Betrachtung über den Propheten Jona (Synopsis)
Kapitel 1
Ninive – das die Welt in ihrer natürlichen Herrlichkeit darstellt, eine Welt voller Stolz und Ungerechtigkeit, die sich um Gott und seine Herrscherrechte nicht kümmert – hatte das gerechte Gericht Gottes verdient. Dieser Umstand veranlasst die ganze Entfaltung der Handlungen und Wege Gottes, denen wir in diesem Buch begegnen. An Jona erging die Aufforderung, dieses Gericht anzukündigen. Die Natur des Menschen, dem das Zeugnis Gottes anvertraut wird, hat das verabscheuungswürdige Bestreben, sich selbst die Wichtigkeit der Botschaft, deren Träger er ist, beizulegen. Dass Gott in seiner Gnade ihn mit dieser Wichtigkeit bekleiden kann, ersehen wir aus der Geschichte eben dieser Gnade, wenn aber der Mensch selbst es tut, der mit der Botschaft betraut ist, so ist das nur Stolz und Eitelkeit. Es kommt dann bei solchen dahin, dass sie es nicht ertragen können, wenn Gott sich anderen gegenüber gnädig erweist, oder wenn Er seine Gedanken oder sein Wesen auf irgendeine andere Weise als durch ihre Vermittlung offenbart, und sollte dies selbst in Gnade geschehen. Sie müssen die Sache tun, sie müssen die Ehre davon haben; und so sind alle ihre Gedanken über Gott nur auf ihren eigenen Gesichtspunkt beschränkt, sie beziehen sich nur auf den Teil der Botschaft Gottes, der ihnen anvertraut worden ist. Man vergleiche hiermit das, was wir bei Mose und Elia, jenen hervorragenden Dienern Gottes, gesehen haben. Der Gedanke an jene über allem stehende Gewalt Gottes, die imstande ist zu vergeben, ist zuviel für das Herz; es kann ihn nicht ertragen. Eine Selbstverleugnung, die nur den Willen Gottes auszuführen trachtet, mag dieser bestehen worin er will, lässt Gott allen Ihm zukommenden Ruhm; und wenn Er sich darin verherrlicht, dass Er Gnade erweist, so kann sie Ihm von Herzensgrund dafür danken. Fehlt aber diese Selbstverleugnung, so möchten wir gern das Schwert seiner Rache schwingen, was (leider!) mehr mit unseren natürlichen Herzen übereinstimmt und mehr dazu geeignet ist, die Wichtigkeit unserer eigenen Person zu erhöhen.
„Willst du, dass wir Feuer vom Himmel herabfallen heißen, wie auch Elia tat?“ so lautet der Ausdruck der natürlichen Gefühle des Herzens; denn in der Vollziehung der Rache offenbart sich Macht. Die Gnade stellt es dem sündigen Menschen anheim, sich des Erbarmens zu erfreuen; sie lässt die Macht nicht in Ausübung kommen, sondern verschont diejenigen, gegen die sich die Erweisung der Macht gerichtet haben würde. Andererseits ist es Gott allein, der Gnade erzeigen kann.
Die Androhung der Rache wird in dem Herzen des Menschen mit der Person des Mannes in Verbindung gebracht, der bevollmächtigt ist, sie anzukündigen. Sowohl die Botschaft wie der Bote werden gefürchtet. Ein Mensch dagegen, dem Vergebung zuteil geworden ist, ist mehr mit seiner eigenen Freude beschäftigt sowie mit Dem, der ihm vergeben hat, als mit dem Boten, der ihm die Vergebung verkündigt. Überdies, wenn Gnade erwiesen wird, so begegnet dieselbe der Angst, die das angedrohte Gericht einflößt. Ist nun der Bote nicht selbst von dem Geist der Liebe erfüllt, so fühlt er, dass er sich in der Gegenwart eines Gottes befindet, der über seinen Gedanken steht, und er fürchtet sich vor Ihm, weil er Ihn nicht kennt. Auch ist ihm um sein eigenes Ansehen bange, wenn dieser Gott gnädiger sein sollte, als es ihm in seiner Engherzigkeit lieb ist und als die Botschaft lautete, deren Überbringer er war.
So war es bei Jona, obwohl er Gott fürchtete. Er flieht von dem Angesicht des HERRN hinweg, da er fühlt, dass er nicht darauf rechnen kann, dass Gott das kleinliche Begehren seines engen Herzens erfüllen werde (vgl. Kap. 1, 3; 4, 2).
Man fühlt, dass Gott über den Wünschen des menschlichen Herzens steht. Andererseits hat man aber an der Wahrheit Gottes Gefallen, wenn man sich derselben bedienen kann, um das eigene Ansehen zu erhöhen. Das sehen wir bei Israel.
Israel, dem das Zeugnis Gottes in der Welt anvertraut war, rühmte sich desselben, weil es sich dadurch geehrt fühlte; es konnte aber nicht ertragen, dass die Gnade den Heiden gegenüber ausgeübt wurde. Gerade durch ihren Widerstand hiergegen machten die Juden das Maß ihrer Bosheit voll und brachten den Zorn Gottes über sich (vgl. Jes 43, 10; 1.Thes 2, 16).
Es werden uns also in dieser Weissagung zwei Grundwahrheiten vor Augen geführt, auf die gestützt das Zeugnis Gottes abgelegt werden kann. Zunächst wird der Mensch zur Ablegung desselben berufen, und zwar soll die Ausführung dieses Auftrags, für die er verantwortlich ist, seine Treue gegen Gott an den Tag legen. Wie wir bereits gesehen haben, war dies die Stellung, in der sich Israel befand. Die ganze Geschichte dieses Volkes dient zum Beweise hierfür. Da Gott ihm das gesegnete Teil geschenkt hatte, Ihm nahe zu sein, so hätte Israel der ganzen Welt gegenüber ein Zeuge von dem Wesen des einzig wahren Gottes sein sollen. Doch ohne alles Verständnis dafür, dass Seine Gnade auch den Heiden gegenüber in Ausübung kommen sollte (wiewohl das Haus des HERRN jederzeit das Bethaus für alle Nationen war), ließ es Israel sogar an der Bewahrung der eigenen Treue, und somit an dem einzigen fehlen, woraus die Welt als solche hätte lernen können, was Gott in Wirklichkeit war. Anstatt daher zu einer Segensquelle für andere Völker zu werden, verstrickte es dieselben nur in die göttlichen Strafgerichte, von denen es selbst getroffen werden musste. Das ist das Bild, das uns Jona in seiner eigenen Geschichte vor Augen stellt, als er die Botschaft Gottes zum erstenmal empfing. Dieselbe Sache wird am Ende des Zeitalters eintreten. Israel wird sich, treulos gegen Gott, inmitten der Wogen dieser Welt befinden, in der Blindheit seines Unglaubens wird es keine Empfindung von dem Strafgericht haben, das es zu verschlingen droht, und wird alle übrigen Nationen mit in das verwickeln, was es durch seine eigene Sünde über sich gebracht hat; und endlich werden durch die Dazwischenkunft Gottes auch die anderen Völker dazu gebracht werden, seine Macht und seine Herrlichkeit anzuerkennen.
Lasst uns hier noch beachten, dass der in Rede stehende Grundsatz sich stets als wahr erweist. Wenn diejenigen, denen Gott in seiner Gnade ein Zeugnis anvertraut hat, dieses Zeugnis nicht – entsprechend der Gnade, der sie es zu verdanken haben – zum Wohle anderer benutzen, so werden auch sie es bald in ihrem eigenen Wandel vor Gott an Treue fehlen lassen, denn wenn Gott wirklich den Ihm gebührenden Platz in ihren Herzen hätte, so würden sie sich verpflichtet fühlen, seinen Namen anderen bekannt zu machen, um auch diese an dem Segen, den sie genießen, teilnehmen zu lassen. Ist ihnen aber seine Herrlichkeit und seine Gnade nicht das, was sie sein sollte, dann werden sie auch sicher nicht imstande sein, selbst in Wahrheit vor Ihm zu wandeln. Es kann dies nicht anders sein, denn der Gott, der voller Gnade ist, ist auch allein unsere Kraft.
Das erste Bild, das uns vor Augen gestellt wird, ist demnach dasjenige eines Mannes, der berufen wird, inmitten einer stolzen, verderbten Welt, die ihrem eigenen Willen folgt und weder die Herrscherrechte noch die Heiligkeit Gottes achtet, der Zeuge Gottes zu sein. Dieser Mann befindet sich aber nicht genügend in der Nähe Gottes, um auch die heilige und liebevolle Gesinnung zu teilen, die sich in dem Wirken Gottes offenbart. Da er weiß, dass Gott gnädig ist, so schreckt er vor der Aufgabe zurück, einen solchen Gott der Welt gegenüber zu vertreten. Sich mit dem Namen Gottes zu schmücken, um dadurch sein eigenes Ansehen zu erhöhen, das würde Jona, der Jude, nicht zurückgewiesen haben. Wenn es sich aber darum handelte, die Bürde auf sich zu nehmen, die das Zeugnis eines solchen Gottes, der ebenso gnädig und barmherzig wie heilig ist, notwendig mit sich brachte, so war das für das stolze, ungeduldige Herz dieses Mannes zuviel. Er verlangte vielmehr danach, seinen eigenen Willen vermittelst des Gerichts zur Ausführung kommen zu sehen, wenn sich die anderen nicht durch einen heiligen Wandel demselben fügten.
Man beachte, dass Jona von dem Angesicht des HERRN floh, also nicht etwa vor dem Widerspruch, dem er in dem fleischlich gesinnten Ninive infolge seines Zeugnisses begegnete. Christus, unser hochgepriesener Herr, ist der einzige, der die Aufgabe, von der wir hier reden, erfüllte. Er ist der treue Zeuge. In Ps. 40 redet Er von der Art und Weise, in der Er diese Aufgabe übernahm und ausführte. Er wohnte in einer Herrlichkeit, die Ihn so völlig über einen solchen Platz erhob, dass nichts anderes als unumschränkte Gnade Ihn auf denselben herabbringen konnte. Und doch war es diese Herrlichkeit allein, die Ihn befähigte, trotz all der Schwierigkeiten, die Ihm die Feindschaft des Menschen in den Weg legte, jene Aufgabe zu übernehmen und auszuführen. So groß auch seine Herrlichkeit war, vollführte er doch die Aufgabe als eine Pflicht, und dies selbst bis in den Tod, indem Er die niedrige Stellung eines gehorsamen Knechtes einnahm. Aus den beiden ersten Versen des genannten Psalmes ersehen wir, bis wohin Er ging, und wie Er sich vor nichts zu bergen suchte, sondern seine ganze Zuversicht auf Gott setzte. Um diese Aufgabe zu vollbringen, wurde Er Mensch (V. 6 – 8). Er führte sie treulich aus (V. 9. 10), indem Er die Wahrheit und die Gerechtigkeit des HERRN vor der Versammlung Israels nicht verhehlte. Vom 11. Verse an sehen wir Ihn unter dem schweren Druck der Lage, in der Er einerseits durch die Bosheit des Menschen gekommen war, und andererseits dadurch, dass Er die Sache seines Volkes auf sich nahm. Er befiehlt sich den Erbarmungen des HERRN an und bittet dann, nachdem Er sein Zeugnis in vollkommener Geduld abgelegt hat, um die Vollziehung des Gerichts an seinen Feinden, den Feinden des Zeugnisses Gottes, da unter der jüdischen Haushaltung die Zeit für das Gericht herangekommen war.