Leben mit Ziel
Eine Auslegung zu 4. Mose 6
Teil 5: Einige Beispiele
Abschließend wollen wir kurz einigen Beispielen in der Bibel nachgehen, wo Personen vorkommen, die Nasiräer waren (oder Personen, von denen man vermutet hat, dass sie es waren). Eine ausführliche Behandlung der jeweiligen Lebensgeschichte würde nicht nur den Rahmen dieser Arbeit sprengen, sondern sich auch mit dem überschneiden, was in vielen guten Bibelkommentaren schon gesagt worden ist. Daher wollen wir uns bemühen, die großen Lektionen dieser Nasiräer kurz zu skizzieren.
Simson (Ri 13–16)
Simson war dazu berufen, von seiner Geburt an bis zum Tag seines Todes ein Nasir zu sein. So hatte der Engel des HERRN es angeordnet. Seine Mutter, die Frau Manoahs, berichtet: „Ein Mann Gottes ist zu mir gekommen, und sein Aussehen war wie das Aussehen eines Engels Gottes, sehr furchtbar; und ich habe ihn nicht gefragt, woher er sei, und seinen Namen hat er mir nicht kundgetan. Und er sprach zu mir: Siehe, du wirst schwanger werden und einen Sohn gebären; und nun, trink weder Wein noch starkes Getränk, und iss nichts Unreines; denn ein Nasir Gottes soll der Knabe sein von Mutterleib an bis zum Tag seines Todes“ (Ri 13,6.7).
Die wichtige Lektion aus dem Leben Simsons – die wir nicht aus dem Gesetz des Nasirs in 4. Mose 6 erfahren – ist der Zusammenhang zwischen der Hingabe an Gott (ausgedrückt im langen Haar) und der Kraft. Man sollte sich nicht Simson als einen Hünen mit einem imposanten körperlichen Erscheinungsbild vorstellen. Den Philistern war Simsons Kraft ein Rätsel. So mussten sie sich an Delila wenden und sie bitten: „Berede ihn und sieh, worin seine große Stärke besteht“ (Ri 16,5). Aber diese große Kraft stand und fiel mit Simsons Hingabe als Nasir. Als seine Haare abgeschnitten waren, wurde er schwach wie ein Kind: Selbst eine Frau, Delila, war nun stärker als er und „fing an, ihn zu bezwingen“. Das traurige Fazit war: „Und seine Stärke wich von ihm“ (Ri 16,19).
Besonders tragisch ist in diesem Zusammenhang, dass Simson nicht bemerkte, dass er mit den Haaren auch seine Kraft verloren hatte: „Da wachte er auf von seinem Schlaf und dachte: Ich werde davonkommen wie die anderen Male und mich freischütteln. Er wusste aber nicht, dass der HERR von ihm gewichen war“ (Ri 16,20).
Simson war ein Richter, durch den Gott große Siege erringen ließ. Umso trauriger ist es, wenn man sieht, dass er sein Nasiräertum immer wieder zu unterbrechen scheint. Statt abgesondert zu sein für Gott, verband er sich mit den Feinden (Ri 14). Berührung mit dem Tod und auch Genuss von Wein 1 (vgl. Ri 14,9.10) waren in seinem Leben nicht unbekannt. Das Leben Simsons gibt uns ein warnendes Beispiel. Nur zu eindrücklich sehen wir darin die Folgen des Versagens eines Menschen, der berufen war, für Gott abgesondert zu leben.
So endet er blind und gefangen, als Knecht seiner Feinde. Nicht nur seine Kraft, sondern auch sein Augenlicht (seine Einsicht) und seine Freiheit hatte er verloren. So wurde er zu einem abschreckenden Beispiel: dem traurigen Bild eines Christen, der seine Hingabe an Gott aufgibt und schließlich ein Gefangener und Sklave der Welt wird und dann, mit Eisenketten gebunden, an ihrem Mühlstein mahlen und – damit nicht genug – auch noch zu ihrem Vergnügen spielen muss (Ri 16,21.25).
Allerdings, und das ist besonders ermutigend, sehen wir im Leben Simsons auch die Gnade Gottes, die wiederherstellt und einen Neuanfang möglich macht. Wenn auch die Folgen von Simsons Versagen nicht ausbleiben, so heißt es doch, dass seine Haare wieder zu wachsen begannen: „Aber das Haar seines Hauptes begann wieder zu wachsen, sobald es geschoren war“ (Ri 16,22). Simson bittet Gott, ihm noch dieses Mal zu helfen, und Gott antwortet. So erringt Simson in seinem Tod den größten Sieg, den er je errungen hatte (Ri 16,28–30).
Samuel (1. Sam 1)
Die Geburt Samuels war nicht wie die Simsons durch einen Engel angekündigt worden, sondern sie war die Antwort Gottes auf das Gebet Hannas. Hanna hatte bei ihrer Bitte um einen Sohn ein Gelübde abgelegt: „Und sie tat ein Gelübde und sprach: HERR der Heerscharen, wenn du das Elend deiner Magd ansehen und meiner gedenken und deine Magd nicht vergessen wirst, und wirst deiner Magd einen männlichen Nachkommen geben, so will ich ihn dem HERRN geben alle Tage seines Lebens; und kein Schermesser soll auf sein Haupt kommen“ (1. Sam 1,11). Viele Ausleger haben daraus geschlossen, dass Samuel ein Nasir war. Die anderen beiden Merkmale des Nasirs werden zwar nicht erwähnt, aber der Gedanke, dass Samuel ganz für Gott da sein und für Ihn leben sollte, geht doch klar aus Hannas Worten hervor: „So will ich ihn dem HERRN geben alle Tage seines Lebens“.
Wir lesen nie davon, dass Samuel das Gelübde seiner Mutter gebrochen hätte. Insgesamt ist sein Leben durch Abhängigkeit von Gott gekennzeichnet. Er war ein Mann des Gebets (s. z.B. 1. Sam 12,23) und Gott konnte ihn zum Segen seines Volkes benutzen.
So haben wir in doppelter Hinsicht ein wunderschönes Beispiel vor uns: einerseits Hanna, die den brennenden Wunsch hat, einen Sohn zu haben, der Gott gehört und Ihm nützlich sein sollte (1. Sam 1,11). Andererseits sehen wir im Leben Samuels, wie dieser Wunsch in Erfüllung ging und Samuel schon früh Gott diente und dann „immer größer und angenehmer“ wurde, „sowohl bei dem HERRN als auch bei den Menschen“ (1. Sam 2,26).
Die Rekabiter (Jer 35)
Die Rekabiter begegnen uns in Jeremia 35. Gott hatte Jeremia beauftragt, den Rekabitern in einer Zelle im Tempel (wo es also niemand sehen konnte) Wein anzubieten. Die Rekabiter lehnen mit der Begründung ab, dass ihr Vater Jonadab ihnen aufgetragen hatte, keinen Wein zu trinken: „Ihr sollt keinen Wein trinken, weder ihr noch eure Kinder, in Ewigkeit“ (Jer 35,6). Daher sehen einige Ausleger auch in den Rekabitern Nasiräer. Ob sie die anderen Kennzeichen eines Nasirs trugen, können wir wohl kaum sagen. Aber ihr Gehorsam ist bemerkenswert.
Besonders beeindruckend ist dabei die zeitliche Dimension: Jonadab lebte zur Zeit Ahabs (2. Kön 10,15.23), also etwa im Jahr 850 vor Christi Geburt. Die Begebenheit in Jeremia 35 ereignete sich viel später, nämlich zur Zeit Jojakims, des Sohnes Josias (Jer 35,1), also etwa um 600 vor Christi Geburt. Damit lagen (grob gerechnet) etwa 250 Jahre – das entspricht 8–10 Generationen – zwischen dem Befehl Jonadabs und dem Gehorsam der Rekabiter. Sie hatten verstanden, dass der Zeitfaktor bei Gott in dieser Hinsicht keine Rolle spielt. Gott hat diese Treue der Rekabiter wohl zur Kenntnis genommen, und dieser Gehorsam der Rekabiter steht im krassen Kontrast zum Ungehorsam Judas. So musste Gott ausrufen lassen: „Ja, die Kinder Jonadabs, des Sohnes Rekabs, haben das Gebot ihres Vaters gehalten, das er ihnen geboten hat; aber dieses Volk hat nicht auf mich gehört“ (Jer 35,16). Die Rekabiter dagegen werden als Vorbilder hingestellt: „Die Worte Jonadabs, des Sohnes Rekabs, die er seinen Kindern geboten hat, keinen Wein zu trinken, sind gehalten worden, und bis auf diesen Tag trinken sie keinen Wein; denn sie haben dem Gebot ihres Vaters gehorcht. Und ich habe zu euch geredet, früh mich aufmachend und redend; aber ihr habt nicht auf mich gehört“ (Jer 35,14).
Gott lässt die Rekabiter dafür reichlich belohnen: „Darum, so spricht der HERR der Heerscharen, der Gott Israels: Es soll Jonadab, dem Sohn Rekabs, nicht an einem Mann fehlen, der vor mir steht, alle Tage“ (Jer 35,19).
Interessant ist noch, dass die Enthaltung vom Wein im Fall der Rekabiter verbunden wird mit Enthaltung von Saat, Ernte und Häusern. So hatte Jonadab gesagt: „Und ihr sollt kein Haus bauen und keinen Samen säen und keinen Weinberg pflanzen, noch sie besitzen; sondern in Zelten sollt ihr wohnen alle eure Tage, damit ihr viele Tage lebt auf dem Erdboden, wo ihr euch aufhaltet“ (Jer 35,7). Sie sollten also als Fremdlinge leben.
Damit sind die beiden Hauptcharakterzüge im Fall der Rekabiter Gehorsam und Fremdlingschaft.
Paulus (Apg 18)
In Apostelgeschichte 18 finden wir einen interessanten Hinweis in Bezug auf Paulus: „Nachdem aber Paulus noch viele Tage dageblieben war, nahm er Abschied von den Brüdern und segelte nach Syrien ab, und mit ihm Priscilla und Aquila, nachdem er zu Kenchreä das Haupt geschoren hatte, denn er hatte ein Gelübde“ (Apg 18,18). Durch diesen Hinweis auf das Scheren des Hauptes und auf das Gelübde stellt sich die Frage 2, ob es sich hier um das Gelübde eines Nasirs handelte und, falls ja, ob eine solche Handlung für Christen heute zur Nachahmung zu empfehlen ist. Wir sollten vorsichtig sein mit solchen Schlussfolgerungen (und überhaupt generell mit Schlussfolgerungen in Bezug auf göttliche Dinge). Erstens wissen wir nicht genau, was der Inhalt dieses Gelübdes war. Und unabhängig davon müssen wir bedenken, dass Paulus manchmal mit Rücksicht auf die Juden (die er gern für Christus gewinnen wollte) handelte. Das mag auch hier der Fall gewesen sein. Außerdem stellt sich die Frage, ob Paulus hier im vollen Licht und Genuss der christlichen Wahrheit handelte, die durch ihn offenbart worden war. Aber wer wollte über einen so hervorragenden und begnadeten Diener des Herrn urteilen?
Jedenfalls sehen wir aus diesen Überlegungen, dass wir – selbst wenn es ein solches Gelübde gewesen wäre – es noch lange nicht zur Nachahmung empfehlen können.
Allerdings war Paulus in einem anderen Sinn Nasir. Was die geistliche Bedeutung des Nasiräertums angeht, hat es wohl kaum jemals einen Christen gegeben, bei dem der Charakter des Nasirs so zum Tragen kam wie bei Paulus. Er hat irdische Freuden und Vorzüge „für Dreck geachtet“ (Phil 3,7.8). Dieser Tag und Nacht arbeitende Mann hatte dazu noch ein aktives und profundes Gebetsleben. Dabei unterwarf er sich von Anfang an dem Willen des Herrn (Apg 22,10) und hielt sich von Verunreinigung fern. Die Lektüre von Apostelgeschichte 13–28 wird jedem Bibelleser eindrücklich klarmachen, dass für diesen großen Apostel Nasiräertum einfach Lebensstil war.
„Armer Paulus“, so dachten vielleicht seine früheren Studienkollegen, die Gamaliel zu Füßen gesessen hatten. „Was ist aus ihm geworden? Ein Wanderprediger ohne festen Wohnsitz und häufig in Gefängnissen“. Doch was sagt Paulus selbst, als er auf sein Leben zurückblickt? Er bedauert nichts. Im Gegenteil, er sagt „es hat sich gelohnt“. So lesen wir in seinem letzten inspirierten Brief: „Ich habe den guten Kampf gekämpft, ich habe den Lauf vollendet, ich habe den Glauben bewahrt; fortan liegt mir bereit die Krone der Gerechtigkeit, die der Herr, der gerechte Richter, mir zur Vergeltung geben wird an jenem Tag“ (2. Tim 4,7.8).
Amasja (2. Chr 17)
Amasja lebte zur Zeit Josaphats (und damit zur Zeit Ahabs). Von ihm heißt es, dass er „sich dem HERRN freiwillig gestellt hatte“ (2. Chr 17,16). Nur an dieser Stelle wird er erwähnt – ansonsten wissen wir nichts über ihn.
Die Tatsache, dass er sich „freiwillig gestellt“ hatte, hat zu der Vermutung 3 Anlass gegeben, dass er ein Nasir war. Aus der Schrift heraus beweisen lässt sich das allerdings unserer Ansicht nach kaum. Der Zusammenhang weist eher darauf hin, dass er freiwillig in Josaphats Armee gedient hat: Es geht darum, dass Josaphat geistlich und dann auch politisch stark wurde, dass er Vorratsstädte baute und viele „tapfere Helden“ hatte (2. Chr 17,13–19). Abschließend heißt es dann in Vers 19: „Diese waren es, die dem König dienten“.
Wie dem auch sei, Amasja hat einen Charakterzug, der sehr schön zu unserem Thema passt, und zwar Freiwilligkeit des Herzens. In seiner englischen Bibelübersetzung gibt J. N. Darby diesen Satz (2. Chr 17,16) folgendermaßen wieder: „Amasja opferte sich willig dem HERRN“. Amasja opferte sich selbst Gott oder gab sich selbst Gott hin. Auch wenn es darum ging, in Josaphats Armee zu kämpfen, war das weder leicht noch bequem noch ungefährlich. Amasja scheute diese Dinge nicht, da es um die Sache Gottes ging. Es heißt ausdrücklich, dass er sich „dem HERRN“ freiwillig stellte. Das entspricht genau der Einstellung des Nasirs: freiwillig für Gott.
Johannes der Täufer (Lk 1)
Johannes der Täufer wird in der Bibel nicht ausdrücklich Nasir genannt. Seinem Vater Zacharias hatte der Engel gesagt: „Denn er wird groß sein vor dem Herrn; weder Wein noch starkes Getränk wird er trinken und schon von Mutterleib an mit Heiligem Geist erfüllt werden“ (Lk 1,15). Die anderen beiden Kennzeichen eines Nasirs werden bei ihm nicht genannt. Dennoch wird aus diesem Vers klar, dass er von Geburt an für Gott beiseitegesetzt sein sollte. Der nächste Vers zeigt auch, dass Gott eine besondere Aufgabe für ihn hatte: „Und viele der Söhne Israels wird er zu dem Herrn, ihrem Gott, bekehren“ (Lk 1,16). Diese besondere Bestimmung und Absonderung für Gott sind sicher der Grund, aus dem manche zuverlässigen Ausleger4 Johannes den Täufer ausdrücklich als Nasir bezeichnen.
Wenn Simson durch große äußerliche Kraft gekennzeichnet war, dann war es bei Johannes (und auch bei Samuel) eher geistliche Kraft, die sie auszeichnete.
Es fällt auf, dass es sich bei keinem dieser Beispiele um ein vollständiges Nasiräertum handelte. Bei Simson wird die Weihe unterbrochen. Bei Samuel und Johannes werden nicht alle drei Kennzeichen erwähnt. Letztendlich gibt es nur einen vollkommenen Nasir: Christus selbst.
Christus
Der Herr Jesus war natürlich der Nasir „par excellence!“, also der vollkommene Nasir Gottes – nicht etwa im buchstäblichen aber im übertragenen, geistlichen Sinn.
Nasiräer in Klagelieder 4?
In manchen Bibelübersetzungen wird in Klagelieder 4,7 das Wort „Nasir“ verwendet. In der Elberfelder Übersetzung wird das Wort mit „Fürsten“ übersetzt: „Ihre Fürsten (oder „Nasiräer“) waren reiner als Schnee, weißer als Milch; röter waren sie am Leib als Korallen, wie Saphir ihre Gestalt. Dunkler als Schwärze ist ihr Aussehen, man erkennt sie nicht auf den Straßen; ihre Haut klebt an ihrem Gebein, ist dürr geworden wie Holz“ (Klgl 4,7.8). J. N. Darby hat in seiner englischen und in seiner französischen Übersetzung mit „Nasiräer“ übersetzt, fügt allerdings in der englischen Übersetzung „Fürsten“ als Fußnote hinzu.
Wie kommt es zu diesen verschiedenen Übersetzungen? Es ist eine Frage der Punktierung 5 des hebräischen Wortes, da der Stamm nsr „Absonderung“, „Weihe“ und auch „Krone“ bedeuten kann, was zu der Übersetzung als „Fürsten“ geführt hat. Der Grund wird doch wohl gewesen sein, dass es in Juda zur Zeit der Wegführung keine Hingabe unter dem Volk mehr gab, die eine Bezeichnung als Nasir im Sinn von 4. Mose 6 verdient hätte.
Die andere Möglichkeit ist, dass tatsächlich Nasiräer gemeint sind und darüber getrauert wird, dass nun keine mehr vorhanden sind, wo Gott sie doch so geschätzt hatte.
Sicher ist es eine schwere Frage, welcher Bedeutung hier Vorrang zu geben ist (und ich möchte mir nicht anmaßen, das entscheiden zu können). Allerdings haben beide Bedeutungen und Erklärungen eines gemeinsam: Es kam unter dem irdischen Volk Gottes so weit, dass es keine Nasiräer mehr gab – und das ist der wichtige Punkt hier. Das heißt nicht, dass es am Ende der christlichen Zeit keine Hingabe oder kein Nasiräertum mehr gibt. Vielmehr geht es darum, dass es ein Anlass zur Trauer und Klage („Klagelieder“) wäre, wenn keine Nasiräer mehr vorhanden wären.
Die Nasiräer in Amos 2
Eine weitere interessante Stelle über Nasiräer finden wir im Propheten Amos:
„Und doch habe ich euch aus dem Land Ägypten heraufgeführt und euch vierzig Jahre in der Wüste geleitet, damit ihr das Land des Amoriters in Besitz nähmet. Und ich habe Propheten erweckt aus euren Söhnen und Nasiräer aus euren Jünglingen. Ja, ist es nicht so, ihr Kinder Israel? spricht der HERR. Aber ihr habt den Nasiräern Wein zu trinken gegeben und den Propheten geboten und gesagt: Ihr sollt nicht weissagen! Siehe, ich werde euch niederdrücken, wie der Wagen drückt, der voll Garben ist“ (Amos 2,10–13).
Gott hatte in der Tat viel für Sein Volk Israel getan. Amos führt zum Beispiel den Auszug aus Ägypten und Gottes Führung in der Wüste als Beweise der Fürsorge Gottes an. Außerdem hatte Er ihnen Propheten gegeben, die das Wort Gottes zu ihnen geredet hatten. In diesem Zusammenhang erwähnt Amos als weiteres Vorrecht des Volkes, dass Gott junge Leute unter ihnen gegeben hatte, die den Wunsch hatten, in besonderer Weise für Gott zu leben: „Ich habe Propheten erweckt aus euren Söhnen und Nasiräer aus euren Jünglingen“ (V. 11). Doch wie waren sie mit diesen Privilegien umgegangen? Leider haben sie, anstatt sich über die Hingabe der Nasiräer zu freuen, diese jungen Menschen entmutigt und haben versucht, sie von ihrer Hingabe für Gott abzulenken: „Aber ihr habt den Nasiräern Wein zu trinken gegeben“ (V. 12). Sie sagten gewissermaßen: „Nehmt es doch nicht so genau; etwas mehr irdische Freude und etwas wenige Hingabe ist besser – man sollte doch nichts übertreiben …“ Diese Einstellung war genau so verkehrt wie ihre Haltung den Propheten gegenüber: „Und den Propheten [habt ihr] geboten und gesagt: Ihr sollt nicht weissagen!“ (V. 12).
Man fragt sich, in welcher Motivation man so vorgegangen war. Warum hatte man die Nasiräer (und die Propheten) nicht einfach gewähren lassen (wenn man sie schon nicht ermutigte), auch wenn man sich selbst nicht in dieser Weise berufen (oder geneigt) fühlte? Liegt die Erklärung nicht darin, dass die größere Hingabe meines Bruders oder meiner Schwester mich in meinem Gewissen verurteilt?
Auch heute spricht der Prophet Amos uns auf die Frage an, wie wir mit der Hingabe anderer umgehen. Sollten wir uns nicht vor abfälligen oder entmutigenden Kommentaren hüten und sie lieber auf diesem Weg ermuntern und für sie beten? Dazu kann uns auch das Verhalten der Nasiräer als positives Beispiel und Ansporn darin dienen, selbst für den Herrn zu leben.
Weitere Beispiele
Einige weitere Männer des Alten Testaments sind auch als Nasiräer bezeichnet worden 6, z.B. Joseph in Ägypten, Mose in Ägypten, und Daniel in Babylon. Auch hier gilt, dass in keinem dieser Fälle ausdrücklich gesagt wird, dass es sich um Nasiräer handelte (und auch nicht, dass die jeweiligen Personen alle drei Kennzeichen trugen). Dennoch waren sie alle durch freiwilligen Verzicht, Hingabe und Absonderung für Gott gekennzeichnet.
Fußnoten
- 1 Das Wort für „Mahl“ in Richter 14,10 (Hebr. mischteh) bedeutet wörtlich „Trunk“ oder auch „Trinkfest“.
- 2 „Tracings From The Acts of the Apostles Or 30 Years of Christian Work“, C E Stuart. Siehe auch „Mehr Frucht“ von Georges André.
- 3 Geneva Study Bible (Anmerkung zu 2. Chr 17,16).
- 4 Z.B. Henri Rossier in „John the Baptist“; siehe auch J. N. Darby in „Can a Child be a Nazarite“ in „Letters“, Band 3, Seite 339.
- 5 Im Hebräischen werden an sich nur die Konsonanten (Mitlaute) geschrieben; die Vokale (Selbstlaute) werden weggelassen und beim Lesen einfach ergänzt. Allerdings ergab sich dadurch manchmal eine Mehrdeutigkeit, da mehrere Wörter dieselben Konsonanten in derselben Reihenfolge enthalten (z.B. Adam und Edom). Im 8. Jahrhundert n. Chr. führten die Masoreten ein Punktierungssystem ein. Durch Punkte und kleine Zeichen über oder unter den Konsonanten wurde angedeutet, welche Vokale einzusetzen waren. Wenn es mehr als eine Möglichkeit gab, ein Wort zu vokalisieren, musste eine Entscheidung getroffen werden. So verhält es sich auch hier. Im Grundtext steht „NSR“ – die Frage ist also, ob NeSeR (Krone) oder NaSiR (Nasir) gelesen werden sollte.
- 6 Siehe z.B. J. G. Bellett in „The Patriarchs“, Teil 6; und „The Earlier Days of Moses“ in Bible Treasury, Band 6.