarung und legte ihnen das Evangelium vor, das ich unter den Nationen predige, im Besonderen aber den Angesehenen damit ich nicht etwa vergeblich laufe oder gelaufen wäre“, fügt er scheinbar nebenbei die wichtige Bemerkung hinzu: „Aber auch Titus, der bei mir war, wurde, obwohl er ein Grieche war, nicht gezwungen, sich bescheiden zu lassen“ (Verse 2. 3).
Den eigentlichen Zweck seiner Reise finden wir in Vers 4 erwähnt, der mit dem ersten Vers in Zusammenhang steht, während die Verse 2 und 3 einen Zwischensatz bilden. Paulus ging nach Jerusalem „der nebeneingeführten falschen Brüder wegen, die nebeneingekommen waren, um unsere Freiheit auszukundschaften, welche wir in Christus Jesus haben, damit sie uns in Knechtschaft brächten“ (Vers 4); und er zog hinauf „zufolge einer Offenbarung“. Gott wollte, dass diese Frage nicht in Antiochien, sondern in Jerusalem entschieden werden sollte, damit aller Mund gestopft würde und die Einheit bewahrt bliebe. Auch erlaubte der Herr dem Apostel nicht, in seiner Überzeugung allein zu stehen, sondern Er ließ ihn nach Jerusalem hinaufgehen und den geachtetsten Aposteln das, was er lehrte, mitteilen, damit über diesen wichtigen Punkt, dieses Freisein vom Gesetz, ein einstimmiges Zeugnis gegeben werden sollte; auch sollten sie erkennen, dass Paulus unabhängig von ihnen, von Gott gelehrt und durch Gott in seinem Dienst bestätigt war.
Die Absicht dieser falschen Brüder war also, die in Christus Jesus freigemachten Gläubigen wieder unter das Joch des Gesetzes zu bringen. Sie bewiesen durch dieses Vorhaben, dass Gesetzlichgesinntsein und Unglaube Hand in Hand gehen; doch der Apostel kann sagen: „Denen wir auch nicht eine Stunde durch Unterwürfigkeit nachgegeben haben, damit die Wahrheit des Evangeliums bei euch verbliebe“ (Vers 5). Es gelang ihnen nicht, zu widerstehen und den Grund zu untergraben.
Nun kommt der Apostel auf jene zu sprechen, die den vornehmsten Platz in Jerusalem einnahmen: „die in Ansehen standen – was irgend sie auch waren, das macht keinen Unterschied für mich, Gott nimmt keines Menschen Person an“ (Vers 6). Die falschen Lehrer beschuldigten ihn, dass er nichts durch die zwölf Apostel empfangen hätte. Und er antwortet: Das ist auch so. Sind sie geachtet nun, so ist es gut, sie seien es vor sich und vor Gott; haben sie ihren Platz – ich habe den meinigen: „Denn mir haben die Angesehenen nichts weiter mitgeteilt; sondern im Gegenteil, als sie sahen, dass mir das Evangelium der Vorhaut anvertraut war, gleichwie Petrus das der Beschneidung (denn der, der in Petrus für das Apostelamt der Beschneidung gewirkt hat, hat auch in mir in Bezug auf die Nationen [Heiden] gewirkt), und als sie die Gnade erkannten, die mir gegeben ist, gaben Jakobus und Kephas und Johannes, die als Säulen angesehen wurden, mir und Barnabas die Rechte der Gemeinschaft damit wir unter die Nationen, sie aber unter die Beschneidung gingen, nur dass wir der Armen eingedenk wären, dessen ich mich auch befleißigt habe, also zu tun“ (Verse 7–10). Auf diese Weise waren die Beschuldigungen dieser jüdisch gesinnten Lehrer, dass keine Übereinstimmung zwischen Paulus und den andern Aposteln bestehe, genügend widerlegt.
Paulus war denn auch imstande, die Beweise seines besonderen und unabhängigen Dienstes zu liefern. Er hatte bereits manches Jahr im Segen gearbeitet, ohne dazu einen Befehl von den übrigen Aposteln empfangen zu haben, und nun mussten sie prüfen, ob sein Apostelamt und die ihm geoffenbarten Wahrheiten die unmittelbare Gabe des Herrn waren. Und die Zwölfe konnten nicht anders als dies anzuerkennen, wenn sie Gott als die Quelle dieser außergewöhnlichen Gaben erkannten. Paulus war ein Apostel Gottes ohne ihre Vermittlung. Er hatte nichts von ihnen empfangen, aber dieselbe Macht, die in Petrus für das Apostelamt der Beschneidung wirkte, hatte in Paulus unter den Nationen gewirkt. Und da sie dies erkannten, gaben die drei Angesehensten ihm und Barnabas die rechte Hand der Gemeinschaft; sie sahen in ihnen die besten Werkzeuge, um unter der Vorhaut zu arbeiten. Die große Ausdehnung der Heidenwelt war offensichtlich für Paulus und für die, die mit ihm waren, bestimmt, während sie selber ihre Sendung unter die Nationen, die ihnen durch den Herrn aufgetragen war (Mt 28, 19. 20), entschieden aufgaben und in ihrem beschränkten Kreis blieben. Nun waren also die Anstrengungen des Feindes, die Gläubigen aus den Heiden unter das Gesetz zu bringen, vereitelt.
Nachdem der Apostel von der Achtung und Anerkennung gesprochen hat, die Petrus, Jakobus und Johannes in Jerusalem ihm und seinem Werk erzeigt hatten, kommt er auf eine Sache, die noch treffender war für jene, welche die Nationen unter das Gesetz bringen wollten. „Als aber Kephas (Petrus) nach Antiochien kam, widerstand ich ihm ins Angesicht, weil er dem Urteil verfallen war“ (Vers 11). Petrus gab Paulus in Jerusalem, die rechte Hand der Gemeinschaft, aber als er nach Antiochien kam, widerstand Paulus ihm ins Angesicht. Und das war offenbar eine wohlbekannte Sache. „Denn bevor etliche von Jakobus kamen, hatte er mit denen aus den Nationen gegessen“, was das Zeichen der Gemeinschaft mit ihnen war.
Bei dieser Begebenheit wird es deutlich, dass Petrus vor Paulus keinen Vorrang hatte, dass er keineswegs der Mann war, dem gegenüber man ein ehrfurchtsvolles Schweigen zu beobachten hatte. Obgleich Gott mächtig durch Petrus gewirkt hatte, kann Paulus doch nicht zulassen, dass das Evangelium, das Gott selbst seiner Sorge anvertraute, auf solche Weise in Frage gestellt wurde. Solange Petrus sich allein in Antiochien befand, wo der Einfluss der himmlischen Wahrheit deutlich spürbar war, aß er mit den Christen aus den Nationen und wandelte mit den andern in derselben Freiheit; doch sobald einige Anhänger des Jakobus aus Jerusalem kamen, wagte er es nicht länger, eine Freiheit zu vertreten, die durch Christen, die in ihren Ansichten noch jüdisch waren, verurteilt wurde. „Er zog sich zurück und sonderte sich ab, da er sich vor denen aus der Beschneidung fürchtete“ (Vers 12). Wie groß ist der Einfluss der Vorurteile, vor allem der gesetzlichen Vorurteile. Petrus war zu schwach, um mit Entschiedenheit den Meinungen anderer entgegenzutreten. Durch die Macht der Vorurteile und durch die Ansichten anderer zum Wanken gebracht, gab er seine Freiheit auf und aß nicht länger mit den Christen aus den Nationen – und das tat der vornehmste der Apostel. So wenig bedeutend diese Sache an sich erscheinen mochte, war sie doch in den Augen Gottes und Seines Dieners wichtig genug. Paulus sah, dass durch diese scheinbar geringfügige Sache die Wahrheit des Evangeliums verleugnet wurde. Lasst uns hierüber ernstlich nachdenken. Eine scheinbar unwichtige Sache kann zu einem völligen Abweichen von Christus und von der Wahrheit des Evangeliums führen. Wie verkehrt ist es darum, solche Dinge gering zu achten. Und sobald wir uns selber mitreißen lassen, üben wir auch einen verderblichen Einfluss auf andere aus, und das in dem Maß, in dem unser Ansehen unter den Menschen groß oder klein ist; ja, wir können so weit kommen, dass wir mit Eifer darnach trachten, auch andere für unsere Meinung zu gewinnen, um dadurch unser eigenes Gewissen zu beruhigen und unser Ansehen zu erhalten. Petrus, der von denen, die von Jerusalem kamen, ängstlich war, riss alle Christen aus den Juden, sogar Barnabas, den Gefährten des Paulus, in seiner Heuchelei mit (Vers 13). Paulus, mutig und treu durch die Gnade, blieb allein aufrichtig. Paulus, von Gott gelehrt und voll Kraft des Heiligen Geistes, die ihn hatte einsehen lassen, dass alles, was das Fleisch erhebt, die himmlische Herrlichkeit verdunkelt und das Evangelium verfälscht; Paulus, der in der neuen Schöpfung, deren Mittelpunkt der verherrlichte Christus ist, lebte und sich bewegte; Paulus, ebenso standhaft wie mutig, ebenso lauter wie kühn, da er in der Verwirklichung der geistlichen und himmlischen Dinge in Christus lebte; Paulus, der alles, was er eingebüßt hatte, für Dreck achtete, um Christus zu gewinnen, sah sehr klar den fleischlichen Schritt des Apostels der Beschneidung. Er ließ sich durch Menschen nicht abschrecken; er beschäftigte sich mit Christus und mit der Wahrheit; er konnte darum unmöglich den verschonen, der diese Wahrheit verleugnete, mochte sein Platz in der Gemeinde noch so erhaben sein. Er widerstand Petrus ins Angesicht, weil er ihn strafen musste. Ohne Furcht und alle menschlichen Überlegungen beiseite stellend, schaute er allein auf Christus, das Haupt der Versammlung.
Die Darstellung des Apostels hat deshalb um so mehr Kraft, weil dies alles vorgefallen war nach der feierlichen Konferenz in Jerusalem, an welcher Petrus sich beeifert hatte, die durch Gott den Nationen gegebene Freiheit zu betonen, wo er sagte, dass die Nationen durch seinen Mund das Wort des Evangeliums hören und glauben sollten (Apg 15, 7) und seine Rede mit jenen denkwürdigen Worten – so ärgerlich für den jüdischen Hochmut und so stärkend für die beunruhigten Herzen der Christen aus den Nationen – beschlossen hatte: „Wir glauben durch die Gnade des Herrn Jesus in derselben Weise errettet zu werden wie auch jene“ (Apg 15, 11). Dort vor den Juden hatte Petrus gesagt, nicht, dass die aus den Nationen auf gleiche Weise wie sie errettet würden, sondern umgekehrt: „Wir glauben auf gleiche Weise wie auch jene errettet zu werden.“ Petrus dachte nicht daran, die aus den Nationen zu behandeln, als ob sie auf unrichtigem Weg in den Besitz der Gnade gekommen wären; denn Gott hatte an den Christen aus den Nationen die Wahrheit noch deutlicher in Erscheinung treten lassen. Trotzdem ließ sich Petrus von diesem Hauptpunkt des Evangeliums abbringen und riss sogar andere mit.
Die Sache war in Paulus Augen so wichtig, dass er in der Gegenwart aller zu Petrus sagte: „Wenn du, der du ein Jude bist, wie die Nationen lebst und nicht wie die Juden, wie zwingst du denn die Nationen, jüdisch zu leben?“ (Vers 14). Petrus selbst hatte das Gesetz als Richtschnur für die Gläubigen aus den Juden keineswegs gehalten. Er war frei genug gewesen, als ein Christ aus den Nationen zu leben; warum wollte er nun diese zwingen als Juden zu leben um christliche Gemeinschaft zu haben? „Wir von Natur Juden und nicht Sünder aus den Nationen, aber wissend, dass der Mensch nicht aus Gesetzeswerken gerechtfertigt wird, sondern nur durch den Glauben an Jesus Christus, auch wir haben an Christus Jesus geglaubt, damit wir aus Glauben an Christus gerechtfertigt würden und nicht aus Gesetzeswerken, weil aus Gesetzeswerken kein Fleisch gerechtfertigt werden wird“ (Verse 15, 16). Sie selber, obwohl Juden, hatten das Gesetz aufgegeben und zu Christus ihre Zuflucht genommen. Früher meinten sie im Gesetz ein Mittel der Rechtfertigung zu finden; nun hatten sie aber einfach Christus angenommen und aufgehört, eine Gerechtigkeit aus Gesetzeswerken zu suchen.
„Wenn wir aber, indem wir in Christus gerechtfertigt zu werden suchen, auch selbst als Sünder erfunden worden sind – ist denn Christus ein Diener der Sünde? Das sei ferne!“ (Vers 17). Hierzu führt notwendig eine Rückkehr zum Gesetz, denn durch den Wiederaufbau des Gesetzes bezeugten sie, durch dessen Umwerfen Unrecht getan zu haben; und Christus war es, der sie dazu gebracht hatte. Also hatte Seine Lehre sie zu Übertretern gemacht, und folglich war Er ein Sündendiener. Das sind die traurigen Folgen, sobald man, um den Menschen zu gefallen, zu solchen Dingen zurückkehrt. Wie wenig dachte Petrus daran! Und wie wenig bedenken viele Christen, dass sie sich auf das Fleisch verlassen, wenn sie Satzungen einführen. Im Himmel gibt es keine, und wenn Christus, der droben ist, alles in allem ist, dann kann es auch hier keine geben. Selbst wenn wir in den Vorrechten, die uns als Christen geschenkt sind, unsere Ruhe suchen, anstatt sie mit Dankbarkeit nach Seinem Willen zu gebrauchen, haben wir die Fülle, die Allgenugsamkeit des Christus verlassen, um auf das Fleisch zu vertrauen. Das Fleisch aber beschäftigt sich manchmal auf eine Weise mit den Vorrechten, dass es darin seine armselige Nahrung findet, wodurch der vollkommene Erlöser, von dessen Liebe und Gnade diese Vorrechte so deutlich zu uns reden, dann vor uns verschleiert wird. Dies ist selbst der Fall bei den göttlichen Einsetzungen wie Taufe und Abendmahl. Suchen wir unsere Ruhe in diesen Vorrechten, so tun wir nichts anderes als die herrliche und ernste Wahrheit verleugnen, von der sie Zeugnis geben, dass jede Möglichkeit einer Gerechtigkeit nach dem Fleisch verschwunden ist, seitdem Christus gestorben und auferstanden ist. Das fühlte der Apostel tief, und er war berufen, diese Wahrheit durch die Kraft des Heiligen Geistes vor die Augen und vor das Gewissen der Menschen zu stellen. Ach, wie viel Mühe, Sorge und Kampf hatte der Apostel in dieser seiner Aufgabe!
„Denn wenn ich das“, fährt Paulus fort, „was ich abgebrochen habe, wiederum aufbaue, so stelle ich mich selbst als Übertreter dar“ (Vers 18). Das will sagen: Wenn ich zu Christus gehe, gebe ich das Gesetz als kraftlos auf; kehre ich aber nachträglich wieder zum Gesetz zurück, dann mache ich mich selbst zu einem Übertreter; denn wenn ich jetzt recht habe, hatte ich früher ganz und gar unrecht, das Gesetz aufzugeben. Die Galater meinten dies wohl nicht so, aber der Heilige Geist lässt das Licht der Wahrheit in ihre Gewissen dringen und zeigt ihnen, wohin sie schließlich kommen würden. Durch die Wiedereinführung des Gesetzes wurden die Galater zu Übertretern und Christus zu einem Diener statt zum Erlöser von der Sünde.
Die Wahrheit ist: „Ich bin durch das Gesetz dem Gesetz gestorben, damit ich Gott lebe“ (Vers 19). Als Jude stand Paulus unter dem Gesetz. Aber bei seiner Bekehrung hatte er wahrlich seinen Zustand als Sünder gefühlt und die tötende, nicht lebendig machende Kraft des Gesetzes erfahren. Er hatte die gänzliche Verdorbenheit des Fleisches und dessen Ohnmacht und Nichtigkeit kennen gelernt; das Gesetz konnte ihn nur verurteilen, nicht aber ihm zu Hilfe kommen. Doch er hatte Christus gefunden, der als ein Fluch gestorben war; mit Ihm war er gestorben, das Urteil des Gesetzes – der Tod – war an ihm vollzogen. Aber gerade dadurch war er vom Gesetz freigemacht; denn, einmal gestorben, konnte das Gesetz für ihn nicht mehr gültig sein, er war darum „durch das Gesetz dem Gesetz gestorben.“ Christus war gestorben, weil das Gesetz das Urteil über die Sünder ausspricht. Paulus war mit Ihm und also durch das Gesetz gestorben; da aber Christus das Ende des Gesetzes ist, war er durch diesen Tod zugleich dem Gesetz gestorben, um nun Gott zu leben. Das Gesetz kann niemandem das Leben geben; es tötet – und um Gott zu leben, muss man das Leben besitzen. Darum muss man vom Gesetz zu Christus kommen. In Ihm sind wir freigemacht; in Ihm haben wir das Leben; nun können wir Gott leben.
„Ich bin mit Christus gekreuzigt, und nicht mehr lebe ich, sondern Christus lebt in mir“ (Vers 20). Als mit Christus gekreuzigt, hat das Gesetz kein Recht mehr über ihn; denn das Leben, über das die Herrschaft des Gesetzes sich erstreckte, hat am Kreuz sein Ende gefunden. Obschon gekreuzigt, lebte er, doch nicht er, sondern Christus lebte in ihm. Er besaß ein ganz neues Leben, das Auferstehungsleben, und dieses Leben ist Christus. Er war nicht nur ein Leib mit Christus im Tod, sondern auch in der Auferstehung. Und das gilt für alle Christen. Christus ist das Leben. Wer an Ihn glaubt, ist mit Ihm gestorben und hat ewiges Leben. Wohl ist es wahr, dass das Fleisch, sobald man die Gemeinschaft mit Gott verlässt, in seinem Hochmut, seiner Eitelkeit, seiner Bequemlichkeit, seinen alten Gewohnheiten sich offenbart und man dann nicht glücklich sein kann, ehe man sich selber verurteilt und seine Sünden bekannt hat; doch mit Christus vereinigt, hat man das Leben, über welches das Gesetz keine Macht hat (Römer 8, 1. 2).
Wenn wir durch den Tod des Christus vom Gesetz freigemacht und durch Seine Auferstehung eines neuen, himmlischen Lebens teilhaftig geworden sind, kann das Gesetz unmöglich unsere Lebensregel sein. Sind wir im Zustand des ersten Adam, dann ist das Gesetz unsere Richtschnur; denn es ist die Lebensregel für den Tod, da es zu toten Sündern kommt. Sind wir aber in Christus gepflanzt, dann sind wir nicht mehr tot, sondern lebendig gemacht. Ein mit Christus Lebendiggemachter kann unmöglich die Lebensregel des Todes als Richtschnur für seinen Wandel annehmen. Ist Christus unser Leben, dann muss auch Christus selber unsere Lebensregel sein. Es ist da keine Rede vom Gesetz, weder zur Rechtfertigung, noch als Richtschnur für den Wandel. Christus ist unser Vorbild und der Gegenstand des Glaubens. Er hat den Vater vollkommen verherrlicht; in Ihm finden wir die Werke vorbereitet, darin wir wandeln sollen. Nun lebt Christus in uns. Und gleichwie der Glaube an Christus dieses Leben entstehen lässt, so ist auch der Glaube an Christus die Kraft dieses Lebens. „Was ich aber jetzt lebe im Fleisch, lebe ich durch Glauben, durch den an den Sohn Gottes, der mich geliebt und sich selbst für mich hingegeben hat“ (Vers 20). Christus, welcher der Quell unseres Lebens, ja unser Leben selbst ist, ist auch der Gegenstand unserer Betrachtung. Der Gläubige lebt nicht durch das Beobachten des Gesetzes, sondern durch das Schauen auf Christus und auf Ihn allein. Durch dieses Betrachten werden wir Ihm auch im Wandel gleichförmig. „Wir alle aber, mit aufgedecktem Angesicht die Herrlichkeit des Herrn anschauend, werden verwandelt nach demselben Bilde von Herrlichkeit zu Herrlichkeit, als durch den Herrn, den Geist“ (2. Kor 3, 18).
Mit voller Freimütigkeit kann der Apostel weiter erklären: „Ich mache die Gnade Gottes nicht ungültig.“ Das taten die andern, die auf ihre Weise das Gesetz hielten zur Rechtfertigung. „Wenn aber Gerechtigkeit durch Gesetz kommt, dann ist Christus umsonst gestorben“ (Vers 21), da wir dann die Gerechtigkeit durch unser Halten des Gesetzes und also durch uns selbst erlangen würden. Die Wirkung des Gesetzes selber auf den Gläubigen ist, dass er sich nach seinem Bekenntnis niemals über die Erfahrungen eines Sünders erheben kann. Er ist immer in dem Zustand, in welchem er ausrufen muss: „Ich elender Mensch! Wer wird mich retten von diesem Leib des Todes?“ (Römer 7, 24). Sobald er sich aber in der herrlichen Stellung befindet, die er in Christus einnehmen kann, kann er sagen: „Das Gesetz des Geistes des Lebens in Christus Jesus hat mich freigemacht von dem Gesetz der Sünde und des Todes“ (Römer 8, 2). Er muss ausrufen: O wie glücklich bin ich; Christus hat mich freigemacht! „Es ist keine Verdammnis für die, welche in Christus Jesus sind“ (Römer 8, 1). Das ist der wahre und sichere Platz für den Christen. Der persönliche Glaube pflanzt uns in Christus und macht Ihn als den Gegenstand des vertraulichen Umgangs der Seele teuer. Welch ein furchtbarer und unersetzlicher Schaden, solch einen Christus, wie wir Ihn auf dem Boden der Gnade kennen gelernt haben, solch eine Gerechtigkeit, solch eine Liebe zu verlieren! Unser Teil, unser Leben ist der Sohn Gottes; Er ist für uns dahingegeben und Er ist uns geschenkt. Das war es, wodurch der Apostel so sehr ergriffen wurde, dass er im folgenden Kapitel bewegten Herzens ausruft: „O unverständige Galater! Wer hat euch bezaubert?“