Einführender Vortrag zum 1. Johannesbrief
Kapitel 3
Nun beschäftigt Johannes sich vermehrt mit der Gerechtigkeit. Doch bevor er voll auf das Thema eingeht, gibt er uns eine einführende Bemerkung, welche mit dem letzten Vers des 2. Kapitels beginnt. Danach zeigt er uns die Vorrechte, in welche die Gnade die aus Gott Geborenen hineinführt.
„Sehet, welch eine Liebe uns der Vater gegeben hat, daß wir Kinder Gottes heißen sollen!“ Es sei hier erwähnt, daß in den Schriften des Johannes nirgendwo der Ausdruck „Söhne Gottes“ erscheint. In den Briefen des Paulus finden wir sowohl „Söhne“ als auch „Kinder Gottes“. Aber in diesem Brief des Johannes und seinem Evangelium benutzt der Heilige Geist ausschließlich letztere Bezeichnung. Wir mögen fragen: Was ist der Unterschied? – Er besteht darin, daß „Söhne“ (υἱὸς) mehr von einem öffentlichen Titel sprechen und „Kind“ (τέκνον) von der Nähe einer Verbindung durch Geburt. Das Wort drückt die Gemeinsamkeit der Natur als von Gott geboren aus. Wir wissen, daß eine Person, welche kein Kind ist, als Sohn adoptiert werden kann. Der Erlöste hingegen ist nicht nur ein von unserem Gott adoptierter Sohn, sondern wirklich ein Kind, indem er Teilhaber der göttlichen Natur geworden ist. Allein diese Wahrheit breitet Johannes aus. Er spricht bevorzugt von ihr; und wir sehen sofort, wie sie mit seiner Lehre überall sonst in Verbindung steht. Wir sind aus Gott geboren – geboren aus Wasser und Geist. Dadurch sind wir zu Teilhabern der göttlichen Natur gemacht worden (natürlich in dem Sinn, daß wir das Leben haben, welches auch in Christus war). „Deswegen erkennt uns die Welt nicht, weil sie ihn nicht erkannt hat.“
Das Leben Christi wird in uns so absolut gefunden, daß wir in dieser Welt sozusagen dieselbe Behandlung wie Christus erfahren. Die Welt erkannte Ihn nicht; darum erkennt sie auch uns nicht. Das liegt einfach daran, daß Christus damals als Person unbekannt blieb und jetzt genauso unbekannt ist, während Er sich in uns befindet, die wir durch Sein Leben leben. Als Er auf der Erde war, besaß Er kein anderes Leben als das, welches wir jetzt in Ihm besitzen. Die Welt kannte und schätzte zu keiner Zeit das Leben in Christus. Genauso kann sie es auch nicht in einem Kind Gottes wahrnehmen. Doch das vermag in keiner Weise den Segen der Ergebnisse dieses Lebens für einem Gläubigen zu behindern.
Es handelt sich nicht um einen bedeutungsleeren Titel. „Geliebte, jetzt sind wir Kinder Gottes, und es ist noch nicht offenbar [d. h. offen sichtbar] geworden, was wir sein werden.“ [V. 2]. Soweit es das Wort Gottes zu zeigen vermag (und wie gut kann es das!), ist es dort schon klar genug geoffenbart worden. Diese Bemerkung sei hinzugefügt, um Mißverständnisse hinsichtlich des Sinns dieser Worte abzuschneiden; gleicherweise sollte sie die Unbestimmtheit, welche in manchen Seelen herrscht, wegnehmen. Jedenfalls ist uns eine Hoffnung ausdrücklich geoffenbart worden. Was wir sein werden, wird nicht nur anderswo enthüllt, sondern auch hier. Der Apostel übersieht das keineswegs. Der Ausdruck „es ist noch nicht offenbar geworden“ bedeutet, daß diese Wahrheit noch nicht als Tatsache vor der Welt bekannt gemacht worden ist. Aber „wir wissen“, sagt Johannes; und wir wissen es nur, weil sie durch den Heiligen Geist in Seinem Wort geoffenbart worden ist. „Wir wissen, daß, wenn es offenbar werden wird, wir ihm gleich sein werden, denn wir werden ihn sehen, wie er ist.“ Es liegt kein Nebel über der Zukunft des Kindes Gottes. Es besitzt diese Sicherheit in seiner Seele, weil ihm die Gewißheit in der Schrift enthüllt worden ist, daß es Christus gleich sein wird. Christus ist jetzt sein Leben – kein Wunder, daß es demnach wie Christus sein muß. Diese Wahrheit ist wieder auf eine feste und einfache Grundlage gesetzt, welche zur gleichen Zeit Christus vollkommen verherrlicht: „Wir werden ihn sehen.“ Das genügt. Solcherart und so groß ist die gnädige angleichende Kraft des Zweiten Menschen, daß das Ansehen Seiner Person uns Ihm gleich macht. Als wir Ihn auf der Erde durch den Glauben anschauten, wurden wir Ihm geistlich gleich. Wenn wir Ihn bald leiblich sehen werden, werden wir sogar in unseren Leibern Ihm gleich sein.
Das ist also durch die Gnade das Teil des Christen; und daraus ergibt sich die sittliche Schlußfolgerung: „Jeder, der diese Hoffnung zu ihm hat [auf Ihn gegründet], reinigt sich selbst, gleichwie er rein ist.“ [V. 3]. Es gilt demnach für einen Christen nicht länger mehr ein Gesetz, welches dieses oder jenes fordert. Statt dessen wirkt der Heilige Geist in vollkommener Weise durch das ganze Wort Gottes. Kein Teil desselben ist ausgeschlossen, um zur Freude, Belehrung und Ermahnung eines Christen zu dienen. Gleichzeitig ist es der Besitz und die Kenntnis Christi Selbst, welche dem Gläubigen ermöglichen, die ganze Heilige Schrift in ihrer Fülle anzuwenden. Ohne Ihn können wir keinen Abschnitt der Bibel geistlich verstehen – das heißt, weder mit Gewißheit, noch mit ganzem Verständnis. Christus gibt uns nicht nur Einsicht, sondern auch Kraft durch den Heiligen Geist über und in uns.
Dann geht Johannes ungezwungen weiter, um die Unterschiede der beiden Familien aufzuspüren. „Jeder, der die Sünde tut, tut auch die Gesetzlosigkeit.“ [V. 4]. Ich gebe den Sinn hier genauer an, als in der allgemeinen [englischen; Übs.] Bibel.1 Auf eine Übertretung des Gesetzes wird nämlich nicht angespielt. Möglicherweise gibt es kaum eine schlechter übersetzte Stelle als diese im ganzen Neuen Testament [dieser englischen Bibelausgabe; Übs.]. Auch scheinen bei keinem anderen Bibelvers sogar die Gelehrten weniger Verständnis zu haben. Die Sünde wird im Johannesbrief zur Gesetzlosigkeit [ἀνομία; Übs.] erklärt. Ohne den Schatten eines Zweifels können wir geltend machen, daß der Apostel die Sünde nicht als „die Übertretung des Gesetzes“ kennzeichnet. Hier handelt es sich um eine falsche Wiedergabe, welche durch nichts gerechtfertigt werden kann; und ich bin vollkommen überzeugt, daß jeder mit um so weniger Zögern beistimmen wird, je mehr er das Wort Gottes im allgemeinen und die Sprache des Johannes im besonderen versteht. Daß eine Person, deren Griechischkenntnisse sich auf das Buchstabieren der Worte beschränkt und welche versucht, die Bibel mittels einer muttersprachlichen Version für sich selbst zu übersetzen, hier Einwände machen könnte, ist verständlich. Es ist indessen schwer zu begreifen, wie ein unvoreingenommener, ehrenwerter Mann, der die Sprache wirklich kennt, die geringste Frage diesbezüglich haben kann. Unterstelle ich damit, daß unsere Übersetzer nicht aufrichtig, fähig, gelehrt und gottesfürchtig waren? – Auf ihnen lasteten keine geringen Schwierigkeiten; aber sie versuchten ihr Bestes zu tun. Möglicherweise wurde ihre Aufmerksamkeit nie auf dieses bestimmte Problem gelenkt. Bis in unsere Tage können selbst kenntnisreiche Menschen durch vergangene und gegenwärtige Lehrstreitigkeiten verwirrt werden. Anstatt jedoch bei ihnen Fehler zu suchen oder alles, was sie sagen, gut zu heißen, sollten wir statt dessen aus allem, was gut und wahr ist, Nutzen ziehen. Dabei sollen wir uns gleichzeitig warnen lassen durch jeden Fehler, den andere gemacht haben!
Nun halte ich einerseits fest, daß das Wort ἀνομία nicht die unterstellte Bedeutung hat, und andererseits, daß diese weder dem Inhalt dieses Abschnitts noch der Beweisführung des Apostels entspricht. Er schreibt nicht von besonderen Taten, sondern von der Natur, wie sie sich auf unseren Wegen zeigt. „Jeder, der die Sünde tut, tut auch die Gesetzlosigkeit.“ Ein Mensch, der sündigt, zeigt, daß sein Wille von Gott getrennt ist. Er besitzt eine böse Natur, die er von dem geerbt hat, der durch Satan gefallen ist. Hier betrachtet der Apostel den Menschen, als täte er nichts anderes als seinen eigenen Willen. Genau so handelt der natürliche Mensch. Er handelt unabhängig von Gott und, so weit es ihn selbst betrifft, tut er nie etwas anderes als seinen eigenen Willen. Johannes spricht nicht von bestimmten offenen Taten, sondern von der natürlichen Neigung des Menschen und seinem Charakter – seinem Leben und seinem Wesen. Der Sünder sündigt also und zeigt darin nichts weiter als seinen Zustand und die sittlichen Wurzeln seiner Natur als Sünder (nämlich Gesetzlosigkeit). Er besitzt weder Herz noch Gewissen, die nach Gott fragen. Soweit er kann, tut er, was er will. Er praktiziert Gesetzlosigkeit; und Sünde ist Gesetzlosigkeit.
Die praktische und lehrmäßige Wichtigkeit wird dadurch bestärkt, daß die allgemein verbreitete Ansicht den Irrtum nach sich zieht, daß für die Darstellung der Gedanken und des Willens Gottes stets das Gesetz notwendig sei. Wie wir aus verschiedenen Bibelstellen wissen, ist das nicht wahr. Die Bibel ist darin eindeutig, daß nur eine besondere Nation als unter Gesetz betrachtet werden muß und daß die übrigen Menschen sich in keiner solchen Lage befinden, obwohl sie auf ihrer eigenen Grundlage durchaus verantwortlich sind. (Siehe Römer 2, 12–15; 3, 19!). Hier kann demnach eine Übersetzung nicht richtig sein, welche anderen Abschnitten von unzweifelhaft göttlicher Schrift widerspricht. Wenn nämlich die übliche Übersetzung von 1. Johannes 3, 4 in unserer [englischen Bibel; Übs.] richtig wäre, könnten die übrigen Menschen außerhalb des Judentums überhaupt keine Sünder sein, weil sie niemals unter dem Gesetz standen. Auf diese Weise stürzt offensichtlich der genannte Irrtum die ganze Lehre davon, was Sünde ist und wie Gott mit den Menschen handelt, in hoffnungslose Verwirrung. Notwendigerweise verdunkelt es einige lebenswichtige und außerordentlich bedeutungsvolle Teile des Wortes Gottes in Hinsicht auf Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Zum Beispiel wird Gott durch Jesus Christus nach den Bibelstellen, auf die wir uns gerade bezogen haben, am Tag des Gerichts mit den Juden dem Gesetz entsprechend und mit den Nichtjuden, welche das Gesetz niemals hatten, nach ihrem Gewissen handeln – und, wenn wir eine Gleichheit der Grundsätze festhalten, mit der Christenheit entsprechend dem Evangeliumslicht. Es gibt keinen Hinweis darauf, daß alle nach dem Israel gegebenen Maßstab gerichtet werden. Ein solcher Gedanke entspringt einer Quelle, die nicht besser ist als überlieferte (traditionelle) Unwissenheit.
Nehmen wir Römer 4,15 und Römer 5,13–14, so würde jedermann verwirrt, führten wir die übliche Version von 1. Johannes 3, 4 in die Betrachtung ein. Es würde nämlich folgen, daß es zwischen Adam und Mose keine Sünde gab, weil diese nicht die Form einer Übertretung des Gesetzes angenommen hatte. Adam hatte ein Gesetz, Mose das ganze Gesetz. So verhängnisvoll kann eine Falschübersetzung des Wortes Gottes sein. Tatsächlich verkleinerte sie während der gesamten Zeitspanne des Christentums praktisch die Bedeutung dessen, was Sünde ist; denn auch andere sind in einen vergleichbaren Irrtum verfallen wie unsere Übersetzer. Folglich ist gewiß und auch wichtig zu sehen, daß der Ausdruck „Sünde“ mehr umfaßt als eine Übertretung des Gesetzes. Anderenfalls könnte es ohne das Gesetz so etwas wie Sünde nicht geben. Dann würden auch alle in gleicher Weise gerichtet, als ständen sie unter dem Gesetz und hätten es übertreten, entgegen dem ausdrücklichen Wort Gottes. Unsere Übersetzung ist falsch. Sünde ist nicht die Übertretung des Gesetzes, obwohl jede Übertretung des Gesetzes eine Sünde ist. Die wahre Aussage heißt, wie ich gesagt habe: „Sünde ist die Gesetzlosigkeit.“
Kehren wir zu unserem Überblick zurück! – Für einen Christen ist alles anders geworden (nicht allein sein Verhalten; er besitzt vielmehr eine neue Natur) als bei dem Menschen als solchen. Wir wissen, daß Er (Christus) geoffenbart wurde, um unsere Sünden wegzutragen; und in Ihm ist keine Sünde. „Jeder, der in ihm bleibt“ – das ist die Folge, wenn wir Christus wirklich kennen – „sündigt nicht.“ [V. 6]. Das Leben des Christen ist derart, daß aus dem Bleiben in Ihm solches folgt. Wenn die Gnade meine Seele zu Ihm hingewendet hat und ich auf Ihm als meinem Heiland und Herrn, meinem Leben und meiner Gerechtigkeit, ruhe, werde ich auch durch die Gnade in Ihm bleiben. „Jeder, der in ihm bleibt, sündigt nicht.“ Tatsächlich – wer hat jemals gesündigt, während Christus vor seinen Augen stand? – Wenn ein Christ abgezogen worden ist, nimmt ein anderer Gegenstand den Platz Christi widerrechtlich ein und setzt ihn sein eigener Wille den Listen Satans aus, welche durch die Welt auf seine fleischliche Natur einwirken.
„Jeder, der sündigt, hat ihn nicht gesehen noch ihn erkannt.“ Offensichtlich spricht Johannes von einem Unbekehrten – einem Menschen in seinem natürlichen Zustand. Hätte er Christus gesehen und erkannt – wie anders würde alles sein!
„Kinder, daß niemand euch verführe!“ [V. 7]. Das taten die falschen Lehrer und Antichristen. Sie hatten die schreckliche Theorie erfunden, daß die große Segnung Christi jede Notwendigkeit von Selbstgericht und Heiligkeit beiseite gesetzt habe – daß die Sünde in jeder Hinsicht vergangen sei. Daher dürfe ein Gläubiger es sich in der Welt bequem machen. Wenn Christus alle Sünde weggenommen hat, warum sollte man noch davon reden? Wozu Buße oder Bekenntnis, von denen jene Miesmacher sprechen, welche sich weigern, zu einem höheren Leben und einer erhabeneren Wahrheit überzugehen? – „Kinder, daß niemand euch verführe! Wer die Gerechtigkeit tut, ist gerecht, gleichwie er gerecht ist. Wer die Sünde tut, ist aus dem Teufel.“
Hier erkennen wir die Grundlage dafür, warum wir sagen dürfen, daß Johannes alles auf zwei verschiedene Familien zurückführt – auf die Familie Gottes und die Familie des Teufels. „Der Teufel sündigt von Anfang.“ Das ist sein Wesen, obwohl gerade er nicht unter dem Gesetz steht. „Hierzu ist der Sohn Gottes geoffenbart worden, auf daß er die Werke des Teufels vernichte.“ Das war das Wesen des Herrn und das Ergebnis Seines Erscheinens und Werkes in dieser Welt. „Jeder, der aus Gott geboren ist, tut nicht Sünde.“ [V. 9]. Die gezogene Schlußfolgerung lautet: „Denn sein Same bleibt in ihm.“ Das Leben, welches Gott durch den Glauben gegeben hat, Christus Selbst, ist die Quelle und der Ausdruck dieser Wahrheit. „Er kann nicht sündigen, weil er aus Gott geboren ist.“ Das zeigt die neue Natur. Es ist eine Lebensregel, daß jeder seiner Natur entsprechend lebt. Allein der Christ hat zwei Naturen; er muß die böse abtöten und der guten entsprechend leben. Nimm das einfachste Tier – den Vogel in der Luft, das Kriechtier auf der Erde oder irgendein anderes um uns herum – jedes Geschöpf lebt seiner Natur gemäß! So auch der Sünder! Er lebt gemäß jener Natur, welche sich jetzt unter der Gewalt Satans befindet. Der Gläubige lebt in Christus. Wir beobachten, daß Johannes hier nicht auf Abwandlungen blickt, welche durch Umstände hervorgerufen werden. Er betrachtet keine besonderen Fälle von Untreue. In der Regel beschäftigt er sich nicht mit den Einzelheiten des Dargestellten. Er schaut auf die Wahrheit in ihrem besonderen, abstrakten Charakter losgelöst von irgendwelchen vorübergehenden Umständen. Falls du die Schriften des Johannes nicht unter diesem Gesichtspunkt liest, und vor allem den Brief vor uns, fürchte ich, daß wenig Aussicht besteht, daß du sie jemals verstehen wirst.
Nachdem Johannes diese Wahrheiten gezeigt hat, führt er nun die andere Probe ein. Diese ist nicht einfach Gerechtigkeit, sondern Liebe. „Dies ist die Botschaft, die ihr von Anfang gehört habt, daß wir einander lieben sollen; nicht wie Kain.“ [V. 11–12]. Bei Kain gab es keine Liebe. „Nicht wie Kain aus dem Bösen war und seinen Bruder ermordete.“ Zu ihm besteht eine Verbindung. Er hat den Bösen und seine Familie in die Welt gebracht. Der Mensch ist jetzt nicht nur ein Sünder, sondern zeigt auch ganz besonders sein Wesen darin, daß er keine Liebe offenbart. Johannes meint jene Liebe, die von Gott ist, und zwar, ausschließlich. Er leugnet natürlich keineswegs natürliche Zuneigungen, sondern besteht darauf, daß Liebe göttlich sein muß. Kain hatte keine Liebe und zeigte es, indem er seinen eigenen Bruder erschlug. „Und weshalb ermordete er ihn? weil seine Werke böse waren, die seines Bruders aber gerecht.“ Johannes spürt hier das Band auf, welches Gerechtigkeit mit Liebe verbindet. Wir haben schon Gerechtigkeit und Liebe getrennt voneinander gesehen. Nun zeigt er, daß beide ineinander verwunden sind und nur in ein und derselben Person gefunden werden können. Auch hier – so wie in Christus keine Sünde war, so erkennen wir in Ihm die vollkommene Liebe und in der Welt den Haß. Sollten wir demnach über den Haß der Welt überrascht sein? – „Wir wissen, daß wir aus dem Tode in das Leben übergegangen sind, weil wir die Brüder lieben; wer den Bruder nicht liebt, bleibt in dem Tode. Jeder, der seinen Bruder haßt, ist ein Menschenmörder.“ [V. 14–15].
So wird alles bis zu seinem Endergebnis weiterverfolgt, wie wir auch gesehen haben, daß ihre2 verborgenen Quellen vor Gott aufgespürt werden. Wie anders war alles bei Christus! „Hieran haben wir die Liebe erkannt …“ [V. 16]. Der Ausdruck „Liebe Gottes“3 verdirbt den Satz. Es gibt keinen Grund, irgendwelche Worte hinzuzufügen. Nur Einer zeigte solche Liebe; und Dieser war genauso gewiß Mensch wie Gott. „Hieran haben wir die Liebe erkannt, daß er für uns sein Leben dargelegt hat.“ Wenn du wissen willst, was Liebe ist, schaue hierher! Das war in der Tat Liebe. „Auch wir sind schuldig, für die Brüder das Leben dar-zulegen.“ Dasselbe Leben, aus dem heraus wir leben, war in Ihm. Sollte es nicht in einer ähnlichen Liebe ausgelebt werden? – Wir werden nicht oft berufen, unser Leben für unsere Brüder darzulegen. Aber gibt es nicht klare, einfache, gewöhnliche Umstände, in denen dieser Grundsatz an jedem Tag geprüft wird? – Mein Bruder mag etwas benötigen. Es hat keinen Zweck, über die Bereitschaft zum Sterben für meinen Bruder zu reden, wenn ich davor zurückschrecke, seiner alltäglichen und vielleicht dringenden Not zu begegnen. Es geht nicht um etwas Großes. Meine Hilfe ist unansehlich; doch wie praktisch! Wie stellt dieses das Herz auf die Probe – eine Probe, die sich jeden Tag der Woche vor uns stellt!
„Wer aber der Welt Güter hat und sieht seinen Bruder Mangel leiden und verschließt sein Herz vor ihm, wie bleibt die Liebe Gottes in ihm? Kinder, laßt uns nicht lieben mit Worten, noch mit der Zunge, sondern in Tat und Wahrheit. Und hieran werden wir erkennen, daß wir aus der Wahrheit sind, und werden vor ihm unsere Herzen überzeugen, – daß, wenn unser Herz uns verurteilt, Gott größer ist als unser Herz und alles kennt.“ [V. 17–20]. Jetzt stellt Johannes die große Gefahr vor seine Leser, mit den praktischen Konsequenzen der Wahrheit leichtfertig umzugehen. Angenommen, ein Mensch weiß, was Gott sagt und wünscht – und handelt trotzdem nicht entsprechend? Was ist die Folge? – Er muß sich bewußt sein, daß er sich damit in einen Abstand zu Gott begibt. „Wer nun weiß, Gutes zu tun, und tut es nicht, dem ist es Sünde“, sagt Jakobus. [Jakobus 4, 17]. So finden wir dieselbe Frage hier. Es geht nicht um den Gesichtspunkt, daß jemand seinen Platz in Christus verliert, sondern um den Verlust der Grundlage seines Vertrauens auf Gott. Gemeinschaft ist ein fast genauso auffallendes Thema bei Johannes, wie das Leben in Christus und die Liebe, aus denen beide hervor strömen. Es genügt ihm nicht, daß die Menschen einfach Christen sind; sie sollen sich außerdem an Christus praktisch erfreuen. Ein leichtfertiges Wort, ein ungerichteter flüchtiger Gedanke vermögen diese Freude zu stören.
„Geliebte, wenn unser Herz uns nicht verurteilt, so haben wir Freimütigkeit zu Gott.“ [V. 21]. Indem sie zu Ihm aufblickt, geht eine einfältige Seele mit dem Herrn voran. „So haben wir Freimütigkeit zu Gott, und was irgend wir bitten, empfangen wir von ihm, weil wir seine Gebote halten und das vor ihm Wohlgefällige tun. Und dies ist sein Gebot, daß wir an den Namen seines Sohnes Jesus Christus glauben.“ Das ist der Beginn von allem Guten und geht bis zum Ende weiter, wie ich nicht weiter zu erklären brauche. Dort liegt der eine und einzige Anfangspunkt in den Gedanken des Heiligen Geistes, der stets Christus Seinen Ihm allein gehörenden Platz gibt. Sogar die erste Verpflichtung besteht nicht darin, sich erretten zu lassen, sondern „an den Namen seines Sohnes Jesus Christus glauben und einander lieben, gleichwie er uns ein Gebot gegeben hat. Und wer seine Gebote hält, bleibt in ihm, und er in ihm.“
Hier begegnen wir einem sehr wichtigen Ausdruck, den wir vor allem in Kapitel 4 finden. Es geht nicht einfach nur um unser Wohnen in Ihm. Das hatten wir schon in Kapitel 1 (und „Bleiben“ in Ihm ist dasselbe Wort). Es geht um Sein Wohnen in uns. Wunderbare Wahrheit! Diese wird jetzt auf den einen von zwei Gesichtspunkten angewandt. „Hieran erkennen wir, daß er in uns bleibt, durch den Geist, den er uns gegeben hat.“ Der uns gegebene Heilige Geist ist ein hervorragender Beweis, daß Gott in uns bleibt. Er wohnt in uns durch Seinen Geist. Das schließt nicht notwendigerweise unser Bleiben in Gott ein. Wenn Gott jedoch Seinen Geist einem Gläubigen gibt, bleibt Er in diesem Menschen. Im Folgenden werden wir dazu noch mehr finden. Aber bevor diese Wahrheiten ausführlicher erklärt werden, warnt Johannes die Erlösten.
Fußnoten