Betrachtung über das Evangelium nach Lukas
Lukas 18,9 bis 30
In diesem in sich ebenfalls abgeschlossenen Abschnitt unseres Evangeliums wird uns ein anderer Gegenstand vorgestellt. Wir haben hier drei Begebenheiten, von denen wir zwei auch bei Matthäus und Markus finden. Lukas vermerkt, wie es seine Gewohnheit ist, weder Umstände noch Zeit oder Ort, sondern er stellt sie nach moralischen Gesichtspunkten zusammen, um einen bestimmten Gegenstand zu erläutern.
Dieser Gegenstand ist unser Nahen zu Gott oder der Weg zum Eingang in das Reich; er steht in engem Zusammenhang mit der vorhergehenden Szene, in der wir über die Natur dieses Reiches belehrt wurden. In dem Gleichnis von dem Pharisäer und dem Zöllner und in den Szenen von den Kindlein und dem jungen Obersten wird uns das Kennzeichen derer gezeigt, die in das Reich eingehen und dort ihre Befriedigung finden. Es ist die Selbstverleugnung in jeder Form. Wir sind berufen, alles aufzugeben, was vom Menschen, aus dem Fleisch oder von der Welt ist, um in Gott selbst und Seiner reichen Vorsorge fest gegründet und glücklich sein zu können.
Die drei Szenen reden von Selbstverleugnung. Der arme, im Herzen bekümmerte Zöllner offenbarte sie, ebenso das Kindlein, und auch von dem Obersten wurde sie verlangt, wenn er dem Herrn Jesus nachfolgen wollte. Mit diesen Beispielen und Seinen Bemerkungen darüber eröffnet der Herr Seine Belehrungen, und die Apostel, geleitet durch den Heiligen Geist, setzen sie später ausführlicher fort. Denn die völlige Selbstaufgabe des menschlichen Geschöpfes oder die Verleugnung des Fleisches ist eine wesentliche Voraussetzung für den Gehorsam des Glaubens.
Das Gesetz wandte sich einst an das Gute im Fleisch und suchte in ihm Frucht für Gott, aber es fand keine. Im Gegensatz dazu kam dann der Sohn Gottes auf einem Weg, der die Sünde im Fleisch verurteilte (Röm 8,3). Dementsprechend lehrte Paulus die völlige Beiseitesetzung des Fleisches. Er betrachtete es gleichsam als ein großes Wrack, das wohl noch nicht ganz versunken und völlig außer Sicht gekommen ist, jedoch von ihm verlassen worden war, um es in seinem eigenen Verderben umkommen zu lassen. Er war sozusagen auf eine neue Welt und mit dem auferstandenen Sohn Gottes in eine neue Schöpfung geworfen worden.
Es ist ermunternd zu sehen, mit welcher Bestimmtheit und Entschiedenheit er dem Fleisch, in welcher Gestalt und unter welchem Vorwand es sich auch offenbaren mochte, entgegentritt und es verleugnet. Ist es der Verdammnis unterworfen? Ja! Aber Christus hat das Gericht über das Fleisch getragen, und er selbst ist als einer, der an Ihn glaubt, daher frei. Hat das Fleisch seine Religion? Zweifellos! Aber erachtet alles als Verlust und Dreck. Seine Verordnungen und Bräuche, seine Knechtschaft und Furcht lehnt er ab und weist sie zurück, weil er sich der Gerechtigkeit durch den Glauben rühmt. Hat es Weisheit? Sicherlich! Die Welt hat ihre Fürsten, die „Weisen“, die „Schriftgelehrten“ und „die Schulstreiter dieses Zeitlaufs“, aber Paulus erklärt mit Nachdruck, dass Gott dieses alles zur Torheit gemacht habe, und er begehrt einzig und allein jene Weisheit, die der Geist gibt und offenbart. Er entflieht allem, dem das Fleisch ausgesetzt ist, und verleugnet alles, worauf es Anspruch macht. Paulus war nicht im Fleisch, sondern in Christus, der für ihn aus dem Tod auferstanden war. Das ist herrlicher Glaube, der auf diese Weise einerseits das Fleisch seiner Verdammnis überlässt und sich andererseits von seinen Gaben, mögen es nun Weisheit, Gerechtigkeit oder was sonst sein, entschieden und für immer abwendet.
Paulus war in besonderer Weise von Gott begabt, ein Zeuge für die Wertlosigkeit des Fleisches in seinem besten Zustand zu sein. Denn wenn irgendjemand Vertrauen auf Fleisch haben konnte, so war er es, wie er uns in Philipper 3 mitteilt. Aber gerade sein Verzicht auf das alles beweist die völlige Eitelkeit des Fleisches, weil er darin die besten und rühmenswertesten Fähigkeiten bewiesen hatte.
Der Glaube allein handelt so, denn die Kraft des Glaubens vollbringt, was sonst nichts zu tun vermag. Die Liebe steht unter den Tugenden an erster Stelle (l. Kor 13), aber der Glaube tut etwas, was niemals der Liebe gegeben ist. Er ist es, der das Heil Gottes für den Sünder ergreift. Bevor wir zu Gott kommen, sind es gerade unsere guten Eigenschaften, die uns von Ihm fernhalten. Paulus' Eifer, eine gute Sache des Fleisches, machte ihn zum Verfolger der Versammlung. Die Weisheit der „Fürsten dieses Zeitlaufs“ führte sie in Finsternis und Unwissenheit über das Geheimnis Gottes (l. Kor 2). Sie waren ohne Frage Fürsten, vielleicht die größten ihrer Zeit, aber sie waren Fürsten dieser Weit, und gerade diese Tatsache bestärkte sie in ihrer Feindschaft gegen den Herrn der Herrlichkeit. Für sie war die Welt alles; für Gott ist sie gerichtet.
Kehren wir jedoch zu unserem Evangelium zurück! In Seinen Unterweisungen über die Selbstverleugnung im Fall des Zöllners, des Kindleins und des Obersten praktiziert der Herr Seine eigene Lehre. „Was nennst du mich gut? Niemand ist gut, als nur einer, Gott.“ Er war gut, ohne Frage, aber Er weist es von sich. Ist das nicht Selbstverleugnung? Das, worauf Er verzichtet, offenbart nur Seine persönliche und moralische Herrlichkeit; was wir dagegen zu verleugnen haben, verrät unsere Schlechtigkeit und Schande.
So steht der Herr hier als Täter Seiner eigenen Worte und somit als Vorbild vor uns, das uns auch der Apostel Paulus in Philipper 2 vorstellt. Dort sehen wir den Herrn Jesus, wie Er sich selbst zu nichts machte, indem Er Knechtsgestalt annahm und als Mensch erfunden wurde. An Hand dieses Vorbildes ermahnt uns Paulus, jeden Geist „eitlen Ruhms“ abzulegen. Das heißt in Wahrheit mitleiden. Aber dieses Mitleiden, in dem der Herr Jesus sich übte – wenn wir uns in aller Ehrfurcht einmal so ausdrücken wollen – und wir uns gleicherweise üben, offenbart bei Ihm nur Vollkommenheit in allen Dingen, bei uns selbst jedoch unseren beschämenden Zustand.
Der Apostel spricht jedoch nicht allein von unserem Mitleiden, sondern auch von unserem Einssein mit Ihm. Aber auch dann sehen wir den gewaltigen Unterschied; denn obwohl wir mit Ihm eins sind, ist Er doch „der, der heiligt“, und wir sind „die, die geheiligt werden“ (Heb 2,11). Das zeigt klar und eindeutig den unendlichen persönlichen Abstand zwischen Ihm und uns, obwohl wir nach Gottes Plan und Ratschluss mit Ihm eins sind.
Möge die gnadenreiche Hand, die uns als Sünder erlöste, uns nun als Heilige sicher leiten, und möge der gute Hirte, der einst Sein Leben für uns darlegte, uns auf den Weiden Seines heiligen Wortes nähren um Seines Namens willen!