Betrachtung über den Propheten Jona (Synopsis)
Kapitel 4
Der Gott der Gnade hat Mitleid mit den Werken seiner Hände, wenn Er sieht, dass sie sich vor Ihm demütigen und bei der Ankündigung seiner gerechten Strafurteile zittern. Jona aber hat kein Herz für sie, sondern ist nur um sein eigenes Ansehen als Prophet besorgt. Welch ein erbärmliches Ding ist doch das menschliche Herz! Wie ist es doch so völlig außerstande, sich zu der Güte Gottes zu erheben! Hätte Jona Gott nähergestanden, so würde er gewusst haben, dass dies das wahre Wesen des Gottes ist, den er verkündigte und den er so kennen- und liebengelernt hätte. Er wäre imstande gewesen zu sagen: „Nun haben die Niniviten wirklich zu ihrem Glück den Gott kennengelernt, für den Zeugnis abzulegen meine Freude war.“ Jona aber dachte nur an sich selbst; die entsetzliche Selbstsucht seines Herzens bildete die Scheidewand, die den Gott der Gnade vor ihm verbarg, den Gott, der in der Liebe zu seinen hilflosen Geschöpfen immer Derselbe bleibt. In Kapitel 4, 2 tritt die Gesinnung Jonas in ihrer ganzen Hässlichkeit zutage. Die Gnade Gottes ist für den Stolz des Menschen unerträglich. Mit seiner Gerechtigkeit ist man gern zufrieden, denn der Mensch kann sich ihrer bedienen, um selbst an Ruhm zu gewinnen. Die Ankündigung der Rache, wenn sie mit der Macht zur Ausführung derselben verbunden ist, ist ganz nach seinem Sinn. Gott muss allerdings seine Gerechtigkeit kundwerden lassen; Er kann den Menschen unmöglich in der Sünde retten. Er lässt ihn seine Sünde erkennen, damit Er ihn mit sich versöhnen könne und damit seine Wiederherstellung eine wirkliche sei, indem sein Herz und sein Gewissen mit Gott in Einklang gebracht werden. Doch hat Er dabei die Absicht, dadurch, dass Er ihm vergibt, die Gedanken seines eigenen Herzens offenbar werden zu lassen.
Indessen steht Gott über all der erbärmlichen Schlechtigkeit des Menschen, so dass Er selbst einem Jona in Güte begegnen kann. Indes lässt Er ihn gleichzeitig empfinden, dass Er nicht gewillt ist, dem Eigensinn des menschlichen Herzens zuliebe auf die Betätigung seiner Gnade, die Offenbarung seines eigentlichen Wesens, Verzicht zu leisten. Er lindert den Kummer Jonas, der darüber ärgerlich ist, dass seine Worte nicht in Erfüllung gegangen sind; und dieser, in seiner Selbstsucht, erfreut sich der ihm zuteil gewordenen Linderung. Die Befriedigung, die er darüber empfindet, dass er vor der brennenden Sonnenhitze geschützt ist, lässt ihn beinahe die von ihm herbeigewünschte Rache vergessen. Er war aus Ninive hinausgegangen und hatte sich an einem einsamen Ort hingesetzt, damit er sähe, was mit dieser Stadt, deren Buße sein böses Herz verdross, geschehen würde. Und nun findet er, mitten in seinem Ärger, sein Vergnügen an dem Wunderbaum, den Gott für ihn bestellt hatte. Welch einem Beweis von der äußersten Verderbtheit des Fleisches begegnen wir hier! Das Herz ist über die Buße des Sünders, über seine Umkehr zu Gott empört! Das ist wirklich der Punkt, um den es sich hier handelt; denn um ihrer Buße willen wird die Stadt verschont. Wird Gott den schlagen, der sich wegen seiner Sünde demütigt und zu Ihm umkehrt? Wer das menschliche Herz nicht kennt, wird freilich nicht wissen, wie er einen Ausspruch wie diesen: „Die Liebe freut sich nicht der Ungerechtigkeit“, anwenden soll. Hier ist ein Fall, wo er am Platz ist. In dem Gleichnis von dem verlorenen Sohn finden wir bei dem älteren Bruder das nämliche wie hier bei unserem Propheten sowie auf seiten Gottes die gleiche Belehrung und dieselbe Geduld und Gnade. Wenn aber der Mensch an dem Gefallen findet, was ihm in seinem Leid Erleichterung verschafft, und sich in seiner Selbstsucht sogar ärgert, wenn das, was ihm Linderung gewährte, zugrunde geht, sollte dann nicht auch Gott die Werke seiner Hand verschonen und mit dem Mitleid haben, was Er in seiner Güte erschaffen hat? Sicherlich wird Er nicht auf den Menschen hören, der nicht will, dass Seine Güte denen gegenüber zum Ausdruck komme, die ihrer bedürfen.
Der letzte Vers unseres Buches ist von ergreifender Schönheit. In demselben offenbart Gott jene Kraft seiner Liebe, die sich mit zwingender Notwendigkeit äußern muss. Wohl lassen sich die Strafandrohungen seiner Gerechtigkeit hören, ja sie müssen gehört und auch vollstreckt werden, wenn der Mensch in seiner Empörung beharrt; aber nichts vermag seine Liebe aus ihrer Ruhe zu bringen, aus einer Ruhe, die jener vollkommenen, unabänderlichen Güte entströmt, die jede Gelegenheit benutzt, wo sie sich offenbaren kann, so oft nur der Mensch, um mich so auszudrücken, es Gott erlaubt, ihn zu segnen – der Ruhe einer Vollkommenheit, der nichts entgehen kann, die auf alles achthat, um ihrem eigenen, durch nichts zu erschütternden Wesen gemäß zu handeln – ja, der Ruhe Gottes selbst, die wesentlich zu seiner Vollkommenheit gehört, von der unsere ganze Segnung und unser ganzer Friede abhängt.
Es mag hier am Platz sein, darauf hinzuweisen, dass es sich in diesem Buch nicht um das Gericht des großen Tages über die Geheimnisse aller Herzen (Pred 12, 14) handelt, sondern darum, wie Gott in seiner Regierung mit den Menschen auf Erden verfährt. Dasselbe ist übrigens bei allen Propheten der Fall. Beachten wir ferner, dass Gott sich in diesem Buch als Gott-Schöpfer (Elohim) offenbart. Wir wissen, dass selbst die Geschöpfe der Tierwelt heute noch unter den Folgen unserer Sünde seufzen. Aber auch sie sind Gegenstände der Güte und des Erbarmens Gottes, dessen liebende Fürsorge ihnen zuteil wird. Nicht ein Sperling fällt auf die Erde ohne Ihn. Der Tag wird kommen, an dem der Fluch hinweggetan werden wird, und dann werden sie, befreit von Knechtschaft und Verderbnis, sich der Freiheit der Herrlichkeit der Kinder Gottes erfreuen. Für uns wird Gott „unser Vater“, allein Er wird sich auch in seinem Charakter als der HERR offenbaren und als solcher Israel richten sowie seine Verheißungen und Gnadenabsichten betreffs dieses Volkes trotz des Widerstandes der ganzen Welt zur Ausführung bringen. Auch hört Er nie auf, Gott-Schöpfer zu sein. Er gibt nicht einen dieser Charaktere auf, um dafür einen anderen anzunehmen; aber ebensowenig vermengt Er sie miteinander, da sich in ihnen seine Natur und das, was Er ist, offenbaren.
Schließlich ist es doch lieblich zu sehen, dass Jona am Ende der Stimme Gottes Gehör schenkte. Der Beweis dafür ist das Bestehen dieses Buches, in dem der Geist ihn benutzt, um das, was im Herzen eines Menschen ist, der als ein Gefäß des Zeugnisses Gottes dienen soll, an den Tag zu legen, zugleich aber auch, um im Gegensatz zu dem Verhalten des Propheten (der offen alle seine Fehler bekennt), die Güte Gottes zu offenbaren – eine Güte, zu der sich Jona weder erheben noch sich ihr unterwerfen konnte.
Endlich möchte ich noch bemerken, dass die Geschichte Jonas im Neuen Testament nach zwei Seiten hin angeführt wird, die man nicht miteinander vermengen darf. Einmal vergleicht der Herr das Zeugnis, welches Jona durch das Wort Gottes in der Welt abzulegen hatte, mit dem Dienst, den Er selbst ausrichtete; und dann benutzt Er seinen Aufenthalt im Bauch des Fisches als ein Bild von der Zeit, während welcher Er im Grab lag. Durch seine Predigt war Jona ein Zeichen für die Niniviten, wie der Herr es den Juden gegenüber war; diese aber waren schwerhöriger und hartherziger als jene Heiden, die doch Gott fern standen. – Ferner bildete Jona in dem, was ihm infolge seiner Weigerung, als Zeuge Gottes aufzutreten, begegnete, das vor, was mit Jesus geschah, als dieser die Strafe für die Sünde des Volkes trug, und als Er, nach seiner Auferweckung aus den Toten, Selbst zum Zeugnis der Gnade wurde, gleichzeitig aber auch zur Ursache des Gerichts für diejenigen, die Ihn verworfen hatten. Dass sich in Jona die Gesinnung und das Verhalten Israels in bemerkenswerter Weise widerspiegeln, haben wir bereits aus seiner Geschichte gesehen.