Leben mit Ziel
Eine Auslegung zu 4. Mose 6
Teil 6: Nasiräertum heute
Wir haben nun über dieses äußerst interessante Kapitel im 4. Buch Mose nachgedacht. Dabei haben wir festgestellt, dass dieses Kapitel neben seiner historischen buchstäblichen Bedeutung auch eine prophetische Bedeutung besitzt (in Bezug auf das Volk Israel und in Bezug auf den Herrn Jesus). Wir hatten aber auch gesehen, dass das Gesetz des Nasirs wichtige Hinweise für das praktische Leben jedes Christen gibt. Diesem letzten Punkt ist dieses Kapitel gewidmet.
Was es nicht bedeutet
Dabei ist es uns zunächst wichtig, dass das Thema und dieses Buch nicht missverstanden werden. Eine falsche Anwendung des Kapitels könnte fatale Folgen haben und dazu führen, dass man entweder hochmütig oder gleichgültig oder entmutigt wird. Zuerst wollen wir aufzeigen, was das Kapitel nicht sagen will.
Kein formeller Eid
Nasir wurde man nach 4. Mose 6 durch einen Eidschwur (V. 2). Solch ein Eid oder Gelübde war unter Gesetz zulässig und vorgesehen. In der Tat entspricht der Gedanke eines Eidschwurs dem gesetzlichen Grundsatz: Ich nehme mir vor, etwas zu tun, ich nehme an, dass ich es tun kann und ich lege ein entsprechendes Gelübde oder Versprechen ab. Als Christ sollte man das nicht tun. Der Herr Jesus selbst sagte sogar schon vor der christlichen Zeit zu seinen Jüngern: „Ich aber sage euch: Schwört überhaupt nicht“ (Mt 5,34).
Kein heroischer Willensentschluss
Nun könnte man denken: „Nun gut, ich schwöre nicht, aber ich nehme es mir ganz stark vor, und dann werde ich es schaffen, abgesondert für Christus zu leben“. Wer so denkt, legt zwar keinen formellen Eid ab, begibt sich aber dennoch auf einen gesetzlichen Boden. Er nimmt an, er hätte in sich selbst die Kraft, für den Herrn zu leben. Auch diese Vorgehensweise ist von vorn herein zum Scheitern verurteilt (Röm 7).
Keine Rückkehr unter das Gesetz
Es geht also nicht darum, sich unter ein (oder das) Gesetz zu stellen. Paulus sagt sehr klar, dass wir nicht unter Gesetz stehen: „Denn die Sünde wird nicht über euch herrschen, denn ihr seid nicht unter Gesetz, sondern unter Gnade“ (Röm 6,14). Der leitende Grundsatz für uns ist Gnade. Gnade steht vollkommen im Gegensatz zum Gesetz. Ihr Ausgangspunkt ist gerade, dass ich keine Kraft in mir selbst habe und aus mir heraus nichts tun kann. Aber die Gnade verbindet uns mit Christus.
Asaph konnte sagen: „Wen habe ich im Himmel? Und neben dir habe ich an nichts Lust auf der Erde“ (Ps 73,25). Wie viel mehr sollte das für uns wahr sein, die wir als Christen mit einem verherrlichten Christus im Himmel verbunden sind. Dazu hat Gott uns den Heiligen Geist gegeben, um uns mit den Herrlichkeiten Christi zu beschäftigen (Joh 16,14). Je mehr das geschieht, desto weniger geht es darum, was wir nicht mehr „dürfen“. So eng mit einem verherrlichten Christus verbunden zu sein, ist ein gewaltiges Vorrecht. Es ist „das Geheimnis des Christus“: Einerseits sind wir in Ihm (Eph 2,6) schon in die himmlischen Örter versetzt, andererseits ist „Christus in uns“, die Hoffnung der Herrlichkeit (Kol 1,27).
Christliche Freiheit liegt darin, dass wir die Freiheit haben, das Verlangen unserer neuen – göttlichen – Natur (und damit des Herrn) zu tun.
Kein Gang ins Kloster
Dieses Buch ist also kein Aufruf zum „Gang ins Kloster“ (oder einer modernen Alternative, die letztendlich dasselbe beabsichtigt). Die Annahme, man brauche nur äußere, hindernde Einflüsse auszuschalten und habe dann (wieder, in sich selbst) die Kraft, hohen Ansprüchen zu entsprechen, läuft im Grunde genommen auf denselben Gedanken hinaus. Auch dieser Weg würde mit Sicherheit fehlschlagen und nur dazu führen, sich selbst und andere zu entmutigen. Wie C. H. Mackintosh einmal sagte: „Die Frage ist nicht, ob wir Mönche sein sollen, sondern ob wir Nasiräer sein wollen“.
Kein Anlass zu Hochmut
Es gibt natürlich auch Zeitgenossen, die weniger selbstkritisch sind. Solche Menschen sind eher dazu geneigt, mit sich selbst ganz zufrieden zu sein. Sie halten sich für sehr treu – oder jedenfalls treuer als so mancher andere – und denken, dass sie eigentlich ganz vorbildliche Nasiräer sind. Gläubigen mit dieser Veranlagung oder Einstellung sei ans Herz gelegt, das Licht dieses Kapitels auf sich einwirken zu lassen.
Keine Gleichgültigkeit
Es wäre ebenso falsch, gleichgültig über dieses Kapitel hinwegzugehen, etwa indem man sagt: „Nun, ich sehe ein, dass es solche Nasiräer gegeben hat und ich erfreue mich an der prophetischen Bedeutung, aber für mein Leben hat dieses Thema konkret nichts zu bedeuten. Ich könnte diesen hohen Maßstäben ohnehin nicht genügen“. Vor einer solchen Einstellung zu Gottes Wort können wir nur warnen. Es ist geradezu gefährlich, Gottes Wort zu betrachten und dabei die moralische Stoßrichtung zu vernachlässigen.
Keine Niedergeschlagenheit
Wieder andere meinen es sehr ernst. Sie haben schon mehrere Versuche unternommen und wollen wirklich dem Herrn folgen. Dann ist es wieder schief gegangen und sie haben, um im Bild des Nasirs zu bleiben, eine Leiche berührt. Nun sind sie niedergeschlagen und geneigt aufzugeben. Was ist zu tun?
Nun, solche Erfahrungen (und vielleicht haben wir uns alle einmal in dieser Situation befunden) helfen uns, zu der Einsicht zu kommen, dass „in mir, das ist in meinem Fleisch, nichts Gutes wohnt“ (Röm 7,18). Dann werden wir dazu bereit sein, uns im Licht Gottes zu prüfen und wo nötig selbst zu verurteilen („Selbstgericht“). Dann kann der Geist Gottes uns wieder mit dem Herrn Jesus beschäftigen und so neu zur Hingabe an Ihn anspornen und auch die Kraft geben.
Die Bedeutung für Christen
Aber was ist dann die praktische Bedeutung von 4. Mose 6 für Christen heute?
Abgesondert in Stellung und Praxis
Christen sind grundsätzlich „geheiligt“, das heißt von Gott beiseite gesetzt, um Ihm zu gehören. Und was grundsätzlich wahr ist, sollte auch praktisch von uns wahr sein. Diese beiden Seiten (Stellung und Praxis) findet man immer wieder im Neuen Testament. Um nur ein Beispiel zu nennen: Petrus schreibt an Gläubige, die schon die „Heiligung des Geistes“ erfahren hatten (1. Pet 1,2), aber fordert sie dann auf: „Seid auch ihr heilig in allem Wandel“ (1. Pet 1,15).
Der Ausgangspunkt ist also das, was Gott getan hat. Der nächste Schritt ist dann, mit Gottes Hilfe (und in dem Bewusstsein, dass wir in uns die Kraft dazu nicht haben), dem praktisch zu entsprechen.
Der Wunsch der Hingabe
Wenn wir das einsehen, und wenn wir sehen, was Christus gelitten und bezahlt hat, um uns in die Stellung von Geheiligten zu bringen, werden wir den Wunsch haben, in unserem praktischen Leben eine Antwort der Dankbarkeit zu geben.
Die Bereitschaft auf Verzicht
Dann wird es nicht so schwer sein, auch einmal auf legitime Freuden zu verzichten („Frucht des Weinstocks“). Der Nasir weiß, dass es tausend Dinge gibt, die einen hindernden Einfluss auf ihn ausüben würden oder wenigstens eine Ablenkung für ihn sein würden, obwohl sie – an den üblichen moralischen Maßstäben gemessen – harmlos sind. Das war vielleicht noch nie so wahr wie heute in unserem Zeitalter der elektronischen Kommunikation, wo es kein Thema und keine Ablenkung gibt, die nicht auf Knopfdruck (oder „Mausklick“) zur Verfügung steht. Die Informationsflut ist schier endlos. Aber in dem Maß, wie wir bereit sind, auf Dinge zu verzichten, um für den Herrn da zu sein, werden wir merken, dass der Herr uns mehr Freude gibt, als wir je aus den irdischen Dingen herausbekommen hätten.
Die Bereitschaft auf Unterwerfung
Auch die Tatsache, dass die Welt unsere „langen Haare“, also unsere Unterwerfung unter unseren Herrn, verachtet und vielleicht belächelt oder verspottet, werden wir dann gern ertragen. Wissen wir doch, dass Christus selbst auch unterwürfig war, und dass wir auf diesem Weg der Abhängigkeit (und nur auf diesem Weg) „seinen Frieden“ genießen werden (Joh 14,27).
Das Überwinden von Versuchungen
Und was die Berührung eines Toten betrifft, also die Berührung mit Sünde und ihren Folgen, verhält es sich ähnlich. Je mehr wir die Gemeinschaft mit dem Herrn kennen und genießen und je mehr wir verstehen, dass Sünde eine dunkle Wolke zwischen uns und den Herrn bringt, die uns die Freude und den Genuss dieser Gemeinschaft raubt, werden wir alles tun, um uns von Verunreinigung fern zu halten. Natürlich haben wir in uns nicht die Kraft dazu, aber wir dürfen im Augenblick der Versuchungen beten und sagen: „Ich danke Dir, Herr, dass ich das nicht zu tun brauche, weil Du mich frei gemacht hast“ (vgl. Röm 6,14).
Wenn nötig: der Neuanfang
Und wenn wir darin versagt haben, denn „wir alle straucheln oft“ (Jak 3,1.2), dann lasst uns nicht aufgeben. Es gibt einen Neuanfang. Es wird nie ohne Verlust ablaufen, denn „die vorigen Tage sind verfallen“ (4. Mo 6,12). Aber genauso wenig sollten wir denken, es sei nun alles aus und der Herr könne uns nun nicht mehr gebrauchen.
Die Freude danach
Es wird Tage geben, an denen uns das Leben eines Nasirs schwerer fallen wird als an anderen (zum Beispiel, wenn die Welt spottet oder wenn andere Gläubige uns nicht verstehen). Aber dann lasst uns daran denken, dass wir nicht immer dazu Gelegenheit haben werden, das für den Herrn zu ertragen – und dass einmal das Ende des Nasiräertums kommen wird. Dann trifft das Wort ein: „Danach darf der Nasir Wein trinken“ (V. 20). Die „vor uns liegende Freude“ wird jede Entbehrung, die wir aus Liebe zum Herrn auf uns genommen haben, verschwindend klein erscheinen lassen.
Die Frage an uns
Die Frage, die das Gesetz des Nasirs ganz praktisch an unser Herz richtet, ist einfach diese: Für was, oder für wen, wollen wir leben? Wollen wir uns damit zufrieden geben, einfach zu fragen „Was ist explizit verboten?“, indem wir denken, alles andere wird dann ja erlaubt sein? Wollen wir unser ganzes Leben und Streben darauf ausrichten, so viel wie möglich an irdischen Dingen zu genießen (Karriere und so viel Spaß, Ansehen und Geld, wie wir eben mit ehrlichen Mitteln bekommen können), so lange es nicht direkt Sünde ist?
Oder wollen wir es einmal wagen, uns von einem Anderen führen zu lassen, indem wir wieder neu die Frage stellen, die Paulus am Anfang seines Weges (und sicher auch später immer wieder) stellte: „Was soll ich tun, Herr?“ (Apg 22,10). Der Herr hat uns nicht nur das vollkommene Vorbild gegeben, sondern auch unendlich viel bezahlt, um uns aus der Welt herauszunehmen (Gal 1,4) und uns für sich zu besitzen.
Wir wissen nicht, wie viel Zeit wir noch haben. Vielleicht einige Jahre. Vielleicht aber auch nicht. Die Welt stellt sich immer entschiedener jedem christlichen Einfluss entgegen. Lange kann es nicht mehr dauern, bis auch die Zeit von Laodizea abgelaufen ist. Jeden Augenblick kann der Herr kommen. Wenn wir einmal neu darüber nachdenken, wird dann nicht wieder neu der Wunsch bei uns wach, wenigstens diese kurze Zeit noch für Ihn da zu sein? Die Gelegenheit, seine Schmach zu tragen, wird nie wiederkommen.
Er hat es verdient, dass wir für Ihn leben. Dazu wissen wir, dass wir schon jetzt nur dann wirklich glücklich sind, wenn wir mit dem Herrn und für Ihn leben. Aber wir sollten auch daran denken, was unsere Entscheidung Ihm bedeutet: Er hat alles gegeben, sogar sich selbst, bis in den Tod. Wenn Er nun sieht, dass einer für den Er alles getan hat, diese Liebe nicht erwidert und sich stattdessen in den 1.000 Dingen dieser Welt verliert, wird eine solche Haltung unseren Herrn nicht schmerzen? Wenn Er aber sieht, dass es in unserem Herzen ein Echo gibt, dass dort eine Saite in Schwingung geraten ist, dass eine Resonanz vorhanden ist, so dass einer der Seinen ganz für Ihn leben möchte, wird das nicht eine große Freude für Ihn sein?
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„Denn das Leben ist für mich Christus, und das Sterben Gewinn“ (Phil 1,21).
„Ich ermahne euch nun, Brüder, durch die Erbarmungen Gottes, eure Leiber darzustellen als ein lebendiges, heiliges, Gott wohlgefälliges Schlachtopfer, was euer vernünftiger Dienst ist. Und seid nicht gleichförmig dieser Welt, sondern werdet verwandelt durch die Erneuerung eures Sinnes, dass ihr prüfen mögt, was der gute und wohlgefällige und vollkommene Wille Gottes ist“ (Röm 12,1.2).
„Deshalb nun, da wir eine so große Wolke von Zeugen um uns haben, lasst auch uns, indem wir jede Bürde und die leicht umstrickende Sünde ablegen, mit Ausharren laufen den vor uns liegenden Wettlauf, hinschauend auf Jesus, den Anfänger und Vollender des Glaubens, der, die Schande nicht achtend, für die vor ihm liegende Freude das Kreuz erduldete und sich gesetzt hat zur Rechten des Thrones Gottes“ (Heb 12.1.2).
„Gib mir, mein Sohn, dein Herz“ (Spr 23,26).