Der erwachsene Christ
Gedanken über geistliches Wachstum
Die Wüste
Nach der Durchquerung des Schilfmeeres sah das Volk Israel eine „große und schreckliche Wüste“ vor sich. Es war zwar aus Ägypten gerettet, aber noch nicht an dem Ziel, das Gott sich gesetzt hatte. Auf dem Weg dahin führte Er Israel nicht „den Weg durchs Land der Philister, obwohl er nahe war; denn Gott sprach: Damit es das Volk nicht bereue, wenn sie den Kampf sehen, und sie nicht nach Ägypten zurückkehren“ (2. Mo 13,17). Dieser Weg war der kürzere, denn er führte unmittelbar an der Küste des Mittelmeeres entlang, aber durch Feindesland. Gott ließ sie daher zunächst nach Südosten auf die Halbinsel Sinai ziehen, wo Er den Bund mit Seinem Volk schloss.
Das Gesetz
Bis zu dem Zeitpunkt, wo es das Gesetz empfing, stand Israel nur in der Gnade Gottes. Aber anstatt auch weiterhin der Gnade und den Verheißungen des Herrn an ihre Vorväter zu vertrauen, forderten die Kinder Israel in fleischlichem Selbstvertrauen das Gesetz mit den Worten: „Alles, was der Herr geredet hat, wollen wir tun!“ (2. Mo 19,8; 24,3.7). Damit begann für Israel die ungefähr 1500 Jahre dauernde Zeit des Gesetzes. Sie wurde erst durch Christus beendet. An Seinem Kreuz fand das Gesetz vom Sinai ein Ende (Röm 10,4; Kol 2,14). So war es von Gott vorherbestimmt: „Es [d. h. das Gesetz] wurde der Übertretungen wegen hinzugefügt, bis der Nachkomme käme, dem die Verheißung gemacht war“ (Gal 3,19).
Da im Neuen Testament vielfältige und zum Teil anscheinend unterschiedliche Äußerungen über das Gesetz vom Sinai gemacht werden und viele Christen unklare Vorstellungen über das Gesetz, seine Bedeutung und seine Geltung haben, müssen wir auch auf diesen Gegenstand eingehen. Ein klares Verständnis darüber, welchen Platz das Gesetz in den Wegen Gottes mit den Menschen einnimmt und wie der Christ dazu steht, ist wesentlich für unser geistliches Wachstum.
Die Christen in Galatien, die in Gefahr standen, sich unter das Gesetz zu stellen, mussten sich warnende Fragen stellen lassen: „Dies allein will ich von euch lernen: Habt ihr den Geist aus Gesetzeswerken empfangen oder aus der Kunde des Glaubens? Seid ihr so unverständig? Nachdem ihr im Geist angefangen habt, wollt ihr jetzt im Fleisch vollenden?“ (Gal 3,2.3). Noch deutlicher wird der Schreiber des Hebräerbriefes. Wie der Titel schon sagt, waren die Empfänger bekehrte Juden (Hebräer = Israeliten). Da einige von ihnen unter dem Druck von Verfolgungen in Palästina zum Judentum und damit zum Gesetz zurückkehren wollten, musste ihnen gesagt werden: „Denn obwohl ihr der Zeit nach Lehrer sein müsstet, habt ihr wiederum nötig, dass man euch lehre, welches die Elemente des Anfangs der Aussprüche Gottes sind; und ihr seid solche geworden, die Milch nötig haben und nicht feste Speise. Denn jeder, der noch Milch genießt, ist unerfahren im Wort der Gerechtigkeit, denn er ist ein Unmündiger; die feste Speise aber ist für Erwachsene [oder: Vollkommene, griech. teleios], die infolge der Gewöhnung geübte Sinne haben zur Unterscheidung des Guten sowohl als auch des Bösen. Deshalb, das Wort von dem Anfang des Christus verlassend, lasst uns fortfahren zum vollen Wuchs [oder: zur Vollkommenheit, griech. teleiotes]“ (Heb 5,12–6,1).
Ein Christ, der sich unter das Gesetz vom Sinai stellt, ist nach dem Urteil des Neuen Testaments also fleischlich, unmündig und weit davon entfernt, geistlich „erwachsen“ zu sein. Das ist für manche Gläubigen überraschend, ja vielleicht schockierend, aber es ist die Wahrheit.
Zunächst ist festzustellen, dass das Gesetz vom Sinai, das nicht nur aus den sogenannten „Zehn Geboten“, sondern nach der Zählung der Rabbiner aus insgesamt 613 Geboten besteht, zu keinem Zeitpunkt für die gesamte Menschheit bestimmt war. Es wurde nur Israel, dem auserwählten irdischen Volk Gottes, gegeben (5. Mo 4,8; Röm 3,2; 9,4). Dieses Volk bestand nicht nur aus Gläubigen, sondern großenteils aus natürlichen, das heißt nicht wiedergeborenen Menschen. Ihnen wurde der Wille Gottes durch das Gesetz vorgestellt. Deshalb schreibt Paulus dem Timotheus, „dass für einen Gerechten [das] Gesetz nicht bestimmt ist, sondern für Gesetzlose und Zügellose, für Gottlose und Sünder …“ (1. Tim 1,9–11). Wenn der Artikel vor dem Wort „Gesetz“ im Grundtext fehlt, wie es hier der Fall ist, beschränkt sich der Begriff nicht auf das Gesetz vom Sinai, sondern beinhaltet jede Art von Gesetzesvorschriften. Da das Gesetz sich an natürliche Menschen in dieser Welt richtete, wird es in Galater 4,3 und Kolosser 2,20 zu den „Elementen der Welt“ gerechnet. Die darin enthaltenen Satzungen hatten es mit den sinnlich wahrnehmbaren Dingen dieser Welt zu tun und brachten die Israeliten in Knechtschaft.
Das Gesetz enthält ethisch-moralische Regeln (dazu gehören die Zehn Gebote1), zivil- und strafrechtliche Anordnungen (die das Zusammenleben regelten) und religiös-kultische Gebote (z. B. die Opfergesetze). Wenn die Israeliten das Gesetz hätten halten können, wären sie dadurch tatsächlich gerechtfertigt worden und hätten Leben empfangen (3. Mo 18,5; 5. Mo 6,25). Aber das hat sich als unmöglich erwiesen, was allerdings erst im Neuen Testament offenbart wird.
Das Gesetz
- fordert Gehorsam (Röm 7,7; Gal 3,12),
- gibt Erkenntnis der Sünde (Röm 3,20),
- verflucht den Übertreter (Gal 3,10),
- führt zum Tod (Röm 7,10; 2. Kor 3,6),
- kann aber nicht rechtfertigen (Röm 3,20; Gal 2,16; 3,11).
Da es von Gott gegeben worden ist, ist das Gesetz „heilig und gerecht und gut“ (Röm 7,12; vgl. 1. Tim 1,8). Es wird im Gegensatz zum fleischlichen, unter die Sünde verkauften Menschen sogar „geistlich“ genannt (Röm 7,14). Aber den darin enthaltenen Anforderungen Gottes vermag der natürliche Mensch aufgrund seiner sündigen Natur nicht zu entsprechen. Daher kann es kein Weg zur Rechtfertigung oder Erlösung sein, weil es durch das Fleisch kraftlos ist (Röm 8,3).
Jetzt könnte man die Frage stellen: „Warum denn überhaupt das Gesetz?“ Nach Römer 5,20 kam das Gesetz „daneben ein, damit die Übertretung überströmend würde“, und nach Galater 3,19 wurde es „der Übertretungen wegen hinzugefügt“. Die beiden Ausdrücke „kam daneben ein“ und „wurde hinzugefügt“ sind bedeutsame Feststellungen, die bei Gesprächen über dieses Thema und bei der Beurteilung des Gesetzes oft übersehen werden. Die Gesetzgebung am Sinai entsprach nicht der ursprünglichen Absicht Gottes. Es war das Volk Israel, das sich nach seiner Rettung aus Ägypten verpflichtete, alles zu tun, was der Herr gebot, anstatt sich auch weiterhin Seiner Gnade anzuvertrauen (2. Mo 19,8; 24,3.7). Er gab Seinem Volk dann das Gesetz, aber letztendlich nur, um zu beweisen, dass der Mensch unfähig ist, ein von Gott gegebenes, vollkommenes Gesetz zu halten. Die allerdings erst im Neuen Testament gezogene Schlussfolgerung lautet denn auch: „Aus Gesetzeswerken wird kein Fleisch vor ihm gerechtfertigt werden; denn durch Gesetz kommt Erkenntnis der Sünde“ (Röm 3,20). Damit ist einerseits die völlige Verdorbenheit des Menschen, zugleich aber auch die Zwecklosigkeit jeder Religion2 erwiesen. Wenn nicht einmal eine Religion, die Gott selbst gegeben hat, erlösen kann, dann auch keine andere.
Ein weiterer, damit zusammenhängender Zweck des Gesetzes wird in Galater 3,23–25 genannt. Es war für Israel ein „Erzieher“, der das Volk bewahrte und bewachte. Das bedeutet nicht, dass es dadurch vor der Sünde bewahrt blieb. Wie wir gesehen haben, war das Gegenteil der Fall. Aber durch das Gesetz wurde es von den Nationen abgesondert. Als einziges Volk der Erde besaß es das Vorrecht, Gott zu kennen (vgl. 5. Mo 4,8). Als „Erzieher auf Christus hin“ diente das Gesetz jedoch nicht der vorbereitenden Verbesserung der Israeliten. Es konnte nur Sündenerkenntnis und dadurch den Wunsch nach Errettung hervorbringen. Auch hier sehen wir wieder deutlich, dass die Geltung des Gesetzes mit der Einführung des christlichen Glaubens beendet war: „Da aber der Glaube gekommen ist, sind wir nicht mehr unter einem Erzieher; denn ihr alle seid Söhne Gottes durch den Glauben an Christus Jesus“ (Gal 3,25.26; 4,3–5).
Zwar enthält das Gesetz allgemeingültige ethisch-moralische Richtlinien, wie zum Beispiel die Verbote zu töten oder zu stehlen. Die hinter diesen Geboten stehenden Grundsätze finden sich nicht nur im Neuen Testament wieder, sondern in den Gesetzeswerken nahezu aller Kulturen und Gesellschaftsformen. Selbstverständlich müssen sie auch im Christentum verwirklicht werden. Für den Christen ist die Grundlage dafür jedoch nicht das Gesetz und das Halten der alttestamentlichen Gebote, sondern weil der Herr Jesus und Sein vollkommenes Leben als Mensch unsere Richtschnur und unser Vorbild ist (1. Kor 11,1; Gal 5,18). In Seinem Leben sehen wir die heilige, vollkommene Liebe Gottes offenbart.
Die höchste Forderung, die das Gesetz vom Sinai stellte, war Liebe zu Gott und zum Nächsten (Mt 22,37–40; Röm 13,10). Das gilt selbstverständlich auch heute noch. Aber der Maßstab, nach dem der Christ handelt, ist ein viel höherer. Er wird im Brief an die Galater „das Gesetz des Christus“ genannt (Gal 6,2; vgl. das „Gesetz der Freiheit“ in Jak 1,25; 2,12). Wer als von neuem Geborener unter der Leitung des Heiligen Geistes lebt und handelt, erfüllt sowohl die Rechtsforderung des Gesetzes, das heißt alles, was das Gesetz vom Menschen fordert, als auch die Gebote unseres Herrn (Joh 14,21; Röm 8,4).
Nun könnte eingewandt werden: „Also gibt es im Neuen Testament doch ein Gesetz und Gebote für Christen!“ Wenn wir diese jedoch auf ihren Inhalt hin untersuchen, stellen wir fest, dass sie eine völlig andere Bedeutung haben. Wenn wir in Galater 6,2 aufgefordert werden: „Einer trage des anderen Lasten, und so erfüllt das Gesetz des Christus“, dann ist leicht zu erkennen, dass es hier um etwas ganz anderes geht als im Gesetz vom Sinai. Ebenso ist es mit dem Gebot des Herrn Jesus für Seine Jünger und uns, einander zu lieben (Joh 13,34). Das Wort „Gebot“ hat im Neuen Testament eine völlig andere Bedeutung als im Alten Testament. Die neutestamentlichen Gebote sind der Ausdruck des Willens Gottes, des Vaters, für Seine Kinder. Das Gesetz vom Sinai war der Ausdruck des Willens eines heiligen Gottes für natürliche, sündige Menschen. Wenn sie es hielten, wurde ihnen Leben und Segen verheißen. Die Gebote des Neuen Testaments sind wiedergeborenen Menschen gegeben, um das neue Leben in ihnen zu lenken und zu leiten.3
Wie gesagt, haben die ethisch-moralischen Ansprüche Gottes, die im Gesetz vom Sinai zum Ausdruck kommen, universelle Gültigkeit. Das Gesetz selbst mit seinen vielen detaillierten Forderungen und deren Folgen galt dagegen nur für das Leben des Volkes Israel.
Die übrigen Menschen werden nach Römer 1 und 2 nicht durch das Gesetz vom Sinai be- und verurteilt, sondern aufgrund ihrer bewussten Abwendung vom Schöpfer und des Übergehens des in jedem Menschen vorhandenen Gewissens. Der Jude, der unter dem Gesetz sündigt, steht unter einer höheren Verantwortung, und alle, die sich Christen nennen, unter der höchsten, weil sie die Gedanken Gottes in Seinem Wort, insbesondere im Neuen Testament, erkennen können.
Durch den Tod Christi hat das Gesetz seine Gültigkeit verloren. Er hat „das Gesetz der Gebote in Satzungen weggetan“ (Eph 2,15). „Als er ausgetilgt hat die uns entgegen stehende Handschrift in Satzungen, die gegen uns war, hat er sie auch aus der Mitte weggenommen, indem er sie an das Kreuz nagelte“ (Kol 2,14). Der Grund dafür wird in Hebräer 7,18 und 19 angegeben: „Denn da ist eine Abschaffung des vorhergehenden Gebots seiner Schwachheit und Nutzlosigkeit wegen (denn das Gesetz hat nichts zur Vollendung gebracht) und die Einführung einer besseren Hoffnung, durch die wir Gott nahen.“
Wenn aber der Herr Jesus das Ende des Gesetzes ist, dann nicht nur im Blick auf die Erlösung, sondern auch im Blick auf die Lebensführung der Erlösten. Eine Trennung der Anwendungsgebiete des Gesetzes dürfen wir nicht vornehmen. Wenn es sich als unfähig zur Errettung verlorener Sünder erwiesen hat und abgeschafft worden ist, darf man es nicht als Richtschnur des Glaubenslebens von Erlösten wieder aufleben lassen. Trotzdem versuchten jüdische Gesetzlehrer (sogenannte „Judaisten“) von Anfang an, das Gesetz vom Sinai in den christlichen Glauben einzuführen. Die beiden bekanntesten Abschnitte des Neuen Testaments, in denen dieses Problem behandelt wird, sind Apostelgeschichte 15 und der Brief an die Galater. An beiden Stellen wird klar zum Ausdruck gebracht, dass die Vermischung von Gesetz und Gnade dem Willen Gottes zuwiderläuft. Dennoch ist in weiten Teilen der Christenheit die Beobachtung des Gesetzes – das heißt praktisch: der „Zehn Gebote“ – zu einem Bestandteil des Glaubenslebens geworden. Als Folge davon sind Formalismus und Traditionalismus an die Stelle der Freiheit und Leitung des Heiligen Geistes getreten. Was jedoch noch schlimmer ist: Christen, die sich unter das Gesetz stellen (und wie viele gibt es leider!), bleiben in dem Zustand stecken, der uns in Römer 7 beschrieben wird. Sie sehen weder, dass das Gesetz sein Ende am Kreuz Christi gefunden hat noch dass sie dem Gesetz gestorben sind (Röm 7,4.6; vgl. den Abschnitt: „Der Sünde und den Elementen der Welt gestorben“, S. 77).
Neben seiner eigentlichen Stellung in den Beziehungen Gottes zu Seinem irdischen Volk Israel enthält das Gesetz vom Sinai heute jedoch eine große Anzahl von Vorschriften, die eine typologische Bedeutung für uns haben. „Denn alles, was zuvor geschrieben worden ist, ist zu unserer Belehrung geschrieben, damit wir durch das Ausharren und durch die Ermunterung der Schriften die Hoffnung haben“ (Röm 15,4). Doch sind sie nur „Schatten der zukünftigen Dinge, der Körper aber ist des Christus“ (Kol 2,17; Heb 10,1). Die Vorschriften des Gesetzes bezüglich des Heiligtums, des Priestertums, der Opfer, des täglichen Lebens und vieler anderer Dinge enthalten tiefe, zum Teil wohl noch gar nicht völlig erforschte und erkannte geistliche Belehrungen für uns. Ein besonders schönes und wichtiges Beispiel dafür ist das Zelt der Zusammenkunft, das wir im zweiten Teil des zweiten Buches Mose finden.
Die Wohnung Gottes
Im Lied der Erlösung, das Israel nach dem Durchzug durch das Schilfmeer sang, ist nicht vom Gesetz die Rede (siehe 2. Mo 15). Wie wir gesehen haben, lag die Gesetzgebung nicht in der ursprünglichen Absicht Gottes. Was wir dagegen in diesem Lied finden, ist das Wohnen Gottes in der Mitte Seines erlösten Volkes: „Du hast durch deine Güte geleitet das Volk, das du erlöst hast, hast es durch deine Stärke geführt zu deiner heiligen Wohnung … Du wirst sie bringen und pflanzen auf den Berg deines Erbteils, die Stätte, die du, Herr, zu deiner Wohnung gemacht hast, das Heiligtum, Herr, das deine Hände bereitet haben“ (2. Mo 15,13.17). Mit der „Wohnung“ ist in Vers 13 das Zelt der Zusammenkunft, in Vers 17 dagegen der Tempel in Jerusalem gemeint. Sie ist ein Bild der neutestamentlichen Versammlung Gottes, wie aus verschiedenen Stellen hervorgeht (siehe 1. Kor 3,16.17; Eph 2,21.22; 1. Pet 2,5; Off 21,3). Zelt und Tempel waren durch die Heiligkeit Gottes gekennzeichnet, der darin wohnte. Der vordere Raum trug die Bezeichnung „Heiliges“, der hintere ist das „Allerheiligste“, wörtlich das „Heilige der Heiligen“.
Gottes Absicht ist es, bei den Menschen zu wohnen. Die Voraussetzung dafür – im Alten Testament noch im Vorbild – ist die vollbrachte Erlösung und die dadurch bewirkte Übereinstimmung von Sündern mit dem heiligen Gott. Deshalb wohnte Gott weder bei Adam im Garten Eden noch bei Noah auf der durch die Sintflut gereinigten Erde noch bei Abraham, Seinem Freund. Erst als Sein irdisches Volk Israel aus der Sklaverei in Ägypten befreit und nach dem Durchzug durch das Schilfmeer auch völlig davon getrennt und für Ihn abgesondert war, lesen wir zum ersten Mal von Seiner „Wohnung“. Wie wichtig muss Ihm das Wohnen bei den Seinen sein, dass Er Mose dazu inspirierte, in seinem „Lied der Erlösung“ sogleich von dieser Wohnung zu singen, die noch gar nicht existierte!
Zelt und Tempel Israels haben einen vorübergehenden Charakter. Das zeigt der Ausdruck „Hütte“, der in Hebräer 13,10 für das ganze System des israelitischen Gottesdienstes benutzt wird. Die Versammlung Gottes wird dagegen ewig bestehen. In alle Ewigkeit wird die Herrlichkeit Gottes, des Vaters, in der Versammlung in Christus Jesus gerühmt werden (siehe Eph 3,21).
Auf Geheiß Gottes wurde das Zelt der Zusammenkunft nach dem Muster erstellt, das Mose auf dem Berg gezeigt worden war (2. Mo 25,9.40). Ähnlich war es später beim Tempel (1. Chr 28,11.19). Das irdische Heiligtum Gottes ist sowohl „ein Gegenbild des wahrhaftigen“ (Heb 9,24), das heißt des Himmels, als auch ein Vorbild des geistlichen Hauses, das jetzt von allen Erlösten gebildet wird (Off 21,2.3).
Nach 2. Mose 15, Vers 13 und 17 ist Gott Derjenige, der die Wohnung bereitet, aber in den Kapiteln 25 bis 40 sehen wir, wie Menschen das Zelt und alle dazugehörigen Geräte bauen, und zwar nach dem Muster, das Mose gezeigt worden war. Besonders beachtenswert sind die Worte Gottes an Mose: „Nach allem, was ich dir zeige, das Muster der Wohnung und das Muster aller ihrer Geräte, so sollt ihr es machen“ (2. Mo 25,9; vgl. Vers 40; Kap. 26,30; 27,8; 40,16.19.21.23.25.27.29.32). Gott überlässt die Planung des Baus weder damals noch heute den Menschen, sondern hat auch uns Seinen Willen in allen Einzelheiten mitgeteilt, damit die Gläubigen an allen Orten „mitaufgebaut werden zu einer Behausung Gottes im Geist“ und damit wir wissen, „wie man sich verhalten soll im Haus Gottes, das die Versammlung des lebendigen Gottes ist, der Pfeiler und die Grundfeste der Wahrheit“ (Eph 2,22; 1. Tim 3,15).
Mose sah das vollkommene Muster des Zeltes der Zusammenkunft auf dem Berg Horeb. Die neutestamentliche Entsprechung finden wir in den Mitteilungen über den Ratschluss Gottes bezüglich Seiner Versammlung. Die Grundlage zur Ausführung dieses Ratschlusses hat der Herr Jesus durch Sein Werk am Kreuz und die Sendung des Heiligen Geistes gelegt. Diese Grundlage ist göttlich und daher unveränderlich. Der Apostel Paulus schreibt: „Ein jeder aber sehe zu, wie er darauf baut. Denn einen anderen Grund kann niemand legen, außer dem, der gelegt ist, welcher ist Jesus Christus“ (1. Kor 3,10.11). In diesen Worten sehen wir sowohl die göttliche Grundlage als auch einen Appell an unsere Verantwortung. Wir haben die Aufgabe, durch die Verkündigung des Evangeliums und der Lehre des Wortes Gottes auf dieser Grundlage und in Übereinstimmung damit zu „bauen“. Wäre es Mose und seinen Mitarbeitern Oholiab und Bezaleel wohl in den Sinn gekommen, die Anordnungen Gottes für den Bau Seiner Wohnung zu vernachlässigen oder beiseite zu setzen? Genauso wenig haben wir die Freiheit, von den Anweisungen des Neuen Testaments in Bezug auf die Versammlung Gottes abzuweichen, auch wenn es sich um scheinbar unwichtige Dinge handelt. Immer gilt für das Haus Gottes der Grundsatz: „Deinem Haus geziemt Heiligkeit, Herr, auf immerdar“ (Ps 93,5; 1. Kor 3,17)! Das dürfen wir nie vergessen.
Die Anweisungen des Wortes Gottes für den Bau des Hauses Gottes, der Versammlung, und für unser Verhalten darin sind jedoch im Lauf der Geschichte in vieler Hinsicht abgewandelt oder missachtet worden. Wie viel ist von der Welt, aus der wir doch herausgenommen sind, in die Versammlung Gottes eingedrungen! Als der Pharao Mose anbot, doch im Land Ägypten Gott Opfer zu bringen, lehnte Mose dies ab, weil Gott dies nicht wohlgefällig sein konnte (2. Mo 8,21–23). Wie viel weniger kann Gott heute eine Vermischung der Seinen und Seines Hauses mit der Welt dulden! „Seid nicht in einem ungleichen Joch mit Ungläubigen. Denn welche Genossenschaft hat Gerechtigkeit und Gesetzlosigkeit? Oder welche Gemeinschaft Licht mit Finsternis? Und welche Übereinstimmung Christus mit Belial? Oder welches Teil ein Gläubiger mit einem Ungläubigen? Und welchen Zusammenhang der Tempel Gottes mit Götzenbildern? Denn ihr seid der Tempel des lebendigen Gottes, wie Gott gesagt hat: ‚Ich will unter ihnen wohnen und wandeln, und ich werde ihr Gott sein, und sie werden mein Volk sein.’ Darum geht aus ihrer Mitte hinaus und sondert euch ab, spricht der Herr, und rührt Unreines nicht an, und ich werde euch aufnehmen; und ich werde euch zum Vater sein, und ihr werdet mir zu Söhnen und Töchtern sein, spricht der Herr, der Allmächtige. Da wir nun diese Verheißungen haben, Geliebte, so lasst uns uns selbst reinigen von jeder Befleckung des Fleisches und des Geistes, indem wir die Heiligkeit vollenden in der Furcht Gottes“ (2. Kor 6,14–7,1).
Das Zelt der Zusammenkunft wurde für die Wanderung durch die Wüste, der Tempel dagegen im Land Kanaan gebaut, und zwar in Jerusalem, an dem Ort, den der Herr erwählt hatte, um „seinen Namen dahin zu setzen“ (5. Mo 12,5; 1. Kön 11,36). Bei der neutestamentlichen Wohnung Gottes, der Versammlung, sehen wir von Anfang an einen „Tempel“ und ein „Haus Gottes“, denn der Platz und die Art des Zusammenkommens der Gläubigen in der gegenwärtigen Zeit sind von Anfang an bekannt (Mt 18,20). Bezeichnenderweise wird im Neuen Testament jedoch auch vom „Zelt“ oder von der „Hütte Gottes“ gesprochen, und zwar nicht nur im Tausendjährigen Reich, sondern auch im ewigen Zustand, wo wir eher ein Bild der Beständigkeit erwarten würden. Mit dieser Bezeichnung soll angedeutet werden, dass die „Hütte“ zwar die Wohnung Gottes bei den Menschen ist, aber nicht der Ausdruck der höchsten Vorrechte der Versammlung, deren Glieder ewig die „Braut des Lammes“ bilden und im Vaterhaus Gottes sein werden (2. Mo 25,8; Joh 14,2–4; Off 7,15; 21,3).
Die Erlösung und Gottes Wohnen bei den Erlösten sind die beiden Hauptthemen des zweiten Buches Mose. Sie gehören eng zusammen. Es kommt nicht nur darauf an, erlöst zu sein, sondern auch die Gedanken Gottes über Seine Versammlung zu kennen und zu verwirklichen. Auch das Verständnis darüber gehört zum geistlichen Wachstum. Wer dagegen argumentiert, die Erlösung sei wichtiger, weil sie für die Ewigkeit gilt, das Zusammenkommen der Gläubigen dagegen hätte nur Bedeutung für unser Leben auf der Erde, zeigt wenig Verständnis für die Gedanken Gottes und für seine eigene Verantwortung als Christ. Die gerechten Taten der Heiligen werden einmal bei der Hochzeit des Lammes im Himmel als „feine Leinwand, glänzend und rein“, das Hochzeitskleid der Braut bilden und damit zur Freude und Ehre unseres Herrn dienen (Off 19,8). Wie viel Segen geht uns verloren, wenn wir unsere Vorrechte, aber auch unsere Verantwortung in Verbindung mit der Versammlung Gottes nicht erkennen und schätzen.
Das Zelt der Zusammenkunft
Das Zelt der Zusammenkunft, das für die Wüstenwanderung gebaut wurde, spricht von unserem Zeugnis in der Welt, das ja auch vorübergehend ist. In der Ewigkeit wird es kein Zeugnis mehr geben. Im vierten Buch Mose, das die Wanderung Israels durch die Wüste zeigt, wird das Zelt einige Male „Zelt des Zeugnisses“ (4. Mo 9,15; 17,23; 18,2) und „Wohnung des Zeugnisses“ (4. Mo 1,50.53; 10,11) genannt. Das eigentliche „Zeugnis“ waren die beiden Gesetzestafeln mit den zehn Geboten Gottes, die sich in der Bundeslade befanden (2. Mo 25,16.21; 31,18). Sie legten Zeugnis von Gott und Seinen heiligen Anforderungen an Sein Volk ab. Die Bundeslade wird deshalb oft die „Lade des Zeugnisses“ genannt (siehe 2. Mo 25,22 usw.). Zum letzten Mal kommt diese Bezeichnung in Josua 4,16 vor, wo es beim Eintritt in das Land Kanaan heißt: „Gebiete den Priestern, die die Lade des Zeugnisses tragen, dass sie aus dem Jordan heraufsteigen.“ Die Zeit des Zeugnisses in der Wüste war jetzt vorüber. Da wir uns in einer Hinsicht geistlich gesehen unser ganzes Leben in der „Wüste“ befinden, haben auch wir die Verantwortung, ein beständiges gemeinsames Zeugnis von Gott, Seiner Gnade und Seiner Heiligkeit abzulegen.
Das Zeugnis für Israel war zugleich ein Zeugnis von Israel als Gottes Volk (Ps 78,5; 122,4). Gott hatte Seinem Volk das „Zelt des Zeugnisses“ und alle dazugehörigen Geräte anvertraut, damit sie sie durch die Wüste trugen, bis sie in das Land Kanaan kamen. Den Charakter eines mit Verantwortung verbundenen Zeugnisses trägt auch die Versammlung, und zwar nicht nur im Blick auf die Erde, sondern für die gesamte Schöpfung. Nach Epheser 3,10 wird „den Fürstentümern und den Gewalten in den himmlischen Örtern durch die Versammlung kundgetan die mannigfaltige Weisheit Gottes“. Damit ist zwar nicht so sehr ein aktives, verantwortliches Zeugnis der Gläubigen gemeint, sondern eher die in der Versammlung hervorstrahlende Weisheit Gottes. Doch zeigt die an die Schwestern gerichtete Aufforderung, beim Beten und Weissagen ihren Kopf zu bedecken, dass die Engel auch unser praktisches Verhalten als Glieder Seiner Versammlung beobachten: „Darum soll die Frau eine Macht auf dem Haupt haben um der Engel willen“ (1. Kor 11,10).
Nicht nur das Zelt als solches, sondern auch die einzelnen Geräte, die dazu gehörten, haben eine geistliche Bedeutung. Alle Einzelteile mussten damals von den Leviten nach einer genau festgelegten Ordnung getragen werden (4. Mo 4). Die Stangen, mit denen die Lade des Zeugnisses und alle übrigen Geräte mit Ausnahme des goldenen Leuchters und des kupfernen Waschbeckens getragen wurden, waren die sichtbaren Zeichen für diesen Auftrag.
Die Bundeslade spricht davon, dass der Mensch gewordene Sohn Gottes am Kreuz das Sühnungswerk vollbracht hat. Diese Wahrheit haben wir ihrem heiligen Charakter entsprechend zu behandeln und zum Zeugnis in der Welt zu „tragen“. Das Gleiche gilt für die Wahrheit von der Einheit des Leibes Christi, die – zwar noch unvollkommen – in dem Tisch mit den zwölf Schaubroten dargestellt wird, die die zwölf Stämme Israels repräsentieren sollten, für den Brandopferaltar als Bild des Tisches des Herrn und für den Räucheraltar als Bild des Gebets und der Anbetung, für den goldenen Leuchter, für das Licht des Heiligen Geistes im Heiligtum und für das Waschbecken, das von der beständigen Notwendigkeit zur Reinigung der Priester spricht.
Die Wahrheit Gottes bleibt zwar unabhängig von unserem Verhalten als unumstößliche und unveränderliche Tatsache bestehen. Doch sind wir als Gläubige aufgefordert, davon Zeugnis abzulegen. Aber wie sieht es in der Praxis aus? Viele Kinder Gottes kennen die Wahrheit zwar, aber wird sie auch wirklich zur Ehre Gottes und zum Zeugnis für andere „getragen“, das heißt praktisch verwirklicht? Ist die Wertschätzung dieser Lehre noch bei uns vorhanden, oder ist sie uns eine Last, die wir nicht gern tragen? Haben wir den aufrichtigen Wunsch, Gottes Gedanken über Seine Versammlung zu verwirklichen, oder ist es nur noch ein Bekenntnis? Manchem Leviten mag das Gewicht der Geräte drückend gewesen sein, wenn die Sonne brannte und der Weg durch die Wüste beschwerlich war. Aber es waren die hochheiligen Dinge ihres Gottes, die sie zu Seiner Ehre und zum Zeugnis für Ihn tragen sollten. Das gab ihnen Mut und Kraft.
Heute sind alle Gläubigen ihrer Stellung nach geistliche „Leviten“. Timotheus empfing vom Apostel Paulus Belehrungen, damit er wusste, „wie man sich verhalten soll im Haus Gottes, das die Versammlung des lebendigen Gottes ist, der Pfeiler und die Grundfeste der Wahrheit“ (1. Tim 3,15). Später wurde er aufgefordert: „Halte fest das Bild gesunder Worte, die du von mir gehört hast, in Glauben und Liebe, die in Christus Jesus sind. Bewahre das schöne anvertraute Gut durch den Heiligen Geist, der in uns wohnt“ (2. Tim 1,13.14). Diese Ermunterung zum „Levitendienst“ im Haus Gottes gilt auch uns in der gegenwärtigen Zeit. Auf alle Einzelheiten des Zeltes der Zusammenkunft einzugehen, würde den Rahmen dieser Betrachtung sprengen. Die Beschäftigung damit ist jedoch gesegnet und lohnend für jeden, dem die Gedanken Gottes über das Zusammenkommen der Gläubigen nach dem Wort Gottes am Herzen liegt, und der wachsen möchte in der Gnade und der Erkenntnis unseres Herrn und Seiner Gedanken.
Exkurs: Der Tempel
Der Tempel4 in Jerusalem und seine typologische Bedeutung gehören eigentlich nicht zum Bereich der Vorbilder, die wir hier betrachten. Wir werden uns jedoch auch mit der geistlichen Bedeutung des Landes Kanaan beschäftigen. Unter diesem Gesichtspunkt ist der an dem von Gott erwählten Ort erbaute Tempel für unser Thema von Interesse.
Sowohl der Tempel Salomos im Alten wie die Versammlung Gottes im Neuen Testament werden ein „heiliger Tempel“ genannt (Ps 5,8; 79,1; 138,2; Jona 2,5.8; 1. Kor 3,17; Eph 2,21). Im Unterschied zum Zelt der Zusammenkunft weist der Tempel eher auf die Versammlung nach dem Ratschluss Gottes hin.3 Das Zelt war klein und äußerlich unscheinbar, der Tempel dagegen groß und herrlich. Er repräsentiert einen geordneten, dauerhaften Zustand.
Der von Gott ausersehene Ort in Jerusalem, auf dem der Tempel erbaut wurde, weist typologisch auf die neutestamentliche Wahrheit über den Platz des Zusammenkommens hin: „Wo zwei oder drei versammelt sind in meinem Namen, da bin ich in ihrer Mitte“ (Mt 18,20). Dies ist für uns der Ort, den der Herr erwählt hat. Nicht Menschen haben darüber zu befinden, sondern nur Er. An uns ist es, diesen Ort zu suchen und Seinem Wort entsprechend zu handeln, damit Er Seine kostbare Verheißung erfüllen kann.
Wie wir gesehen haben, enthält bereits das Lied Moses am Anfang der Wüstenreise eine Andeutung des Ortes, wo der Tempel Gottes einmal seinen Platz haben würde: „Du wirst sie bringen und pflanzen auf den Berg deines Erbteils, die Stätte, die du, Herr, zu deiner Wohnung gemacht hast, das Heiligtum, Herr, das deine Hände bereitet haben“ (2. Mo 15,17). Hier wird zunächst das „Erbteil“ Gottes für Sein Volk erwähnt, das heißt das Land Kanaan als Bild der himmlischen Örter. Dann lesen wir von der „Stätte“, die in Gottes Ratschluss bereits feststand, und schließlich von Seiner „Wohnung“, dem „Heiligtum“, das Seine Hände bereitet haben. Alles geht von Gott aus, der Sein Volk in Seinem Land bei sich haben will. Aber der Ort selbst wird nicht genannt.
Die Reihenfolge dieser Begriffe ist wichtig für unser Glaubensleben. Gott, unser Vater, wünscht, dass wir zunächst den ganzen Reichtum der uns von Ihm geschenkten Segnungen kennenlernen. Dann werden wir auch den Wert des von Ihm erwählten geistlichen Ortes und die Erhabenheit und Heiligkeit Seiner Wohnung wirklich schätzen lernen.
Solange Israel sich auf der Wanderschaft durch die Wüste befand, konnte es diesen Ort nicht finden. Zwar war das Zelt der Zusammenkunft der Mittelpunkt, wo Gott in der Mitte Seines Volkes wohnte, wie die Wolkensäule über dem Zelt der Zusammenkunft anzeigte. Hier sollten Ihm die Opfer dargebracht werden, obwohl es zweifelhaft ist, ob es je in Gott wohlgefälliger Weise geschah. Der Prophet Amos klagt: „Habt ihr mir vierzig Jahre in der Wüste Schlachtopfer und Speisopfer dargebracht, Haus Israel? Ja, ihr habt den Sikkut, euren König, und den Kijun, eure Götzenbilder, getragen, das Sternbild eures Gottes, die ihr euch gemacht hattet“ (Amos 5,25.26; vgl. Apg 7,42.43). Es war, wie Mose am Ende der Wüstenreise, kurz vor dem Eintritt in das Land Kanaan, feststellen muss: „Ihr sollt nicht tun nach allem, was wir heute hier tun, jeder was irgend recht ist in seinen Augen; denn ihr seid bis jetzt noch nicht zu der Ruhe und zu dem Erbteil gekommen, das der Herr, dein Gott, dir gibt“ (5. Mo 12,8.9).
Kurz vor dem Ende der Wüstenreise wird hier zum ersten Mal erwähnt, dass der Herr einen Platz für Sein Haus erwählen würde. In 5. Mose 12,5 heißt es: „… den Ort sollt ihr aufsuchen, den der Herr, euer Gott, aus allen euren Stämmen erwählen wird, um seinen Namen dahin zu setzen, dass er dort wohne, und dahin sollst du kommen.“ Insgesamt 21 Mal wird „der Ort, den der Herr, dein Gott, erwählen wird“ in diesem Buch erwähnt (5. Mo 12,5.11.14.18.21.26; 14,23–25; 15,20; 16,2.6.7.11.15.16; 17,8.10; 18,6; 26,2; 31,11).5
Doch Jahrhunderte vergingen, bis David nach schweren Erfahrungen diesen Ort auf der Tenne Ornans in Jerusalem fand und sein Sohn Salomo dort das Haus Gottes erbaute (1. Chr 21,28–22,1; 2. Chr 3–5). Jetzt heißt es nicht mehr „erwählen wird“, sondern Gottes Volk kann nun sagen: „… die Stadt, die du erwählt hast“.6 Und doch wurde Gott auch an diesem herrlichen und heiligen Ort verunehrt. Israel – später Juda – und seine Könige, die doch die höchste Verantwortung trugen, handelten oft im Widerspruch zur Heiligkeit Gottes und des Ortes, an dem Er angebetet werden wollte. Ist es heute besser?
Zwar wurde der in großer Pracht zur Ehre Gottes erbaute Tempel Salomos von Gott als Seine heilige Wohnung auf der Erde anerkannt. Aber schon nach wenigen Jahrzehnten begann der Niedergang des Gottesdienstes, der vier Jahrhunderte später in der Zerstörung des Tempels gipfelte. Gott hatte Sein Haus auf der Erde verlassen (1. Kön 8,10.11; Hes 9,3; 11,23). Aber als der Herr Jesus auf der Erde war, gab es wieder einen „Tempel“, in dem „die ganze Fülle der Gottheit leibhaftig“ wohnte (Joh 2,19–21; Kol 1,19; 2,9). Und heute bildet Seine Versammlung, die Gesamtheit aller Erlösten, den geistlichen Tempel Gottes, der wie der erste durch Seine Heiligkeit gekennzeichnet ist.
Im Neuen Testament wird die Versammlung bereits bei ihrer ersten Erwähnung als Bauwerk oder Haus gesehen. Wenn der Herr Jesus sagt: „Auf diesen Felsen werde ich meine Versammlung bauen“, sehen wir das Bild eines fest und unerschütterlich gegründeten Gebäudes vor uns (Mt 16,18). Nachdem durch das Herabkommen des Heiligen Geistes am Pfingsttag die Versammlung entstanden war, heißt es in Epheser 2,21: „... der ganze Bau, wohl zusammengefügt, wächst zu einem heiligen Tempel im Herrn“, und in 1. Korinther 3,16.17: „Wisst ihr nicht, dass ihr Gottes Tempel seid und der Geist Gottes in euch wohnt? ... der Tempel Gottes ist heilig, und solche seid ihr.“ Der „heilige Tempel im Herrn“ wird nur von wahren Gläubigen gebildet, weil nach Matthäus 16,18 der Herr Jesus selbst der Bauende ist.
Unter einem anderen Aspekt ist der Bau des Hauses Gottes der Verantwortung der Menschen anvertraut. Hier wird jedoch nicht der Begriff „Tempel“ verwendet. Paulus erinnert die Gläubigen in Ephesus an diesen Aspekt, wenn er am Schluss seiner Ausführungen über die Versammlung schreibt: „…auch ihr [werdet] mitaufgebaut zu einer Behausung Gottes im Geist“ (Eph 2,22). In Korinth hatte er selbst als weiser Baumeister den Grund gelegt, auf dem andere weiterbauten. Und wie sollten sie das tun? Das wird in den folgenden Versen beschrieben, die mit den Worten eingeleitet werden: „Ein jeder aber sehe zu, wie er darauf baut“ (1. Kor 3,10–17). Unter diesem Aspekt können im Haus Gottes leider auch bloße Bekenner ohne göttliches Leben sein, wie aus 1. Korinther 1,2 sowie Kapitel 3,16 und 17 hervorgeht.
Die Versammlung, der heilige Tempel auf der Erde soll zur Ehre Gottes dienen. Er muss daher vor dem Eindringen falscher Lehre geschützt werden, durch die er verdorben werden kann (1. Kor 3,16.17). In diesem Tempel kann auch keine irgendwie geartete Verbindung mit Götzendienst geduldet werden (2. Kor 6,16–7,1). Alles das ist nur möglich, wenn wir persönlich und gemeinsam vom Bösen abgesondert sind und uns von jeder Befleckung des Fleisches und des Geistes reinigen. Nur so können wir „die Heiligkeit vollenden in der Furcht Gottes“.
Die vierzigjährige Wüstenreise
Im dritten Monat nach ihrem Auszug aus Ägypten erreichten die Kinder Israel den Horeb, den Berg Gottes (2. Mo 19,1). Von dort aus waren es nur elf Tagereisen, um zu der im Süden des Landes Kanaan gelegenen Stadt Kades-Barnea (im Grenzgebiet zwischen Kanaan und der Sinai-Halbinsel) zu gelangen (5. Mo 1,2). Israel hätte also in sehr kurzer Zeit in das Land Kanaan gelangen können. Doch es kam anders.
Der Grund für die lange Wanderung
Warum musste die Wüstenreise der Kinder Israel vierzig Jahre dauern? Wegen ihres Unglaubens. Zwar verging zunächst noch ein knappes Jahr mit dem Bau des Zeltes der Zusammenkunft und der Gesetzgebung, bis das Volk zum ersten Mal aus der Wüste Sinai aufbrach (4. Mo 10,11). Schon bald wurde Kades in der Wüste Paran erreicht. Von dort sandte Mose auf Geheiß Gottes zwölf Kundschafter aus, die das Land Kanaan erforschen sollten (4. Mo 13). Aus 5. Mose 1,22 geht jedoch hervor, dass der ursprüngliche Gedanke, Spione auszusenden, vom Volk Israel selbst ausging, als es in der Nähe von Kades angekommen war. Aber hatte Gott ihnen nicht verheißen, sie sicher in das Land zu bringen? Es war also Unglaube, der die Israeliten zu dieser „Vorsichtsmaßnahme“ greifen ließ. Das wurde bei der Rückkehr der Kundschafter nach vierzig Tagen offenbar. Zehn von ihnen waren in der Lage, durch ihre negative Berichterstattung das gesamte Volk zu entmutigen, obwohl sie die Zeichen der Fruchtbarkeit und des Segens in Form der Trauben von Eskol bei sich hatten (4. Mo 13,21–33)! So brachten sie das ganze Volk dazu, das „kostbare Land“ zu verschmähen (4. Mo 14,31; Ps 106,24). Das Ergebnis war, dass das Volk allen Ernstes nach Ägypten zurückkehren wollte (4. Mo 14,3.4). Als Strafe für ihre Unzufriedenheit und ihr Murren ließ Gott allen Israeliten ab zwanzig Jahren ankündigen, dass sie entsprechend der Anzahl Tage, die die Kundschafter unterwegs waren, vierzig Jahre in der Wüste umherwandern sollten, bis alle, die Josua und Kaleb nicht geglaubt hatten, gestorben wären. Im Neuen Testament wird von ihnen gesagt: „Aber an den meisten von ihnen hatte Gott kein Wohlgefallen, denn sie sind in der Wüste niedergestreckt worden“ (1. Kor 10,5; vgl. Heb 3,7–4,11; Jud 5). Wir haben es hier also mit einem Strafgericht Gottes über Sein Volk zu tun.
Eine alte Frage ist, wer mit denen, die „in der Wüste niedergestreckt“ wurden, gemeint ist. Geht es hier bildlich gesehen um Ungläubige oder um Gläubige? Betrachten wir den ersten Brief an die Korinther, in dem diese Worte stehen, etwas näher! Dieser Brief ist adressiert an die „Versammlung Gottes, die in Korinth ist, die Geheiligten in Christus Jesus, die berufenen Heiligen, samt allen, die an jedem Ort den Namen unseres Herrn Jesus Christus anrufen, ihres und unseres Herrn“ (1. Kor 1,2). Die Empfänger werden hier also sowohl aus der Sicht Gottes („Geheiligte in Christus Jesus“) als auch unter dem Gesichtspunkt ihres Bekenntnisses betrachtet („die den Namen unseres Herrn Jesus Christus anrufen“). Das Erstere bezieht sich auf die Gnade Gottes, das Letztere auf unsere Verantwortung.
Nun stellt uns die Wüstenreise Israels sowohl die Gnade Gottes im Blick auf die Seinen als auch deren Verantwortung vor, Ihm zu gehorchen und zu folgen. Die Israeliten, die unter dem Schutz des Blutes des Passahlammes Zuflucht gefunden hatten, stellen bildlich die Gläubigen dar, die durch das Blut Christi gereinigt sind. In dem mehrmals erwähnten „Mischvolk“, das mit ihnen zog, sind jedoch ungläubige Menschen zu sehen (2. Mo 12,38; 4. Mo 11,4; vgl. 3. Mo 24,10). Sie hatten sich Israel angeschlossen, ohne wirklich dazuzugehören. Zu denjenigen, „die in der Wüste niedergestreckt“ wurden, gehörten sowohl das Mischvolk als auch Israeliten. Die einen stellen ungläubige Bekenner dar, die nicht errettet sind und deshalb ewig verloren gehen. Eine solche Sichtweise finden wir auch in Hebräer 3,7 bis 4,11. Die übrigen dagegen repräsentieren Gläubige, die den Gedanken Gottes im Blick auf die volle Segnung Seiner Kinder nicht folgen. Sie kommen in ihrem Glaubensleben nie in den Genuss der geistlichen Segnungen in den himmlischen Örtern. Wie Israel verbringen sie ihr ganzes Leben in der Wüste, weil sie dem Wort Gottes nicht gehorchen. Ob sie es aus Unglauben oder Ungehorsam tun wie die zehn Kundschafter, oder aufgrund schlechten Einflusses und falscher Belehrung, wie wir es wohl vom größten Teil des Volkes annehmen dürfen, steht auf einem anderen Blatt. Die Weigerung, die ganze Belehrung des Wortes Gottes anzunehmen oder das Verlangen nach der Welt mit ihren Verlockungen hat ernste Konsequenzen für das praktische Glaubensleben auf der Erde – wenn auch nicht für die Ewigkeit, denn in dieser Hinsicht ist jeder Erlöste vollkommen sicher. Das ist die Belehrung von 1. Korinther 10,1–13. Auch Mose und Aaron gehörten zu den „in der Wüste Hingestreckten“. Sie waren Glaubensmänner und sind daher sicher keine Vorbilder von ungläubigen Menschen. Aber durch Gottes Fügung gelangten sie nicht an das von Gott gesteckte „geistliche“ Ziel, wenn Mose auch das ganze Land vom Gipfel des Pisga aus sehen durfte. Stehen nicht auch wir in Gefahr, hinter den Gedanken Gottes zurückzubleiben oder sogar nach der Welt und ihren Verlockungen zu verlangen? Wenn wir keine geistlichen Fortschritte machen, bleiben wir in unserem Wachstum stehen. Geistlicher Stillstand lässt jedoch unweigerlich unsere alte Natur, das sündige Fleisch in uns, erstarken. Dann gleichen wir den Christen in Korinth, von denen Paulus feststellen musste: „Und ich, Brüder, konnte nicht zu euch reden als zu Geistlichen, sondern als zu Fleischlichen, als zu Unmündigen in Christus. Ich habe euch Milch zu trinken gegeben, nicht Speise; denn ihr vermochtet es noch nicht, aber ihr vermögt es auch jetzt noch nicht, denn ihr seid noch fleischlich. Denn wenn Neid und Streit unter euch ist, seid ihr nicht fleischlich und wandelt nach Menschenweise?“ (1. Kor 3,1–3). Die „Weisheit Gottes in einem Geheimnis“, die für „vollkommene“, das heißt „erwachsene“ (griech. teleios) Christen bestimmt ist, konnte der Apostel ihnen deshalb nicht verkündigen. Er erwähnte sie zwar, konnte aber nicht tiefer darauf eingehen (1. Kor 2,6ff.).
Noch trauriger war es bei Demas, dem Mitarbeiter von Paulus, der „den jetzigen Zeitlauf lieb gewonnen“ und den Apostel verlassen hatte (siehe 2. Tim 4,10). Er glich darin den Israeliten, die nach Ägypten zurückkehren wollten.
Die Erwähnung der Tatsache, dass Gott den größten Teil des Volkes „in der Wüste niedergestreckt“ hat, enthält also auch eine Warnung für wiedergeborene Christen. Wenn wir kein Wohlgefallen an den Gedanken Gottes und an Seinem Willen haben, hat Er auch kein Wohlgefallen an unserem Lebenswandel!
Der Herr Jesus sagte einmal zu Seinen Nachfolgern: „Der Geist ist es, der lebendig macht; das Fleisch nützt nichts“ (Joh 6,63). Das führte dazu, dass „viele von seinen Jüngern zurückgingen und nicht mehr mit ihm wandelten“ (V. 66). Schon vorher hatten sie gesagt: „Diese Rede ist hart; wer kann sie hören?“ Diese Menschen weigerten sich einfach, die lebendigen Worte des Sohnes Gottes im Glauben anzunehmen. Doch als der Herr Seine Apostel fragte, ob sie etwa auch weggehen wollten, erwiderte Petrus: „Herr, zu wem sollen wir gehen? Du hast Worte ewigen Lebens; und wir haben geglaubt und erkannt, dass du der Heilige Gottes bist“ (V. 68 und 69). Aus seinen Worten spricht nicht nur Glaube und Vertrauen, sondern auch die Liebe zu Seinem Herrn. Das sind auch für uns die Voraussetzungen zu geistlichem Wachstum.
Wollen wir nicht diese Gesinnung von unserem Herrn erbitten? Wir erkennen sie bei Kaleb und Josua, den beiden einzigen glaubensstarken Kundschaftern. In ihnen war ein „anderer Geist“. Sie vertrauten im Glauben auf die Zusage Gottes, waren dem Herrn „völlig nachgefolgt“ und durften deshalb auch als Einzige das verheißene Land betreten und seinen Segen kennenlernen (4. Mo 14). Aber sie mussten mit dem gesamten Volk noch achtunddreißig Jahre durch die Halbinsel Sinai und das Ostjordanland wandern. Sie litten gewiss unter dem traurigen Zustand des Volkes, ohne irgendetwas daran ändern zu können. In ihren Herzen waren sie jedoch mit dem verheißenen Land beschäftigt (vgl. Jos 14,6–15).
Darin glichen sie dem Apostel Paulus, der von sich sagen konnte: „Vergessend, was dahinten, und mich ausstreckend nach dem, was vorn ist, jage ich, das Ziel anschauend, hin zu dem Kampfpreis der Berufung Gottes nach oben in Christus Jesus“ (Phil 3,13.14). Das ist geistliche „Vollkommenheit“! Zur Ermunterung der Gläubigen fügt Paulus hinzu: „So viele nun vollkommen [griech. teleios] sind, lasst uns so gesinnt sein; und wenn ihr etwas anders gesinnt seid, so wird euch Gott auch dies offenbaren. Doch wozu wir gelangt sind, lasst uns in denselben Fußstapfen wandeln“ (V. 15.16). Wenn wir diesen Ermahnungen Folge leisten, werden wir geistlich wachsen. Unser Gott und Vater wird uns durch Seinen Heiligen Geist, den wir empfangen haben, Verständnis und Stärkung im Glauben schenken. Aber es heißt dann auch, festzuhalten an dem, was wir im Glauben erfasst haben. Dann wird unser Leben von der Freude gekennzeichnet sein, die Paulus in seinem Brief an die Philipper so oft erwähnt.
Rufen wir uns noch einmal die an Mose gerichteten Worte Gottes in Erinnerung: „Gesehen habe ich das Elend meines Volkes, das in Ägypten ist, und sein Schreien wegen seiner Treiber habe ich gehört; denn ich kenne seine Schmerzen. Und ich bin herabgekommen, um es aus der Hand der Ägypter zu erretten und es aus diesem Land hinaufzuführen in ein gutes und geräumiges Land, in ein Land, das von Milch und Honig fließt“ (2. Mo 3,7.8; vgl. 2. Mo 15,1–21). Gottes Absicht war also, Sein Volk in ein gutes Land zu führen. Das hatte Er bereits Abraham, dem Stammvater des Volkes, verheißen: „Deiner Nachkommenschaft will ich dieses Land geben“ (1. Mo 12,7). Von einer langjährigen Wüstenreise ist nicht die Rede, nur von dem herrlichen Ziel. Zwar hätte das Volk in jedem Fall die Wüste zwischen Ägypten und Kanaan durchqueren müssen, aber dazu hätte es keine vierzig Jahre gebraucht. Den Grund für die lange Reise haben wir gesehen. Es war Unglaube und mangelnde Bereitschaft, dem Wort Gottes zu vertrauen. Die Wüstenreise von vierzig Jahren entsprach nicht dem Ratschluss Gottes, sondern war eine Folge des Unglaubens Israels und eine Erziehungsmaßnahme Gottes für Sein Volk, das Er doch so sehr liebte. Vierzig ist die Zahl der vollkommenen Erprobung und Bewährung des vor Gott verantwortlichen Menschen, wie wir aus verschiedenen Schriftstellen entnehmen können. Im Leben des Herrn Jesus finden wir dies bestätigt: Er wurde am Anfang Seines öffentlichen Dienstes vierzig Tage in der Wüste versucht und war zwischen Seiner Auferstehung und Seiner Himmelfahrt noch vierzig Tage auf der Erde (Mk 1,13; Apg 1,3).
Weil Gott „barmherzig und gnädig ist, langsam zum Zorn und groß an Güte und Wahrheit“ (2. Mo 34,6), benutzte Er auch diese vierzig Jahre zum Segen Seines Volkes. Er ernährte es mit dem „Brot vom Himmel“, das nach Johannes 6 ein Bild des aus dem Himmel gekommenen Sohnes Gottes ist. Er gab ihnen Wasser, das vom ewigen Leben in der Kraft des Heiligen Geistes spricht, aus dem Felsen, der ebenfalls ein Bild von Christus ist (1. Kor 10,4). Er trug Sorge, dass trotz aller Strapazen ihre Füße nicht anschwollen und ihre Kleidung nicht zerfiel (5. Mo 8,4). Aber Er prüfte die Kinder Israel auch, um zu erkennen, was in ihren Herzen war, und um sie zu demütigen, damit sie ihre Abhängigkeit von Ihm erkannten.
Schließlich wollte Er ihnen an ihrem Ende, im Land Kanaan, Gutes tun (5. Mo 8,2.16). Sein Ratschluss wurde durch ihr Versagen nicht beeinflusst. Welche Gnade! Am Ende der Wüstenreise wird in den prophetischen Aussprüchen Bileams das Volk trotz all seines Versagens in wunderbarer, göttlicher Vollkommenheit gesehen (4. Mo 23 und 24).
Praktische Lektionen für uns
Verhalten wir uns als Erlöste besser als die Israeliten in der Wüste? Sind wir nicht auch manchmal unzufrieden mit den Führungen Gottes, obwohl wir wissen, dass „denen, die Gott lieben, alle Dinge zum Guten mitwirken, denen, die nach Vorsatz berufen sind“ (Röm 8,28)? Unsere vollkommene Stellung „in Christus“ wird durch unser Versagen zwar nicht beeinträchtigt, aber wir verlieren dadurch viel Segen. Lasst uns deshalb von dem gleichen Geist erfüllt sein wie Josua und Kaleb und mit dem Apostel Paulus suchen, „was droben ist, wo der Christus ist, sitzend zur Rechten Gottes“ (Kol 3,1)!
Während unserer „Wüstenwanderung“ auf dieser Erde werden auch wir von Gott geprüft. Dabei wird jedoch nicht unser sündiges Fleisch erprobt, denn dessen vollständige Verdorbenheit ist seit dem Kreuz offenbar. Was von Ihm geprüft wird, ist unser Herzenszustand. Wie derHerr in der Wüste offenbar machte, was in den Herzen der Israeliten war, sollen auch wir uns immer der Tatsache bewusst sein, dass „Gott unsere Herzen prüft“ (5. Mo 8,2; 1. Thes 2,4).
Wenn wir im Glauben verstanden haben, was es bedeutet, mit Christus gestorben zu sein, haben wir grundsätzlich die Wertlosigkeit und Bosheit des alten Menschen und unseres Fleisches anerkannt. Aber in der Praxis fehlt es bei uns doch häufig an der Verwirklichung der Erkenntnis, „dass in mir, das ist in meinem Fleisch, nichts Gutes wohnt“ (Röm 7,18). Auch wenn wir weder „im Fleisch“ sind noch uns in dem in Römer 7 beschriebenen Zustand einer nicht befreiten Seele befinden, machen wir im täglichen Leben leider zu oft die Erfahrung, „auf das zu sinnen, was des Fleisches ist“ (Röm 8,5). Wir können jedoch unter der Leitung und in der Kraft des Heiligen Geistes die Regungen des Fleisches überwinden. Dazu müssen wir uns einerseits vor Augen halten, dass unser Herr in unaussprechlicher Liebe, aber auch unter unsäglichen Leiden am Kreuz das Gericht Gottes über den alten Menschen und die Sünde im Fleisch getragen hat. Andererseits müssen wir unsere Stellung „in Christus“ verwirklichen, indem wir mit Ihm in der Herrlichkeit droben beschäftigt sind.
Es geht also um unsere geistliche „Identität“. Wie sehen wir uns selbst? „Identifizieren“ wir uns im Glauben von ganzem Herzen mit Christus, unserem Herrn, oder nur halbherzig oder gar nicht? Wenn wir die totale Verdorbenheit und Sündhaftigkeit unserer menschlichen Natur, aber auch die Bedeutung Seiner Leiden und Seines Todes wegen unserer Sünde verstanden haben, dann wollen wir nichts mehr mit unserer früheren Stellung als Sünder und mit der Welt zu tun haben, sondern auf der Seite unseres Erlösers stehen, dessen Leben wir durch Gnade empfangen haben.
Dann ist die uns umgebende Welt für uns in geistlicher Hinsicht eine Wüste. Wir können uns in ihr nicht heimisch fühlen und finden hier auch keine Nahrung außer dem, was Gott uns schenkt. Wir sind Wanderer auf dem Weg zu einem himmlischen Ziel. Aber auch wir können unserem Gott „in der Wüste dienen“ (2. Mo 7,16). Was für Israel in der Darbringung von Opfergaben bestand, ist für uns die Anbetung in Geist und Wahrheit. Unser Dienst umfasst jedoch auch die Verbreitung des Evangeliums. Dazu hatte Israel keinen Auftrag. In der gegenwärtigen Zeit der Gnade will Gott uns dazu benutzen, Verlorene zu Jesus, dem einzigen Erretter, zu führen. Sind wir uns dessen immer bewusst, dass Er in dieser Hinsicht langmütig ist, „da er nicht will, dass irgendwelche verloren gehen, sondern dass alle zur Buße kommen“ (2. Pet 3,9.15)?
Auch unsere Beziehungen in Ehe und Familie oder unsere tägliche Arbeit stellen Bereiche dar, die es nur hier auf der Erde gibt. Hier haben wir die wichtige, nicht immer einfache Aufgabe, als Kinder Gottes zu Seiner Ehre und zum Segen unserer Umgebung zu leben und zu handeln. Diesen Beziehungen und Verpflichtungen dürfen wir uns nicht entziehen und womöglich als Entschuldigung vorbringen: „Die geistlichen Dinge sind mir wichtiger!“ Sogar diejenigen, die der Herr ganz in Seinen Dienst beruft, sind nie völlig frei von irdischen Verpflichtungen. Der Apostel Paulus war zwar unverheiratet, aber wie oft erwähnt er, dass er für seinen Lebensunterhalt arbeitete!
Unsere irdischen Aufgaben als Christen erfüllen wir nicht aus reinem Pflichtbewusstsein heraus oder gar in einer gesetzlichen Weise. Nein, wir erfüllen sie in der Kraft des Heiligen Geistes und, wie Paulus die Philipper mehrfach ermuntert, in der Freude am Herrn, aus Liebe zu Ihm und den Seinen, aber auch zu denen, die noch draußen sind. Die Freude am Herrn gibt uns nicht nur Kraft (Neh 8,10), sondern auch innere Ruhe und geistliche Ausgeglichenheit. Das werden die Menschen in unserer Umgebung bemerken. „Freut euch in dem Herrn allezeit! Wiederum will ich sagen: Freut euch! Lasst eure Milde kundwerden allen Menschen; der Herr ist nahe. Seid um nichts besorgt, sondern in allem lasst durch Gebet und Flehen mit Danksagung eure Anliegen vor Gott kundwerden; und der Friede Gottes, der allen Verstand übersteigt, wird eure Herzen und euren Sinn bewahren in Christus Jesus“ (Phil 4,4–7).
Auch in der größten Trübsal besitzen wir eine Hoffnung, die nicht beschämt, weil die Liebe Gottes durch den Heiligen Geist in unsere Herzen ausgegossen ist (Röm 5,3–5). Von dieser Liebe Gottes, die in Christus Jesus ist, vermag uns nichts zu trennen (Röm 8,39).
Drei Bereiche
Manche Christen denken, die vierzigjährige Wüstenwanderung Israels sei das Bild des christlichen Lebens schlechthin und die Überquerung des Jordan in das Land Kanaan mit seinen Segnungen sei ein Bild des Todes und des Eingehens der Seele in den Himmel. Diese Ansicht geht jedoch am Sinn der Bilder, die wir betrachten, vorbei. Wir befinden uns ja während unseres ganzen Lebens seit unserer Errettung nicht nur geistlich in der „Wüste“, sondern körperlich auch noch in „Ägypten“ und stellungsmäßig schon in den himmlischen Örtern. Der leibliche Tod der Gläubigen hat in diesen Vorbildern gar keinen Platz. Außerdem ist die Hoffnung der Christen nicht der Tod als Tor zum Paradies, sondern das Kommen des Herrn zur Entrückung, die hier – genau wie der leibliche Tod – ebenfalls keine Entsprechung findet. Im Paradies und in der ewigen Ruhe und Glückseligkeit des Vaterhauses wird es keinen Kampf mehr geben.
Für Israel begannen jedoch die Kriege eigentlich erst nach dem Einzug in das Land Kanaan.7 Hier befanden sich götzendienerische Nationen, die das Volk Gottes vertreiben sollte. Wie wir noch sehen werden, ist Kanaan nicht ein Bild des Paradieses oder unserer zukünftigen, ewigen, himmlischen Wohnungen, sondern der „himmlischen Örter“ mit den gegenwärtigen geistlichen Segnungen, wie wir sie im Brief an die Epheser finden.
Einerseits befinden wir uns nach unserer Errettung aus „Ägypten“, dem Bild der Welt mit ihren Verlockungen für das Fleisch, körperlich immer noch dort. Wenn wir auch geistlich keinerlei Verbindung zur Welt haben können, sagt Gottes Wort uns doch, dass wir nicht aus ihr herausgehen können (1. Kor 5,10). Zugleich sind wir, solange wir auf der Erde leben, in geistlicher Hinsicht in der „Wüste“. Für das neue, göttliche Leben in uns bietet die Welt keine Nahrung und noch weniger eine Heimat. Wir sind hier Fremdlinge und Wanderer auf dem Weg zur himmlischen Heimat (Heb 11,9.13–16; 1. Pet 1,1; 2,11). Deshalb schauen wir nach oben und laufen, „das Ziel anschauend, hin zu dem Kampfpreis der Berufung Gottes nach oben in Christus Jesus“ (Phil 3,14). Ein dritter Bereich war für Israel das Land Kanaan, für uns sind darunter die himmlischen Örter (Eph 2,6) zu verstehen. Auch damit werden wir uns noch beschäftigen.
Zwischen dem alttestamentlichen Vorbild und der neutestamentlichen Wirklichkeit besteht also ein bedeutsamer Unterschied. Die Kinder Israel verließen am Schilfmeer das Land Ägypten und am Jordan die Wüste für immer. Während sie nacheinander in Ägypten, in der Wüste und in Kanaan waren, befinden wir uns – von verschiedenen Gesichtspunkten aus betrachtet – in allen drei Bereichen gleichzeitig.
Wie wir gesehen haben, tragen wir das Fleisch mit uns, solange wir auf der Erde leben, das heißt bis zum Kommen des Herrn, oder – wenn Er noch nicht kommt – bis zu unserem Heimgang. Wir mögen zwar die völlige Unfähigkeit unseres alten Menschen, Gott zu gefallen, erkannt haben, aber ob wir im Blick auf unser Fleisch dasselbe Urteil haben, ist eine ganz andere Frage. Das Neue Testament lässt uns nicht im Zweifel über den wahren Charakter unseres Fleisches. Der Herr Jesus sagte einmal: „Der Geist ist es, der lebendig macht; das Fleisch nützt nichts“ (Joh 6,63). Von Paulus stammen die bekannten und doch so wenig verstandenen und verwirklichten Worte: „Ich weiß, dass in mir, das ist in meinem Fleisch, nichts Gutes wohnt“, und: „Die Gesinnung des Fleisches ist Feindschaft gegen Gott“ (Röm 7,18; 8,7). Das in diesen Zitaten ausgesprochene Urteil gilt nicht nur für Menschen, die fern von Gott sind, sondern auch für das Fleisch in jedem Gläubigen. Das Fleisch ist unverbesserlich böse.
Dies zu erkennen ist für die meisten von uns eine der schwierigsten Lektionen des Glaubenslebens. Das Volk Israel lernte sie erst am Ende seiner Wüstenreise, und zwar durch das Vorbild der ehernen Schlange.
Fußnoten
- 1 Eine Ausnahme bildet das Sabbatgebot. Das im Pentateuch so oft wiederholte Gebot, den Sabbat zu halten (2. Mo 16,23; 20,8-11; 23,12; 31,13-17; 34,21; 35,2f.; 3. Mo 19,3.30; 23,3; 26,2; 5. Mo 5,12-15), hatte zwar den Zweck, den Israeliten einen wöchentlichen Ruhetag zu schenken, aber keine ethisch-moralische Bedeutung wie die übrigen der „Zehn Gebote“. Konnte man sich nicht auch an jedem anderen Tag ausruhen? Es forderte daher in erster Linie etwas, was dem Menschen sehr schwer fällt: bedingungslosen Gehorsam gegenüber Gott.
- 2 Im Unterschied zum christlichen Glauben an den Herrn Jesus als Erlöser ist unter „Religion“ ein Kult mit bestimmten Geboten zu verstehen, durch deren sorgfältige Beachtung der Mensch in Beziehung zu Gott und zur ewigen Seligkeit kommen soll.
- 3 Die vier „Gebote“ in Apg 15,20.29 (Verbot des Götzendienstes, der Hurerei, des Essens von Blut und Ersticktem) sind keine speziell christlichen Gebote, sondern gelten allen Menschen. Sie gehen auf die Schöpfungsordnung und auf die Gebote Gottes an Noah zurück (1. Mo 9,1ff.). Durch ihre Beachtung wird die Autorität und Heiligkeit Gottes anerkannt.
- 4 „Tempel“ ist eine der wenigen Bezeichnungen, die sowohl auf das alttestamentliche Vorbild als auch auf die entsprechende neutestamentliche Wirklichkeit angewandt werden. Ebenso ist es mit dem Wort „Opfer“, das nicht nur für die Opfer im Alten Testament, sondern auch für das Werk des Herrn Jesus und für unsere Anbetung gebraucht wird.
- 5 Drei ist die Zahl des dreieinen Gottes, „sieben“ die Zahl der Vollkommenheit.
- 6 Insgesamt 14 (= 2 x 7) Mal kommt dieser Ausdruck vor (1. Kön 8,44.48; 11,13.32.36; 14,21; 2. Kön 21,7; 23,27; 2. Chr 6,5.6.34.38; 12,13; 33,7).
- 7 In den 40 Jahren der Wüstenreise hatte Israel nur am Anfang einmal gegen Amalek zu kämpfen. Die Niederschlagung der Amoriter sowie der Völker von Basan und Midian am Ende der 40 Jahre waren eigentlich bereits eine Art Vorbereitung auf die Eroberung des Landes (2. Mo 17; 4. Mo 21; 31).