Vorträge zum Matthäusevangelium
Kapitel 10
Am Ende des vorigen Kapitels sprach unser Herr, als Er auf die verlorenen Schafe des Hauses Israel blickte, von ihnen im tiefsten Mitgefühl als Schafe ohne Hirten. Er empfand jetzt den wahren Charakter der Pharisäer. Nicht, daß Er ihn nicht vorher gekannt hätte; doch die Umstände Seiner vollständigen Verwerfung durch sie und ihr Haß, der immer entschiedener zum Ausdruck kam, stellte Ihm die Verlassenheit der Schafe Gottes besonders vor Augen. Wenn die Hirten schon gegen Ihn, in Dem keine Sünde war – Gottes eigenem Sohn, dem Hirten Israels –, so unerbittlich auftraten, was mußte dann das leidvolle Teil derjenigen sein, die Unvollkommenheiten und Fehler aufwiesen! Wie waren sie der Bosheit solcher ausgesetzt, die sich nicht um Gottes willen um die Schafe kümmerten und statt dessen mit scharfen und argwöhnischen Augen alles betrachteten, was irgendwie schwach oder töricht vor ihnen aussah! Mögen wir uns immer an die Gnade des Herrn erinnern! Selbst das Demütigende bei uns ruft in Ihm nur Teilnahme hervor. Ich spreche jetzt nicht von Sünden, sondern von Schwachheiten; denn Schwachheiten und Sünden sind nicht dasselbe. Wir benötigen nicht das Mitleid des Herrn betreffs des Bösen. Der Herr litt und starb für unsere Sünden. Wir bedürfen der Anteilnahme in unseren Schwachheiten, in unserem Zittern, in unserer Furchtsamkeit und in unseren Schwierigkeiten. In all jenen Umständen, die auf der Erde Leid verursachen, haben wir Mitgefühl nötig; und es ist der Herr, welcher vollkommen mit uns fühlt.
Das galt auch für Israel. Die Jünger waren unwissend über dessen elenden Zustand, doch Jesus forderte sie in der Liebe Seines Herzens auf, den Herrn der Ernte zu bitten, daß Er Arbeiter in Seine Ernte sende. Es war die Ernte des Herrn der Ernte; und nur Seine Arbeiter konnten die Ernte einsammeln. Unmittelbar danach – und das ist bemerkenswert – zeigte Er, daß Er selbst der Herr der Ernte ist; und so sandte Er Arbeiter aus. Das sehen wir im 10. Kapitel, welches wieder einen schönen Beweis von dem Gesichtsfeld des Matthäusevangeliums liefert. Er ist der Eine, Der Sein Volk von seinen Sünden erretten wollte – Emmanuel, Gott mit uns. Beachte auch den Zusammenhang! Diese Aussendung geschah aufgrund Seiner Verwerfung durch Israel. Sein Dienst voller Gnade und Macht war, wie wir gesehen haben, voll entfaltet worden. Er endete mit der gänzlichen Gleichgültigkeit Israels und dem Haß der religiösen Führer. Kapitel 8 zeigt uns das Volk und Kapitel 9 seine Führer, welche jeweils ihren geistlichen Zustand offenbaren.
In unserem Kapitel sehen wir Jesus als den Herrn der Ernte, welcher Arbeiter aussendet, wobei diese mit voller Autorität und Kraft ausgerüstet werden. Wir bemerken jedoch, daß ihre Mission immer noch in besonderer Verbindung zu Israel steht. Dabei ist der Herr von Anfang an sich Seiner Verwerfung durch das Volk bewußt. Es ist eine jüdische Sendung der zwölf jüdischen Apostel an die verlorenen Schafe des Hauses Israel. Ich nehme diese Worte buchstäblich und beziehe sie nicht auf die Kirche (Versammlung), die niemals als „verlorene Schafe“ bezeichnet wird. Die Schafe Israels werden hier jedoch sehr treffend in ihrem trostlosen Zustand beschrieben. Die Kirche mußte vor ihrer Sammlung erst errettet werden. Wir Nichtjuden waren nach dem Gesichtspunkt dieses Evangeliums keineswegs Schafe, sondern Hunde. (Vergl. Kap. 15!). Auch nachdem wir in die Kirche eingeführt wurden, sind wir keine verlorenen Schafe. Das kann nicht sein. Dagegen wird von diesen Armen der Herde als von „verlorenen Schafen des Hauses Israel“ (V. 6) gesprochen; denn bis zu jener Zeit, war das Werk noch nicht geschehen, durch das sie sich ihrer Errettung gewiß werden konnten.
Wir lesen über die Aussendung der Boten des Herrn: „Als er seine zwölf Jünger herzugerufen hatte, gab er ihnen Gewalt über unreine Geister, um sie auszutreiben, und jede Krankheit und jedes Gebrechen zu heilen.“ (V. 1). Das war ihre besondere Mission. Wir hören kein Wort von dem, was wir das Evangelium nennen, oder von der Lehre des ganzen Ratschlusses Gottes. Sie sollten statt dessen als Zeugnis für Israel mit messianischer Kraft gegen Satan und leibliche Krankheiten vorgehen. Zweifellos hatten sie das Reich der Himmel anzukündigen. „Indem ihr aber hingehet“, beauftragte sie unser Herr, „prediget und sprechet: Das Reich der Himmel ist nahe gekommen.“ (V. 7). Das große Kennzeichen ihrer Mission war jedoch die Übertragung von Kraft gegen Dämonen und Krankheiten auf sie. Wie angemessen steht dies in Verbindung mit Israel! Es war ein strahlender Beweis, daß der wahre König, Jehova, anwesend war. Er vermochte nicht nur selbst Dämonen auszutreiben, sondern übertrug diese Kraft auch auf Seine Knechte. Wer, außer dem König, Jehova der Heerscharen, konnte so handeln? Das war ein viel größeres Zeugnis, als wenn die Kraft auf Ihn selbst beschränkt geblieben wäre. Gott zeigt, daß jene Fähigkeit, anderen göttliche Kraft mitzuteilen (das war es, was Simon, der Zauberer, so eifrig begehrte, um daraus für sich Nutzen zu ziehen; Apostelgeschichte 8), in Seinem Sohn gegenwärtig war. Jetzt war die Zeit gekommen, die Knechte auszusenden; und es geschah in einer passenden Weise. Es waren zwölf Knechte, entsprechend den zwölf Stämmen des Hauses Israel. Später finden wir die Verheißung, daß sie auf zwölf Thronen sitzen sollen, um die zwölf Stämme Israels zu richten. (Matthäus 19, 28). Ohne Frage handelt es sich um eine jüdische Mission.
Als die Kirche gebildet wurde, durchbrach Gott die jüdische Ordnung, indem Er einen sozusagen außerplanmäßigen Apostel unter dem besonderen Gesichtspunkt des Dienstes an die Nichtjuden berief. Das geschah, nachdem ein gestorbener und auferstandener Christus Seinen Platz zur Rechten Gottes eingenommen hatte. Danach wurde jenes neue Werk in der Berufung der Kirche eingeführt mit dem Apostel Paulus als dem kennzeichnenden Diener desselben, obwohl die übrigen zwölf Apostel nichtsdestoweniger ihre Stellung behielten. In dem Fall vor uns waren die Zwölf – anders als der Apostel Paulus – die Diener des Zeugnisses über das Reich der Himmel an Israel. Beachten wir nämlich, wie nachdrücklich ihnen eingeschärft wird, die Grenzen des Volkes nicht zu verlassen! Sie sollten nicht einmal die Samariter besuchen, geschweige denn die Städte der Nationen. Gegenstände ihres Dienstes waren ausschließlich die verlorenen Schafe des Hauses Israel. Das ist der eindeutigste Beweis, daß jene unter den Juden gemeint waren, die ein Bewußtsein von ihrer Sünde hatten mit der Bereitschaft, das Zeugnis des wahren Messias anzunehmen. Allein mit solchen sollten die Jünger sich befassen. Auf die Berufung der Kirche wird nicht eingegangen. Unser Herr beschäftigt sich hier nur mit Israel.
Dieser Umstand ist um so bemerkenswerter, weil gerade im Matthäusevangelium mitgeteilt wird, daß der Herr nach Seinem Tod und Seiner Auferstehung die Apostel hinaus zu den Nationen sandte. Doch das geschah offensichtlich aufgrund dessen, daß der Tod dazwischengetreten war. „Und ich, wenn ich von der Erde erhöht bin, werde alle zu mir ziehen.“ (Johannes 12, 32). Christus am Kreuz wurde zum Anziehungspunkt für alle Menschen und zur Grundlage aller Ratschlüsse Gottes. In unserem Kapitel finden wir nichts dieser Art. Der Tod des Herrn findet keine Erwähnung. Seine Verwerfung wird zwar herausgestellt. Es wird aber nichts von der Bildung eines neuen Baues gesagt. Der Herr wartete auf eine noch weitergehende Verwerfung, bevor dieser Bau in Kapitel 16 enthüllt werden konnte.
Hier sandte der Herr Jesus also die Zwölfe aus und gebot ihnen: „Gehet nicht auf einen Weg der Nationen, und gehet nicht in eine Stadt der Samariter; gehet aber vielmehr zu den verlorenen Schafen des Hauses Israel. Indem ihr aber hingehet, prediget und sprechet: Das Reich der Himmel ist nahe gekommen. Heilet Kranke, wecket Tote auf, reiniget Aussätzige, treibet Dämonen aus; umsonst habt ihr empfangen, umsonst gebet. Verschaffet euch nicht Gold noch Silber noch Kupfer in eure Gürtel, keine Tasche auf dem Weg, noch zwei Leibröcke, noch Sandalen, noch einen Stab; denn der Arbeiter ist seiner Nahrung wert.“ (V. 5–10). Sie sollten so aufbrechen, wie sie waren – mit dem Leibrock, der sie umhüllte, und mit den Schuhen, die sie gerade an den Füßen trugen. Sie sollten keine Vorsorge treffen oder irgendeinen Vorrat anlegen, um sich daraus während ihrer Mission zu versorgen. Diese Regel ist nicht allgemeingültig für die Knechte Gottes. Es war eine besondere Mission für eine bestimmte Zeit und ausschließlich an Israel. Sie verkündeten nicht das Evangelium der Gnade Gottes, sondern das Evangelium des Reiches. Heutzutage gehören beide zusammen – damals nicht. Israel nahm das Zeugnis vom Königreich nicht an. Ein vollständiger Wechsel fand statt; und das Reich der Himmel als sichtbare Herrschaft wurde zurückgestellt. Die gegenwärtige Berufung der Nationen durch Gott wurde sozusagen als lange Einschaltung zwischen der Verkündigung jenes Aufrufs in Matthäus 10 und seiner vollständigen Ausführung in den letzten Tagen eingeschoben. Jede Botschaft des Herrn wird ihre Erfüllung finden; aber nichts wird vollkommen erfüllt, bevor der Herr es selbst in die Hand nimmt.
Alles, was Christus in Macht und Herrlichkeit bald persönlich ausführt, war vorher dem Menschen anvertraut worden. Doch der Mensch fiel, Israel versagte als Nation und die Kirche wurde weltförmig und auseinandergerissen. Dennoch soll alles zum Preis Seiner Herrlichkeit beitragen. Wohin wir auch in den Wegen Gottes blicken, finden wir als Regel, daß Er zunächst alle Dinge dem Menschen anvertraute. Sobald dieser dafür verantwortlich war, sollte sich zeigen, ob er dieser Verantwortung und Herrlichkeit entsprechen konnte. Aber er konnte es nicht. Worin jedoch der Mensch versagt hat, das soll nach dem Vorsatz Gottes an dem Tag der Herrlichkeit auf den Schultern Christi ruhen und zur Vollkommenheit gelangen. Erst wenn Jesus in Herrlichkeit erscheint wird alles ohne Ausnahme in mehr als seiner ursprünglichen Leuchtkraft erstrahlen.
Die Jünger wurden also auf diese Mission gesandt mit der Aufforderung, ausschließlich von Christus jegliche Hilfe zu erwarten. Er würde für sie sorgen. Sie sollten das Reich der Himmel ankündigen; und Er, der König, würde alle Kosten übernehmen. Sie durften im vollsten Vertrauen auf Ihn vorangehen. Ebenso sollen die Knechte des Herrn heutzutage nichts von der Welt erwarten und auch nicht menschliche Mittel gebrauchen, um auf Menschen oder Erlöste einzuwirken. Sie dürfen genauso vertrauensvoll von Gott erwarten, daß Er für sie sorgt, obwohl sie sich nicht in den gleichen Umständen befinden wie diese Jünger. Der Unterschied ist augenfällig. Nehmen wir zum Beispiel diese Anweisung: „In welche Stadt aber oder in welches Dorf irgend ihr eintretet, erforschet, wer darin würdig ist; und daselbst bleibet, bis ihr weggehet.“ (V. 11). Stelle dir einen Mann vor, der heute auf Evangelisationsreise geht und unterwegs fragt: Wer ist würdig? Sucht er nicht alle und jeden auf, selbst den Unwürdigsten? Matthäus 10 schildert eine völlig andere Mission als die, welche nach dem Tod und der Auferstehung Jesu begann. Hier ist es eine Sendung an Israel; und Jehova verlangte nach den „Herrlichen“ (Psalm 16, 3) auf der Erde – nach jenen, deren Herzen wirklich den Messias begehrten. Folglich sollten sie in jeder Stadt fragen, wer dort würdig sei, und bei ihm bleiben. „Wenn ihr aber in das Haus eintretet, so grüßet es. Und wenn nun das Haus würdig ist, so komme euer Friede auf dasselbe; wenn es aber nicht würdig ist, so wende sich euer Friede zu euch zurück.“ (V. 12–13).
Ist das überhaupt die Weise, in der das Evangelium heute hinausgetragen wird? Keineswegs! Der Diener Christi ist berechtigt, den Feinden Gottes Seinen Frieden zu verkündigen. Dieser kommt jetzt auf die Elenden, die Ausgestoßenen, die Geringen, die Verachteten und auf jene, die nichts haben, herab, und auf solche, die von Gott dazu geführt werden, den Platz der Nichtigkeit einzunehmen. Die unmittelbare Botschaft des Evangeliums betrifft die offensichtlich Verachtenswerten, Schlechten und Verlorenen; denn es enthält die Fülle der Gnade Gottes da, wo der Mensch gar nichts hat, um es Gott zu geben. Was könnte gesegneter sein! Sei es Alt oder Jung – wenn jemand innerlich zusammengebrochen ist mit dem Gefühl, daß er überhaupt nicht in die Gegenwart Gottes paßt, dann darf er Seinem Wort bedingungslos und einfältig glauben. Er muß allerdings anerkennen, daß Gott einen solchen Erretter gegeben hat, wie Sein Wort es sagt. Das Wesen des Evangeliums besteht in dem, was Gott mir gibt, und nicht in dem, was ich Ihm schulde. Es ist das Evangelium Gottes, das Evangelium Seines Sohnes. Doch in unseren Versen geht es um das Evangelium des Reiches. Diesen Ausdruck finden wir beständig im Matthäusevangelium. Das Evangelium des Reiches ist an die Würdigen gerichtet. War das Haus würdig, kam der Friede der Boten auf dasselbe, wenn nicht, kehrte er zurück. „Und wer irgend euch nicht aufnehmen, noch eure Worte hören wird – gehet hinaus aus jenem Hause oder jener Stadt und schüttelt den Staub von euren Füßen.“ (V. 14). Diese Menschen standen unter einem Gericht. „Wahrlich, ich sage euch, es wird dem Lande von Sodom und Gomorra erträglicher ergehen am Tage des Gerichts als jener Stadt“ (V. 15), weil die Boten des Reiches mit einer gnädigen Botschaft zu ihren Bewohnern gekommen waren und sie diese nicht aufnehmen wollten.
Ab dem 16. Vers beginnen Warnungen des Herrn in Hinsicht auf die Umstände, in denen das Evangelium des Reiches gepredigt werden sollte. „Siehe, ich sende euch wie Schafe inmitten von Wölfen; so seid nun klug wie die Schlangen und einfältig wie die Tauben.“ Das heißt: Der Herr verlangte Klugheit, himmlische Klugheit, die Gottes Macht ihnen geben würde. Er forderte sie auf, weise wie Schlangen zu sein, aber gleichzeitig einfältig wie Tauben. Ziel und Wesen der Klugheit sollte durch gänzliche Heiligkeit gekennzeichnet sein und durch das Fehlen irgendeiner gerechten Anklage, als hätten sie einem Menschen Unrecht getan. „Hütet euch aber vor den Menschen!“ Setzt nicht voraus, als ob ihr, die ihr mit Liebe in den Herzen hinausgeht, keinen Wölfen begegnet! „Hütet euch aber vor den Menschen!“ Es wird eindeutig auf die Juden angespielt. „Hütet euch aber vor den Menschen; denn sie werden euch an Synedrien überliefern und in ihren Synagogen euch geißeln; und auch vor Statthalter und Könige werdet ihr geführt werden.“ (V. 17–18). Das zeigt die schäbige Gesinnung der Juden. Obwohl sie unter dem Joch der Heiden litten, würden sie, wenn es sich um die Apostel Christi handelte, ohne Bedenken irgendwelcher Art sich an diese wenden und bereitwillig die heidnische Autorität anrufen, wenn es gegen die Jünger Christi ging. Sie selbst würden jene Boten vor die heidnischen Könige und Statthalter schleppen, auch wenn letztere in ihren Augen noch so abscheulich waren. Unser Herr fügt jedoch die gnädigen Worte „um meinetwillen, ihnen und den Nationen zum Zeugnis“ hinzu. Ausschließlich in diesem Zusammenhang werden in unserem Kapitel die Nationen erwähnt. Israel mochte die Jünger Christi so vor die Nichtjuden laden; doch Gott wollte dafür sorgen, daß diese Tat zu einem Zeugnis an Israel und die Nationen ausschlug. So wendet Gott die Waffen des Feindes gegen ihn selbst. „Denn der Grimm des Menschen wird dich preisen; mit dem Rest des Grimmes wirst du dich gürten.“ (Psalm 76, 10).
Wir fühlen sehr deutlich, daß eine solche Wahrheit ganz gewiß auch für uns gilt, obwohl sie ihre besondere Anwendung auf die Apostel während dieses Botengangs findet. Ihre Bedeutung bleibt immer gültig. „Wenn sie euch aber überliefern, so seid nicht besorgt, wie oder was ihr reden sollt; denn es wird euch in jener Stunde gegeben werden, was ihr reden sollt. Denn nicht ihr seid die Redenden, sondern der Geist eures Vaters, der in euch redet.“ (V. 19–20).
Gleichzeitig bereitet Er sie auf das außerordentlich herzlose Verhalten selbst ihrer Verwandten vor. Der Bruder kennt genau die Gewohnheiten seines Bruders. Der Vater weiß alles über sein Kind und das Kind über den Vater. All das würde sich gegen die Knechte Christi wenden. „Ihr werdet von allen [es ist ein allgemeines Ausgesetzsein] gehaßt werden um meines Namens willen. Wer aber ausharrt bis ans Ende, dieser wird errettet werden. Wenn sie euch aber verfolgen in dieser Stadt, so fliehet in die andere; denn wahrlich, ich sage euch, ihr werdet mit den Städten Israels nicht zu Ende sein, bis der Sohn des Menschen gekommen sein wird.“ (V. 22–23). Das ist eine beachtenswerte Aussage: „Ihr werdet mit den Städten Israels nicht zu Ende sein, bis der Sohn des Menschen gekommen sein wird.“ Das ruft uns die Ausführungen in Erinnerung, die wir soeben gemacht haben. Die Kirche (Versammlung) ist ein großer Einschub. Die Mission der Apostel war durch den Tod Christi plötzlich zu Ende, obwohl sie diese noch eine Weile fortführten. Sie fand ihr endgültiges Ende mit der Zerstörung Jerusalems. Für die gegenwärtige Zeit hat sie aufgehört – aber nicht für immer. Statt dessen wird in unseren Tagen die Kirche berufen. Nachdem der Herr diese aus der Welt in den Himmel geführt haben wird, will Gott ein neues Zeugnis über den Messias auf der Erde erwecken. Die Erde ist den Juden nach ihrer Bekehrung vorbehalten; denn Gott wird niemals Seine Verheißung brechen. Gott hatte erklärt, daß Er das Land Seinem Volk geben wolle; und Er wird es tun. Gott muß Israel das Land geben; denn Seine Gnadengaben und Seine Berufung sind unbereubar. (Römer 11). Es ist daher eine notwendige Folge der Treue Gottes, daß das jüdische Volk in seinem Land wiederhergestellt wird, nachdem die Vollzahl der Nationen eingegangen ist. Die Berufung dieser Vollzahl ist eine Einschaltung, welche in der heutigen Zeit abläuft.
Wenn diese abgelaufen ist, erneuert der Herr Sein Band mit Israel. Es wird im Unglauben in sein Land zurückkehren.1 Das Zeugnis des Königreichs, welches in der Zeit unseres Herrn durch die Apostel begann, wird dann in Jerusalem wieder aufgenommen werden. Inmitten ihres Predigens wird der Sohn des Menschen kommen und neue Werkzeuge benutzen. Er „wird seine Engel aussenden, und sie werden aus seinem Reiche alle Ärgernisse zusammenlesen und die das Gesetzlose tun; und sie werden sie in den Feuerofen werfen. . . Dann werden die Gerechten leuchten wie die Sonne in dem Reiche ihres Vaters.“ (Matthäus 13, 41–43). Der Herr wird an jenem Tag all das in Vollkommenheit ausführen, was dem Menschen anvertraut worden war und durch seine schwache, bzw. böse Hand nicht zustande kam. Zu jener Zeit wird durch den „Sproß“ Israels alles in Herrlichkeit erfüllt werden. Das paßt, wie ich annehme, zu der bemerkenswerten Aussage, daß die Jünger mit den Städten Israels nicht zu Ende sein werden, wenn der Sohn des Menschen kommt. Die ganze Periode, während welcher sich der Herr beiseite wendet, um Heiden zu berufen, wird mit Schweigen übergangen. Er spricht von dem, was damals begann und einst wieder aufgenommen wird, und übergeht völlig, was in der Zwischenzeit geschieht.
Im letzten Teil des Kapitels gibt Er den Jüngern starke Ermunterungen, um sie zu kräftigen. „Ein Jünger ist nicht über dem Lehrer, und ein Knecht nicht über seinen Herrn. Es ist dem Jünger genug, daß er sei wie sein Lehrer, und der Knecht wie sein Herr. Wenn sie den Hausherrn Beelzebub genannt haben, wieviel mehr seine Hausgenossen!“ (V. 24–25). Er selbst war der Beweis; und sie würden es auf ihrer Reise erfahren. „Fürchtet euch nun nicht vor ihnen.“ Der erste Grund, sich nicht zu fürchten, ist: „Auch Ich bin diesen Pfad gegangen. Mein Weg ist der einzig richtige durch die Welt. Fürchtet euch nicht!“ „Fürchtet euch nun nicht vor ihnen. Denn es ist nichts verdeckt, was nicht aufgedeckt, und verborgen, was nicht kundwerden wird.“ (V. 26). „Wenn schon nicht jetzt, so werdet ihr die Gründe und Motive für den Unglauben des Volkes an einem späteren Tag verstehen. Jeder, der die Wahrheit kennt und ihr nicht folgt, muß jene verabscheuen, die der Wahrheit entsprechend handeln. Wie bei Mir, so auch bei euch. Beunruhigt euch nicht! Seid voll guten Mutes und verharrt im Zeugnis!“ „Was ich euch sage in der Finsternis, redet in dem Lichte, und was ihr höret ins Ohr, rufet aus auf den Dächern.“ (V. 27). Er ermutigt sie zur größten Offenheit und Kühnheit. Danach folgt auf anderer Grundlage eine zweite Aufforderung, sich nicht zu fürchten; denn welchen Schaden können Menschen überhaupt zufügen? „Sie können die Seele nicht angreifen – und noch nicht einmal den Leib, es sei denn, euer himmlischer Vater erlaubt es.“ „Fürchtet euch nicht vor denen, die den Leib töten, die Seele aber nicht zu töten vermögen.“ (V. 28). „Sie können euch nicht schaden.“ Der Gläubige hat nichts zu fürchten, außer daß er Gott betrübt oder gegen Ihn sündigt. Deshalb fügt der Herr unmittelbar hinzu: „Fürchtet aber vielmehr den, der sowohl Seele als Leib zu verderben vermag in der Hölle.“ Du magst wissen, daß du errettet bist; dennoch ist es schrecklich, sich vorzustellen, was die Feinde Gottes erwartet: Das Verderben von Seele und Leib in der Hölle.
„Werden nicht zwei Sperlinge um einen Pfennig verkauft? und nicht einer von ihnen fällt auf die Erde ohne euren Vater; an euch aber sind selbst die Haare des Hauptes alle gezählt. Fürchtet euch nun nicht; ihr seid vorzüglicher als viele Sperlinge.“ (V. 29–31). Aus dem Vergleich mit den Spatzen, jenen unter den Menschen verachteten und unbedeutenden Vögeln, die nicht „ohne euren Vater“ auf die Erde fallen, leitet der Herr die besondere Sorge des Vaters für Seine Kinder ab. Er hätte auch sagen können „ohne Gott“. Doch Er zog die Worte „ohne euren Vater“ vor. Ihm gehört alles. Jedes Geschehen – sogar in der äußeren Welt – wird von Ihm, unserem Vater, abgewogen.
Vom 32. Vers an bis zum Ende des Kapitels finden wir die Bedeutung unseres Bekennens Christi und seine Wirkung auf die Welt. Der erste große Grundsatz besteht darin: „Ein jeder nun, der mich vor den Menschen bekennen wird, den werde auch ich bekennen vor meinem Vater, der in den Himmeln ist. Wer aber irgend mich vor den Menschen verleugnen wird, den werde auch ich verleugnen vor meinem Vater, der in den Himmeln ist.“ (V. 32–33). Wir sahen schon die Sorge des Vaters. Jetzt hören wir vom zukünftigen Bekennen des Sohnes. Die Sorge des Vaters erfahren wir auf der Erde, worin auch immer die Prüfung bestehen mag. Das Bekenntnis des Sohnes zu uns wird im Himmel stattfinden, wenn alle Prüfungen vorbei sind.
Danach mahnt Er die Jünger, sich nicht überraschen zu lassen, wenn ihr Zeugnis Leiden bewirken würde. Sogar Haushalte würden in Verwirrung geraten und Familienangehörige untereinander entzweit. „Seid nicht bestürzt!“ „Wähnet nicht“, sagt Er, „daß ich gekommen sei, Frieden auf die Erde zu bringen.“ Wir wissen, daß der Herr uns immer und auf jede Weise Frieden geben kann. Er spricht hier jedoch von dem Eintritt Seines Zeugnisses durch die Jünger in eine Welt, die Ihn haßt. Unvermeidbar geraten Sein Zeugnis und die Welt in Widerspruch. Er wünscht diese Verwirrung nicht. Doch die natürliche Wirkung der Erkenntnis Christi führt dazu, wenn Sein Zeugnis in ein Haus eintritt, wo entweder die Oberhäupter oder die untergeordneten Familienglieder Christus verwerfen. Wie in der Welt, so auch in einem Haus. Die einen glauben, die anderen nicht. „Wähnet nicht, daß ich gekommen sei, Frieden auf die Erde zu bringen; ich bin nicht gekommen, Frieden zu bringen, sondern das Schwert.“ (V. 34).
Träume nicht vom Triumph des Guten! Der Tag wird zwar kommen, an dem der Herr dafür sorgt, daß der Friede wie ein Strom fließt, doch Er zeigt auch, wie wenig dies dem Charakter oder der Wirkung Seines ersten Kommens auf diese Erde entspricht. Jenen Segen bringt Er erst bei Seiner Rückkehr. In der Zwischenzeit herrscht nicht Friede, sondern das Schwert. Unsere Zeit wird durch dieses Sinnbild des Krieges charakterisiert; und so muß es sein; denn der Widerspruch des Unglaubens erzeugt immer Krieg gegen die Wahrheit. „Denn ich bin gekommen, den Menschen zu entzweien mit seinem Vater, und die Tochter mit ihrer Mutter, und die Schwiegertochter mit ihrer Schwiegermutter, und des Menschen Feinde werden seine eigenen Hausgenossen sein.“ (V. 35–36). Der Herr stellt die Lage eindeutig dar. Sein Kommen prallt so heftig mit dem Willen des Menschen zusammen, daß sogar ein Kind sich gegen seinen eigenen Vater stellt. Diese Situation führt zu einer der ernstesten Prüfungen, nämlich zur Wirkung des Zeugnisses Gottes auf Familien. Die Menschen sprechen davon, daß Haushalte zerbrochen und Verwandte auseinander gerissen werden. Schon der Herr benutzte ähnliche Worte und wappnet uns gegen solche Umstände. „Wer Vater oder Mutter mehr liebt als mich, ist meiner nicht würdig; und wer Sohn oder Tochter mehr liebt als mich, ist meiner nicht würdig; und wer nicht sein Kreuz aufnimmt und mir nachfolgt, ist meiner nicht würdig. Wer sein Leben findet, wird es verlieren, und wer sein Leben verliert um meinetwillen, wird es finden.“ (V. 37–39).
Ganz gewiß ist Christus nicht gekommen, um uns einen leichten Pfad in dieser Welt zu verschaffen. Im Gegenteil müssen wir mit Ihm Anfechtung, Verwerfung und Schmähung entgegennehmen. Wir haben uns auf Leiden vorzubereiten. Dann fügt Er jedoch die andere Seite hinzu: „Wer euch aufnimmt, nimmt mich auf, und wer mich aufnimmt, nimmt den auf, der mich gesandt hat.“ (V. 40). Es gibt nicht nur Menschen, die verwerfen, sondern auch solche, die aufnehmen; und vor allem ist Gott der Vater betroffen und wird nichts vergessen. „Wer einen Propheten aufnimmt in eines Propheten Namen [d. h. als Prophet] ...“ (V. 41). Wenn jemand weiß, daß es sich um einen Knecht Gottes handelt, und nimmt diesen angesichts von Hohn und Schande auf, dann sollte dieser denselben Lohn empfangen wie der Prophet selbst. „Und wer einen Gerechten aufnimmt in eines Gerechten Namen ...“ Andere mögen ihn ungerecht nennen; doch er nimmt ihn nicht einfach als Mensch oder als Freund oder als Verwandter auf, sondern als einen Gerechten. Dieser „wird eines Gerechten Lohn empfangen.“ Damit beweist er, daß sein Herz vor Gott richtig steht. Wir zeigen immer den wahren Zustand unserer Seele durch die Meinungen, die wir ausdrücken. Nehmen wir an, ich spräche oder handle grundlos gegen einen guten Mann, der seine Pflicht tut, dann ist klar, daß ich in dieser Sache nicht mit Gott in Übereinstimmung stehe. Wenn ich auf der anderen Seite den Glauben besitze, um zu erkennen, was von Gott ist, und meinen Platz mit Christus einnehme angesichts eines allgemeinen Abfallens von Ihm, bin ich wirklich glückselig. Gott allein gibt mir die Kraft dazu. Daher bleibt bestehen, daß wir immer durch unser Urteil und Verhalten gegen andere verraten, wo unsere Herzen sich befinden.
„Und wer irgend einen dieser Kleinen nur mit einem Becher kalten Wassers tränken wird in eines Jüngers Namen, wahrlich, ich sage euch, er wird seinen Lohn nicht verlieren.“ (V. 42). Jene Handlung ist das Zeichen und der Beweis, daß der Heilige Geist in einer Seele wirkt. Da der Herr ihr Barmherzigkeit erwiesen hat, so wird auch ihr Herz auf jenen Pfad der Barmherzigkeit gezogen und des Mitgefühls mit solchen, die in dieser Welt Gott angehören. Sie wird keineswegs ihren Lohn verlieren. Das äußere Verhalten entspringt der inneren Quelle. In allen diesen Fällen handelt es sich eindeutig um die jüdische Mission dieser Jünger. Daraus erfahren wir, wie ich glaube, den wahren Charakter dieses Kapitels und seinen Platz, den es im Matthäusevangelium einnimmt. Es soll zeigen, daß der Herr als der Herr der Ernte die Jünger nicht nur zum Gebet auffordert, sondern ihrem Gebet zuvorkommt. „Ehe sie rufen, werde ich antworten.“ (Jesaja 65, 24). Der Herr handelt hier schon in dem Geist, der völlig in den letzten Tagen zum Ausdruck kommt. Er Selbst sendet die Arbeiter aus. In Lukas wird uns gezeigt, wie Er sich auf diese Aussendung bezieht und fragt: „Als ich euch ohne Börse und Tasche und Sandalen sandte, mangelte euch wohl etwas? Sie aber sagten: Nichts.“ (Lukas 22, 35). Danach fordert der Herr sie auf, sich mit Börse, Tasche und Schwert zu versorgen. Was ihnen vorher untersagt war, sollten sie von jetzt an tun. Der Herr widerrief, was Er bei der ersten Aussendung hinsichtlich der besonderen Umstände angeordnet hatte. Seine Güte und Liebe gegen sie und ihr Wandel in Weisheit und Unschuld blieben weiterhin bestehen. Doch die besondere Natur dieser Mission endete mit dem Tod Christi. Sie wird, wie ich denke, von anderen Männern an einem zukünftigen Tag wieder aufgenommen. Aber die Jünger, die in Matthäus 10 ausgesandt wurden, sollten bald zu einem neuen Werk berufen werden, das auf die Erlösung und die Auferstehung unseres Herrn gegründet war.
Fußnoten
- 1 Man beachte, daß diese Aussage schon 1861 veröffentlicht wurde (Bible Treasury, Nr. 67, 1. Dezember 1861, S. 374, oben links), als es noch keinen „Zionismus“ als Voraussetzung für die Rückkehr der Juden nach Israel gab. Kelly bezog seine Erkenntnis ausschließlich aus den prophetischen Schriften der Bibel. (Übs.).