Leben mit Ziel
Eine Auslegung zu 4. Mose 6
Einleitung
Was ist ein „Nasir“?
Nasir (oder „Nasiräer“) bedeutet so viel wie „der Abgesonderte“. Nasiräer waren Personen, die sich für Gott abgesondert hatten, um für Ihn zu leben. Wir lesen davon in 4. Mose 6. Dieses Kapitel ist äußerst interessant – nicht nur aus historischer und prophetischer Sicht, sondern auch für unser praktisches Christenleben heute. Es ist auch deshalb besonders beachtenswert, weil wir im Licht dieses Kapitels unseren Herrn besser kennen lernen.
Es geht also um Menschen im Volk Israel, die den Wunsch hatten, sich für eine bestimmte Zeit für Gott abzusondern. Solche durften keine auf Weintrauben basierenden Produkte genießen, noch ihre Haare schneiden, noch einen Toten berühren. Versagte der Nasir in einem dieser drei Punkte, so musste er bestimmte Opfer bringen und sein Haar ganz abscheren. Danach durfte er noch einmal von neuem beginnen. Wenn er dagegen durchhielt und die Zeit der Absonderung vorbei war, dann kam der große Tag der „Erfüllung“. Dann durfte er Gott auch Opfer bringen – aber diesmal war ein Friedensopfer (das von Gemeinschaft spricht) dabei und der Nasir legte das Haar, das in der Zeit seiner Weihe gewachsen war, auf den Altar. Der Rest des Kapitels beschreibt dann einen besonderen Segen, den Aaron aussprach.
Verschiedene Sichtweisen
Es gibt eine Reihe verschiedener Blickwinkel, aus denen man dieses Kapitel betrachten kann:
- Zunächst stellt uns dieses Kapitel den Spezialfall eines Israeliten vor, der in alttestamentlicher Zeit das Gelübde eines Nasirs ablegte (buchstäbliche historische Bedeutung).
- Dann ist der Nasiräer auch ein Bild von dem, was Israel hätte sein sollen (prophetische Bedeutung).
- Außerdem lassen sich viele gute Anwendungen machen im Blick auf Gläubige heute und auch im Blick auf die Geschichte der christlichen Kirche (Anwendung).
- Die schönste Auslegung ergibt sich jedoch, wenn man den Herrn Jesus als den Nasir betrachtet. Er war der wahre Mensch, der sein Leben auf der Erde in vollkommener Hingabe an seinen Gott lebte – allerdings ohne Unterbrechung – und jetzt in der Herrlichkeit geheiligt ist (vgl. Joh 17,19).
Um unnötige Wiederholung zu vermeiden, werden wir das Kapitel nicht sukzessive vier Mal betrachten, jeweils unter einem der obigen Blickwinkel. Vielmehr bietet es sich an, das Kapitel Vers für Vers zu besprechen und dabei jeweils eine oder mehrere dieser Bedeutungsebenen zu beleuchten. Der Leser wird dabei leicht selbst erkennen, welcher Aspekt gerade im Vordergrund steht. Doch vorher stellen wir diese vier Sichtweisen kurz vor.
Historisch: Nasiräer in der Geschichte
Das Gesetz des Nasirs gehörte zu den Anweisungen, die Gott seinem Volk Israel gegeben hatte. Gläubige Christen sind natürlich nicht unter Gesetz, sondern unter Gnade (Röm 6,14). Doch für Israeliten galt das „Gesetz des Nasirs“ (4. Mo 6,13.21) buchstäblich – sofern sie unter dem Gelübde des Nasirs standen.
Die Bibel erwähnt verschiedene Nasiräer in der Geschichte des Volkes Israel. Der bekannteste ist sicherlich Simson (Ri 13,5). Außerdem wird in Amos 2,11.12 von Nasiräern gesprochen.
Darüber hinaus sehen einige Ausleger auch in den folgenden Fällen Nasiräer: Samuel (1. Sam 1,11.27.28), Johannes der Täufer (Lk 1,15), Paulus (Apg 18,18), Amasja (2. Chr 17,16), Jeremia und die Rekabiter (Jer 35). Auf diese Fälle, und auch auf die Frage, ob in der Stelle in den Klageliedern (Klgl 4,7.8) Nasiräer (oder etwa Fürsten) gemeint sind, gehen wir im letzten Kapitel ein.
Jedoch haben alle diese Fälle eines gemeinsam, nämlich eine gewisse Unvollkommenheit – entweder durch Brechen des Gelübdes oder durch Unvollständigkeit. Dem wahren Nasir begegnen wir erst in „der Fülle der Zeit“ (Gal 4,4), am „Ende dieser Tage“ (Heb 1,1), nämlich in Christus. Er war der vollkommene Nasir, nicht etwa rein äußerlich, sondern dem Herzen nach.
Prophetisch: Israel als Nasir
Israel war von Gott abgesondert worden von allen übrigen Völkern (3. Mo 20,24.26; 4. Mo 23,9; 5. Mo 33,28). Es sollte Ihm gehören und Ihm geweiht sein.
Allerdings verlor Israel diese Absonderung zu Gott sehr schnell, so dass es, um mit 4. Mo 6,9 zu sprechen, „das Haupt seiner Weihe verunreinigte“. So lesen wir von der Anbetung des goldenen Kalbes, vom Versagen in der Wüste, von ihrem Verlangen, einen König zu haben „wie die Nationen“. Immer wieder kam es zum Götzendienst und schließlich töteten sie den, der als ihr Retter und Messias gekommen war.
Daher ist Israel nun beiseite gesetzt. Bis heute liegt eine Decke auf ihren Augen bzw. ihren Herzen, die sie daran hindert, den Herrn Jesus als den verheißenen Messias zu erkennen: „Aber ihr Sinn ist verhärtet worden, denn bis auf den heutigen Tag bleibt beim Lesen des alten Bundes dieselbe Decke unaufgedeckt, die in Christus weggetan wird. Aber bis auf den heutigen Tag, wenn Mose gelesen wird, liegt die Decke auf ihrem Herzen. Wenn es aber zum Herrn umkehren wird, so wird die Decke weggenommen“ (2. Kor 3,14–16).
Wenn die Zeit der Versammlung einmal vorbei ist, also nach der Entrückung, wird eine Zeit kommen, in der Gott eine Minderheit im Volk Israel (den „Überrest“; Röm 9,27; 11,5) dazu führen wird, ihr Versagen zu bekennen, insbesondere in Bezug auf die Kreuzigung des Sohnes Gottes, der als ihr Messias gekommen war (Jes 53).
Dieser Überrest wird dann, bildlich gesprochen, das Gelübde des Nasirs erneuern. Wir werden sehen, dass das Gesetz des Nasirs in 4. Mose 6 ausdrücklich für diesen Fall Vorsorge getroffen (4. Mo 6–9) und die Möglichkeit eingeräumt hatte, dass er sich „nochmals für den Herrn absondern“ konnte (4. Mo 6,12). Schließlich wird dieser Überrest dann „Wein trinken“, d.h. in die Freude des 1.000-jährigen Reichs eingehen (Mt 25,34). Dann werden sie das Volk „voller Willigkeit“ sein „am Tag seiner Macht“ (Ps 110,3).
Allerdings werden wir auch sehen, dass dazu ein Opfer erforderlich war (V. 11,12). Nur auf der Grundlage des Opfers Christi wird dieser Überrest die Gelegenheit bekommen, sich nochmals für Gott abzusondern und dann auch einzugehen in Seine Freude, von der der Wein spricht (V. 20) und den Segen Gottes zu erfahren (V. 23–27). So wird in der unendlichen Gnade und Weisheit Gottes der Tod Christi, durch den Israel sich verunreinigt hatte, zu der Grundlage ihrer Annahme.
Wenn wir darüber nachdenken, werden wir mit Paulus ausrufen: „O Tiefe des Reichtums, sowohl der Weisheit als auch der Erkenntnis Gottes! Wie unerforschlich sind seine Gerichte und unergründlich seine Wege!“ (Röm 11,33).
Praktische Anwendung: Christen als Nasiräer
Können und sollen Christen etwa auch Nasiräer sein? Nicht im buchstäblichen Sinn, indem man die drei Kennzeichen des Nasirs in 4. Mose 6 wörtlich nimmt. Christen stehen unter Gnade, nicht unter Gesetz (Röm 6,14). Sie haben den Körper, die Wirklichkeit, nicht bloß den Schatten (Kol 2,17).
Aber als Christen sollen wir ein Leben der Hingabe für Gott führen – wenn nicht wir, wer dann? In diesem Sinn steht das Angebot immer noch: „Wenn jemand, ein Mann oder eine Frau, sich weiht …“ (4. Mo 6,1). Nicht, dass wir dazu oder zu sonst einem Zweck ein Gelübde ablegen sollten. Aber der Herzensentschluss, für den Herrn zu leben, ist die einzige passende Antwort auf das, was Er für uns getan hat. Das belegen auch die folgenden Stellen:
„… ich bin mit Chrisus gekreuzigt, und nicht mehr lebe ich, sondern Christus lebt in mir; was ich aber jetzt lebe im Fleisch, lebe ich durch Glauben, durch den an den Sohn Gottes, der mich geliebt und sich selbst für mich hingegeben hat“ (Gal 2,19.20).
„Ich ermahne euch nun, Brüder, durch die Erbarmungen Gottes, eure Leiber darzustellen als ein lebendiges, heiliges, Gott wohlgefälliges Schlachtopfer, was euer vernünftiger Dienst ist. Und seid nicht gleichförmig dieser Welt, sondern werdet verwandelt durch die Erneuerung eures Sinnes, dass ihr prüfen mögt, was der gute und wohlgefällige und vollkommene Wille Gottes ist” (Röm 12,1.2).
„Und er ist für alle gestorben, damit die, die leben, nicht mehr sich selbst leben, sondern dem, der für sie gestorben und auferweckt worden ist“ (2. Kor 5,15).
Diese Verse drücken sehr schön aus, was den christlichen Nasir motiviert. Es ist tiefe Dankbarkeit dem Herrn Jesus gegenüber, der sich für ihn hingegeben hat. Das beste Beispiel eines Christen, der in der Haltung eines Nasirs lebte, wäre sicher der Apostel Paulus, der ausrief:
„Aber was irgend mir Gewinn war, habe ich um Christi willen für Verlust geachtet; ja, wahrlich, ich achte auch alles für Verlust wegen der Vortrefflichkeit der Erkenntnis Christi Jesu, meines Herrn, um dessentwillen ich alles eingebüßt habe und es für Dreck achte, damit ich Christus gewinne“ (Phil 3,7.8).
Das ist weder Extremismus noch Legalismus (Gesetzlichkeit). Es ist auch keine Askese. Askese bedeutet zwar Enthaltung, aber dann mit dem Ziel, dadurch in eine höhere Stellung vor Gott gebracht zu werden. Das ist für Christen weder möglich noch nötig: Sie haben bereits die höchste Stellung vor Gott. Sie sind angenehm gemacht in Christus (Eph 1,6). Vielmehr geht es um die Antwort eines Herzens, das mit der Herrlichkeit des Herrn Jesus so erfüllt ist, dass alles andere an Wert und Anziehungskraft verliert.
Nasiräertum und Kirchengeschichte
Gehen wir in die Zeit der christlichen Kirche – damit meinen wir die Zeit zwischen Pfingsten und der Entrückung – so kann man am Anfang leicht den Charakter des Nasirs entdecken. Die Geschichte der frühen Kirche in Apostelgeschichte 2–4 zeigt, dass in dieser Zeit echte Hingabe vorhanden war und dass die Gläubigen für Gott lebten.
Wenn Böses unter Gläubigen vorkam, wurde es sofort gerichtet (Apg 5). Ungläubige wagten es nicht einmal, sich unter die Gläubigen zu mischen (Apg 5,13). Man genoss christliche Gemeinschaft (Apg 2,42), man war „ein Herz und eine Seele“ und half den Armen (Apg 4,32.35).
Doch es dauerte nicht lange, bis Versagen sichtbar wurde. Schon in Apostelgeschichte 5 finden wir Heuchelei und dann in Apostelgeschichte 6 Unzufriedenheit. Allerdings wurde in beiden Fällen dem Bösen noch wirksam begegnet.
Einige Jahre später musste bereits in Bezug auf die Versammlung in Ephesus, die ja für die erste Zeit der christlichen Kirche steht, gesagt werden, dass sie ihre „erste Liebe“ verlassen hatte. Sie wurde sogar aufgefordert, Buße zu tun (Off 2,4.5) und umzukehren, um gewissermaßen ihre Weihe zu erneuern.
Der Gedanke der Absonderung vom Bösen und zu Gott hin wurde im Lauf der Zeit – aber ganz besonders in den letzten Jahrzehnten – mehr oder weniger komplett aufgegeben. Die modernen Strömungen der Toleranz bestärken diese Tendenz sehr deutlich.
Glücklicherweise hat es auch in der Geschichte der christlichen Kirche immer wieder Momente gegeben, in der man sich wieder ganz neu und bewusst dem Herrn weihte, seine Herrlichkeiten neu entdeckte und seine Ansprüche wieder anerkannte. In gewissem Maß traf dies im 16. Jahrhundert während der Reformation ein, aber dann auch ganz besonders im frühen 19. Jahrhundert, einer Zeit, in die wir den Brief an Philadelphia prophetisch gesehen einordnen können (Off 3,7–13). Es war eine Zeit ganz besonderer Hingabe an den Herrn. 1
Christus: der wahre Nasir Gottes
Wenn wir den Herrn Jesus als den wahren Nasir bezeichnen, dann meinen wir damit nicht etwa, dass Er buchstäblich das Gelübde des Nasirs abgelegt bzw. buchstäblich die Kennzeichen des Nasirs gehabt hätte. Wir lesen zum Beispiel nicht, dass Er keinen Wein trank. Er selbst hat gesagt: „Denn Johannes der Täufer ist gekommen, der weder Brot aß, noch Wein trank, und ihr saget: Er hat einen Dämon. Der Sohn des Menschen ist gekommen, der da isst und trinkt, und ihr saget: Siehe, ein Fresser und Weinsäufer, ein Freund von Zöllnern und Sündern“ (Lk 7,33.34). In Matthäus 26,29 heißt es: „Ich sage euch aber: Ich werde von jetzt an nicht von diesem Gewächs des Weinstocks trinken bis zu jenem Tag, wenn ich es neu mit euch trinke in dem Reich meines Vaters.“
Aber im übertragenen oder geistlichen Sinn zeigte der Herr vollkommen, dass Er wegen Seiner Hingabe zu seinem Gott auf natürliche, vollkommen legitime irdische Freuden verzichtete.
Ähnlich steht es mit dem Anrühren von Toten. Auch hier geht es nicht um buchstäbliche Erfüllung. So heißt es in Markus 5,41: „Und indem er das Kind bei der Hand ergriff, spricht er zu ihm: Talitha kumi! das ist verdolmetscht: Mädchen, ich sage dir, stehe auf!“ Aber geistlich gesehen war der Herr Jesus vollkommen abgesondert vom Tod, denn der Tod spricht von der Sünde und ihren Folgen (Röm 6,23).
Auch was das Scheren der Haare betrifft, geht es nicht um die buchstäbliche Erfüllung, sondern um die geistliche Bedeutung, d.h. darum, dass der Herr Jesus als Mensch Seinem Gott und Vater vollkommen unterwürfig war (Phil 2,8).
So ist Christus also moralisch der vollkommene Nasir, der für Gott Abgesonderte. Er konnte sagen: „Auf dich bin ich geworfen von Mutterschoß an, von meiner Mutter Leib an bist du mein Gott“ (Ps 22,11). In seinem ganzen Leben auf der Erde war Er als wahrer Joseph der „Abgesonderte unter seinen Brüdern“ (1. Mo 49,26). David legt prophetisch Zeugnis ab von Christus, dem vollkommenen Nasir, und seiner Hingabe für Gott: „Da sprach ich: Siehe, ich komme; in der Rolle des Buches steht von mir geschrieben. Dein Wohlgefallen zu tun, mein Gott, ist meine Lust; und dein Gesetz ist im Innern meines Herzens“ (Ps 40,8.9).
Diese Hingabe hatte weder Grenzen noch Ausnahmen. Sie reichte bis in den Tod, sogar bis in den Kreuzestod: „… und, in seiner Gestalt wie ein Mensch erfunden, sich selbst erniedrigte, indem er gehorsam wurde bis zum Tod, ja, zum Tod am Kreuz“ (Phil 2,8). In Seinem ganzen Leben auf der Erde war Er „der Heilige Gottes“ (Joh 6,69). Doch auch nach Seiner Rückkehr zum Vater heiligte Er sich noch für die Seinen: „… und ich heilige mich selbst für sie, damit auch sie Geheiligte seien durch Wahrheit“ (Joh 17,19). So ist Er heute als Hoherpriester immer noch „heilig, unschuldig, unbefleckt, abgesondert von den Sündern“ (Heb 7,26).
Das Gesetz des Nasirs und sein Platz im 4. Buch Mose
Auf den ersten Blick mag es nicht jedem Bibelleser klar sein, warum wir das Gesetz des Nasirs im 4. Buch Mose finden. Manche hätten vielleicht erwartet, es zusammen mit den Vorschriften des Gesetzes vom Sinai im 2. Buch Mose zu finden. Dennoch „passt“ das Gesetz des Nasirs genau in das 4. Buch Mose und genau an die Stelle, an der es steht. Gott hat immer Recht!
Das 4. Buch Mose beginnt mit den Worten „Und der HERR redete zu Mose in der Wüste“ (4. Mose 1,1). In Anlehnung daran nannten die Juden das 4. Buch Mose „Be-Midbar“, was „in der Wüste“ bedeutet. Dieser Titel trifft sehr gut den Charakter dieses Buches, das uns den Weg des Volkes Israel in der Wüste zeigt.
Nasiräertum ist eine Sache der Wüste. Wenn die Reise erst einmal beendet ist, dann gibt es keinen Verzicht mehr, keine Verunreinigung. Wenn die Tage der Absonderung des Nasirs erfüllt sind, dann – so heißt es – „darf der Nasir Wein trinken“ (4. Mo 6,20).
Dasselbe gilt übrigens für andere Vorschriften, die auf den ersten Blick unvermittelt im 4. Buch Mose auftauchen und sozusagen den Reisebericht „unterbrechen“. Um nur zwei Beispiele zu nennen:
- In Kapitel 15 werden Opfer beschrieben, die das Volk Israel nach ihrer Ankunft im Land Kanaan bringen sollte. Auf den ersten Blick hätte man diese Opfer im 3. Buch Mose vermutet – und dennoch passen und gehören sie genau an diese Stelle. In den Kapiteln 13 und 14 lesen wir nämlich vom Versagen der Kundschafter (ausgenommen Josua und Kaleb) und vom Unglauben des Volkes. So muss Gott ihnen sagen: „eure Leichname sollen in dieser Wüste fallen“ (4. Mo 14,32). Einige verachteten dieses Urteil und versuchten, das Land in eigener Kraft in Besitz zu nehmen – nur um von den Amalekitern und Kanaanitern geschlagen zu werden (4. Mo 14,40–45). So fragt sich der Leser am Ende von Kapitel 14, ob nun alles verloren sei. Doch genau diese Frage beantworten die Vorschriften von Kapitel 15: „Wenn ihr in das Land eurer Wohnsitze kommt, das ich euch geben werde, und ihr dem HERRN ein Feueropfer opfert, ein Brandopfer oder ein Schlachtopfer …“ (4. Mo 15,2.3). Gottes Plan würde in Erfüllung gehen. Wenn Er in seinen Regierungswegen auch ernst handeln musste, dann würde Er doch sein Volk ins Land bringen und sie würden Ihm opfern.
- In Kapitel 19 finden wir das Opfer der jungen roten Kuh zur Reinigung von Unreinheit. Diese Vorschriften hätte man auch eher im 3. Buch Mose erwartet, wo viele andere Opfer beschrieben werden. Bei genauerem Hinsehen stellen wir jedoch fest, dass sie wunderbar ins 4. Buch Mose passen: Es geht um ein Opfer, das den Fällen der Verunreinigung begegnet, die auf der Wüstenreise vorkommen.
So verhält es sich auch mit dem Gesetz des Nasirs in Kapitel 6. Die ersten 10 Kapitel enthalten die vorbereitenden Vorschriften und die eigentliche Wüstenreise beginnt dann am Ende von Kapitel 10: „… und sie brachen auf …“ (4. Mo 10,33). Dabei befassen sich die ersten fünf Kapitel mit den folgenden Themen:
- 4. Mose 1: Die Musterung der Stämme (außer Levi)
- 4. Mose 2: Die Ordnung des Lagers
- 4. Mose 3–4: Die Musterung und der Dienst der Leviten
- 4. Mose 5: Das Gesetz der Eifersucht
Es wird also zuerst die Ordnung Gottes im Blick auf das Lagern der Stämme und die Aufgaben der Leviten und der verschiedenen Familien unter ihnen festgelegt. Dann folgt das Gesetz der Eifersucht. Dieses geht interessanter Weise dem Gesetz des Nasirs voraus. Das Gesetz der Eifersucht behandelt den Fall eines Mannes, der eifersüchtig ist auf seine Frau, da er Zweifel daran hat, ob ihre Zuneigung ihm noch gilt. Wir bedenken dabei, dass diese Eifersucht legitim ist und das betrifft, was dem Mann rechtmäßig zusteht. So war es mit Israel: Ihre Zuneigungen gehörten Gott, aber sie hatten in dieser Beziehung versagt (vgl. 2. Mo 20,5; 34,14; 5. Mo 4,24; 5,9; 6,15; Jos 24,19). Derselbe Grundsatz gilt übrigens auch für Christen: „Oder reizen wir den Herrn zur Eifersucht? Sind wir etwa stärker als er?” (1. Kor 10,22).
Durch den traurigen Fall der Frau, bei der sich die Frage der Untreue und damit auch nach dem Versagen in ihrer Hingabe stellte (4. Mo 5), folgt das Gesetz des Nasirs, der ein freiwilliges Gelübde ablegt, um ganz für seinen Gott zu leben. Die Frage der Untreue würde sich sehr bald in Bezug auf das Volk Israel stellen. Aber dann würde Christus kommen, der wahre Nasir. Und schließlich würde Israel die Gelegenheit bekommen, ihre Weihe zu erneuern.
Wie passend ist es auch, dass dieses Kapitel mit einem besonderen Segen endet. Wenn Gottes Ordnung beachtet wird (Kapitel 1–4), wenn das Unreine aus dem Lager geschafft wird und der Fall mangelnder Treue behandelt wird (Kapitel 5), und wenn volle Hingabe für den Herrn vorhanden ist (Kapitel 6), dann kann ein reicher Segen ausgesprochen werden.
Die Gliederung von 4. Mose 6
Der Hauptteil dieses Kapitels lässt sich klar in drei Teile einteilen, gefolgt von dem abschließenden Segen für das Volk:
Hauptteil:
- Verse 1–8: Die drei Kennzeichen des Nasirs
- Verse 9–12: Der Fall der unterbrochenen Weihe
- Verse 13–21: Die Erfüllung der Tage der Absonderung
Anhang:
- Verse 22–27: Der Segen für das Volk
Es ist interessant, dass streng genommen nur der dritte Teil, der von der Erfüllung des Gelübdes handelt, als „das Gesetz des Nasirs“ bezeichnet wird (4. Mo 6,13.21). Vielleicht ist es ein Hinweis darauf, dass die vorher beschriebene Unterbrechung weder eintreten muss noch eintreten soll – und im Fall des wahren Nasirs, Christus, nie eingetreten ist.
Auf den Hauptteil des Kapitels folgt der Segen, den Aaron über das Volk aussprechen sollte.
Fußnoten
- 1 Siehe z.B. „Geschichte der Christlichen Kirche“ von Andrew Miller (Kapitel 28).