Das Evangelium nach Johannes

Kapitel 6

Das Evangelium nach Johannes

Dieses Kapitel bringt uns nach Galiläa zurück, und wir lesen von einem weiteren der großen „Zeichen“, die Jesus tat. Das Wunder von der Speisung der Fünftausend hat offenbar eine besondere Bedeutung, da es in jedem der vier Evangelien berichtet wird. Unser Kapitel schließt eine Belehrung an, die sich auf das vorausgehende Wunder zurückbezieht und darauf gegründet ist, so daß sich seine Bedeutung erhellt. In seiner Beschreibung wird die Vollmacht des Herrn im Helfen und Vorherwissen hervorgehoben.

Jesus selbst wandte sich zuerst an Philippus. Dieser war der Jünger, der den Schriften Moses glaubte (1,45). Die Frage des Herrn testete ihn, aber über die Kaufkraft des Geldes konnte er nicht hinausgehen. Jesus nun „wußte, was er tun wollte“. Andere Diener Gottes, die in solchen Notlagen nicht wußten, was zu tun sei, haben im Aufblick zu Gott Weisung erbeten und erlangt; solche Erfahrungen gehören zum Besten, was von ihnen überliefert wurde. Doch hier ist einer, der wußte, was Er tun wollte, und Er wußte, daß Er die Kraft hatte, es zu tun. Noch bevor Andreas von dem kleinen Knaben mit den Broten und Fischen sprach, wußte der Herr auch darum. Das alles zu wissen und solche Vollmacht zu gebrauchen, das, was Er tun will, mit absoluter Sicherheit zu planen und auszuführen, darin zeigt sich das Vorrecht der Gottheit. Ähnliche Aussagen finden wir mehrmals in diesem Evangelium: siehe 2,24.25; 13,3; 18,4.

Bei solchem Wissen und solcher Vollmacht verachtete Er indessen nicht den geringsten Vorrat in den Händen des Knaben und übersah ebensowenig die Jünger in ihrem schwachen Verständnis und Glauben. Ihnen fiel es zu, nach Seiner Freigebigkeit auszuteilen. Die paar Lebensmittel, an die Er anknüpfte, waren in des Knaben Hand, die verteilenden Hände waren die der Jünger, aber Sein waren Vollmacht und Gnade, Sein allein. Alles war so offenbar vor den Augen der Menschen, die die Mahlzeit genossen und diese Sättigung als eine Segnung des Himmels empfanden. Sie erklärten, Jesus müsse der Prophet sein, der in die Welt kommen soll, wie Mose gesagt habe. Bei einer ganzen Anzahl von Gelegenheiten war die Volksmenge zu einer solchen Schlußfolgerung genötigt: siehe 4,19; 7,40; 9,17 – sie sollte weiterführen und ein erster Schritt auf dem Weg zu noch tieferen Erkenntnissen sein. In Kapitel 4 brach die Überzeugung auf, daß Er der Christus war; in Kapitel 9 wird die Einsicht erreicht, daß Er der Sohn Gottes war.

Bei diesen Menschen erlangten allerdings die Brote und Fische viel zuviel Bedeutung; sie wünschten eine so leichte Versorgung mit Nahrungsmitteln fortzusetzen. Nun, wir haben Ihn gerade sagen hören: „Ich aber nehme nicht Zeugnis von einem Menschen“, und wiederum: „Ich nehme nicht Ehre von Menschen.“ Deshalb überrascht es uns nicht, wenn wir finden, daß Er kein Königtum aus den Händen der Menschen annimmt. Vor Ihm würde alle Pracht einer von Menschen errichteten Königsherrschaft nichts als Flitterwerk sein. So entwich Er in die Einsamkeit auf dem Berg, während Seine Jünger über den See fuhren. Matthäus 14,22 berichtet uns, daß Er Seine Jünger nötigte, in das Schiff zu steigen, während Er selbst die Volksmenge entließ. Aus dem, was Johannes erwähnt, erklärt sich Seine Handlungsweise. Sie, die Jünger, würden sich leicht und begeistert mit der Absicht des Volkes einsgemacht haben, deshalb entfernt Er sie besorgt von der Stätte der Versuchung.

Aber obwohl Er kein irdisches Königtum durch Volksabstimmung haben wollte, zeigte Er sich völlig als Meister in anderen Bereichen; doch nur Seine Jünger sollten Ihn so kennenlernen. Wind und Meer können eine Kraft entfalten, daß Menschen wie ein Spielzeug ihrer Gewalt preisgegeben sind, doch Er steht als Herr darüber. Die Jünger in ihren Tagen und wir in den unseren brauchen es, Ihn in diesem Licht zu erfassen. Ein irdisches Königtum mit Fülle von Brot erscheint dem Fleischessinn vorteilhaft. Geistlicher Sinn jedoch bildet sich, wenn Er als der Herr erkannt wird, der Wind und Wellen und den Kräften, die dahinter stehen, gebietet. Indem Er sich selbst so den Jüngern offenbart, schwinden ihre Ängste, und alsbald sind sie am Land, wohin sie fuhren, nachdem sie Ihn bereitwillig in ihr Schiff aufgenommen hatten. Bedenken wir dieses Ereignis sehr sorgfältig, denn wir haben es wohl nötig, Ihn in dieser Weise zu erkennen. Er befaßt sich auch heute nicht mit einem irdischen Königtum, aber Er erweist sich als über allen feindlichen Mächten stehend, während Er Seine Heiligen mitten hindurchführt.

Daß der Herr in wunderbarer Weise über den See wandelte, blieb der Volksmenge verborgen; doch mochten sie ahnen, daß Ungewöhnliches geschehen war. So suchten sie Ihn auf der anderen Seite; es trieb sie Neugierde, um zu erfahren, wie Er hinübergekommen war. An solcher Aufklärung war dem Herrn nicht gelegen, statt dessen zeigt Er sogleich, wie sehr Er die verborgenen Gedanken ihrer Herzen kennt. Wunder zu erleben genügte nicht, wie schon Kapitel 2,23–25 dartat; aber darauf war ihr Sinn gerichtet wegen der Brote, die sie gegessen hatten, und es war doch Speise, die verging: Er, der Sohn des Menschen, den der Vater versiegelt hatte, Er war der Geber jener Speise, die da bleibt ins ewige Leben.

Er antwortet diesen Menschen in einer Art, die dem Gespräch mit der samaritischen Frau in Kapitel 4 sehr ähnlich ist. Da ging es um Wasser, hier um Brot; in beiden Fällen benutzt Er bekannte materielle Substanzen als Symbole bedeutsamer geistlicher Wirklichkeit, indem Er die Zuhörer damit unmittelbar konfrontierte, obwohl sich kein Hinweis ergibt, daß diese Menschen, gleich jener Frau, auch Segen empfingen. Das „lebendige Wasser“ war der Geist, den Er geben würde. Das „lebendige Brot“ war Christus selbst, als vom Himmel herniedergekommen, die Speise des ewigen Lebens für den Menschen. Diese Speise kann nur als eine Gabe empfangen werden, an der alle drei Personen der Gottheit beteiligt sind: Sie kommt von dem Sohn des Menschen, den der Vater versiegelt hat, und diese Versiegelung geschah, wie wir wissen, durch den Heiligen Geist.

Die Frau aus Sichar verstand die Bedeutung der Worte des Herrn zuerst auch nicht besser als diese Menschen, aber ihre Antwort war: „Herr, gib mir...“ Dagegen finden wir hier eine ganz andere Antwort: „Was sollen wir tun, auf daß wir... wirken?“ Der Unterschied ist kennzeichnend. Der Herr begegnet ihnen sofort mit der Feststellung, daß der Glaube an den Gesandten Gottes erst einmal am Beginn von Werken stehen müsse, wie sie Gott entsprechen. Wenn sie nicht an den glauben, den Gott gesandt hat, so glauben sie im eigentlichen Sinn auch nicht an Gott; sie bleiben geistlicherweise im Tod, weil nur in Ihm das Leben angeboten wird. Ach, sie glaubten nicht, wie Vers 30 zeigt, statt dessen aber forderten sie ein Zeichen, wohl in der Annahme, daß, wenn es eindrucksvoll genug wäre, es den Glauben in ihren Herzen hervorrufen würde. In der Vermutung, daß der Herr auf das Zeichen der Vermehrung der Brote und Fische zurückkommen könnte – sie hatten es gerade selbst erlebt – versuchen sie es abzuschwächen, indem sie an das Wunder des Manna erinnern, das durch Moses Vermittlung ihren Vätern in der Wüste zuteil geworden war, und zwar über einen Zeitraum von vierzig Jahren.

Daraufhin gibt der Herr ihnen in Vers 32 eine schwerwiegende Aussage. Es war nicht Mose, sondern Gott, der ihnen das Brot aus dem Himmel gab, und jenes war nur ein Bild des wahrhaftigen Brotes. Das wahrhaftige Brot aus dem Himmel ist Gottes Gabe, und jetzt offenbarte Er sich als Vater durch den, der diese Gabe war. Er selbst war aus dem Himmel herniedergekommen, um der Welt das Leben zu geben. Natürlicherweise kann Brot Leben nur erhalten, es jedoch in keiner Weise geben. Aber das Geistliche geht immer über das Natürliche hinaus. Das Bild im Materiellen dient dazu, unsere Gedanken auf die göttliche Wirklichkeit zu lenken, aber ihre Fülle kann es nicht umfassen. Jesus war hier beides, Geber und Erhalter des Lebens, und zwar im Blick auf die ganze Welt und nicht nur für die kleine jüdische Nation, in deren Mitte Er wirkte. Schon früher sind wir in der Betrachtung hierauf aufmerksam geworden: Als das fleischgewordene Wort konnte Er in Seinem Licht und Seiner Kraft nicht auf ein Volk beschränkt werden, sondern war Gottes Heil „bis an das Ende der Erde“.

Die Erwiderung der Juden (V. 34) scheint ermutigend, doch Glaube spricht nicht daraus, wie Vers 36 erkennen läßt. Immerhin bedeutet sie eine Zuwendung zu dem Herrn, der sich nun in sehr bestimmter und offener Weise als das Brot des Leben darstellt; in aufrichtigem Glauben zu Ihm kommen würde jeden Wunsch stillen. Schon Kapitel 4 zeigte, wie Er durch die Gabe des Heiligen Geistes das Herz zur völligen Befriedigung bringt. Ihn im Glauben annehmen führt hier zu demselben gesegneten Ergebnis. In der Erkenntnis Seiner selbst ist uns die ganze Fülle der Gottheit geoffenbart, und wir können sie uns aneignen. Und das bedeutet: nimmermehr dürsten! Noch gab es keine Anzeichen, daß diese Menschen zu Ihm kamen, dennoch wirkte der Vater nach Seinen Ratschlüssen in Gnade, und Er würde in den Herzen einen Widerhall hervorrufen.

In diesen Rahmen stellt Er das große und so ermutigende Evangeliumswort: „Wer zu mir kommt, den werde ich nicht hinausstoßen.“ In Kapitel 1 sahen wir, daß, obwohl „niemand sein Zeugnis annahm“, dennoch einige es annahmen. Jetzt entdecken wir zum erstenmal, was hinter diesem scheinbaren Widerspruch steht. Es ist die souveräne Gnade des Vaters, die dem Sohn etliche gegeben hat, und diese kommen auch ausnahmslos zu Ihm. Sie mögen denken, es seien die mannigfaltigsten Umstände, die sie zu Ihm treiben, und die sind ja auch in jedem Einzelfall wieder verschieden voneinander. Doch diesen gnadenvollen Führungen liegt als letzte Erklärung zugrunde: sie sind die Gabe des Vaters an den Sohn – eine Gabe der Liebe, wie wir sagen könnten.

Alle, die der Vater Ihm gegeben hat, kommen; und keiner von denen, die kommen, wird von dem Sohn hinausgeworfen; und das nicht nur aufgrund Seiner eigenen Gnade und persönlichen Liebe zu ihnen, sondern weil sie die Gabe des Vaters sind. Deshalb kam Er vom Himmel, um des Vaters Willen zu tun und dadurch des Vaters Herz zu offenbaren. Der Vater gibt, sie kommen zu dem Sohn, Er ist ihnen Geber und Speise des Lebens, Er macht ihnen den Vater kund, und so erlangen sie völlige Befriedigung. Es stimmt nahtlos überein, und anders kann es nicht sein: Wie der Vater gibt, so nimmt der Sohn auf! Indem uns Zusammenhang und Bedeutung der Stelle einsichtig werden, geht uns zugleich auf, wie der Evangelist in rechter und beglückender Weise eine ängstliche Seele, die sich Christus zuwendet, um zu Ihm zu kommen, auf diese goldenen Worte hinlenkt: „Wer zu mir kommt, den werde ich nicht hinausstoßen.“

Und wiederum ist es des Vaters Wille, daß der Sohn in Seiner lebenspendenden Kraft nicht nur jeden aufnimmt, der jetzt zu Ihm kommt, sondern daß sie auch alle in der Auferstehung „am letzten Tage“ vollendet werden sollen. Die Juden hatten das Licht des Alten Testaments und erwarteten die Zeit der Ankunft und Herrlichkeit des Messias als den letzten Tag. Die Worte des Herrn bestätigen diesen Gedanken und zeigen, daß, obwohl wir schon jetzt das Leben in einer vom Tode gezeichneten Welt haben, wir doch seine Fülle erst in einem kommenden Zeitalter kennenlernen werden. Wie erquickend ist die Verbindung zwischen den Versen 37 und 39 – keiner wird in dieser Zeit hinausgestoßen, und nichts wird verloren sein, während wir dem Tag der Herrlichkeit entgegengehen; und hinter beidem steht der Wille des Vaters.

Vers 40 behandelt die gleiche Wahrheit wie Vers 39 und führt sie weiter aus. Dieselben Personen sind gemeint; zuerst werden sie beschrieben als „alles, was er mir gegeben hat“, und jetzt „jeder, der den Sohn sieht und an ihn glaubt“. Die erste Umschreibung bringt den göttlichen Vorsatz zur Geltung; bei der zweiten ist der Glaube tätig, wie er unserer Verantwortung in diesem Leben entspricht. „Den Sohn sehen“ bedeutet, wie wir annehmen, hier dasselbe wie „an Ihn glauben“. Viele unter denen, die Jesus auf der Erde wandeln sahen, „sahen den Sohn“ dennoch nicht im wahren Sinn. Doch wo Augen geistlicherweise wirklich geöffnet waren, da wurde der Sohn gesehen und an Ihn geglaubt, ewiges Leben wurde in dieser Zeit erlangt, und am letzten Tage werden sie in das volle Leben in der Welt der Auferstehung eingehen.

Die Juden ließen sofort erkennen, daß sie keinen Glauben hatten. Sie sahen nur den Menschen Jesus und meinten auch, Seine Eltern zu kennen; daß Er der Sohn war, dem Fleische nach aus dem Samen Davids gekommen (siehe Röm 1,3), nahmen sie durchaus nicht wahr. Dadurch zeigten sie deutlich an, daß sie weder Teil noch Los an dieser Sache hatten. Es war ihnen befremdlich, daß der Vater ziehen sollte, und doch kann in dieser Zeit keiner zu Christus kommen, ohne daß der Vater ihn ziehe.

Die Verse 39.40 und 44 münden jeder in die Auferstehung ein. Sie stellen die Gabe des Vaters an den Sohn dar, wie sie Seinem Vorsatz entspricht, ferner Sein Ziehen, um die Gabe wirksam werden zu lassen, und weiter den daraus hervorgehenden Glauben unsererseits, der zum gegenwärtigen Besitz des ewigen Lebens führt, schließlich die völlige Gewißheit im Blick auf seine Fülle in der Auferstehung. Der Herr fand in Jesaja 54,13 eine Vorhersage dieses Werkes des Vaters in der Seele; und Ihm ist wohl bewußt, was Er in den Kindern Israel bewirken wird. Sie werden erlöst und wiederhergestellt werden, wenn das kommende Zeitalter anbricht; schon damals wirkte Er, und Er tut es auch heute noch. Kein Mensch hat Gott jemals mit natürlichen Augen gesehen; nur die „aus Gott“ sind, sehen Ihn, und zwar durch Glauben.

Die Verse 40 und 46 sind verknüpft durch die beiden Ausdrücke „sieht den Sohn“ und „sieht den Vater“. Zu beidem ist Glaube nötig, und man kann den Vater nur sehen, wenn man den Sohn sieht. Laßt uns deshalb achthaben auf Lehren, die die Sohnschaft Jesu verfälschen. Die göttliche und ewige Vaterschaft kann nicht festgehalten werden, wenn die göttliche und ewige Sohnschaft preisgegeben wird.

Das Murren der Juden veranlaßte eine weitere jener grundlegenden Aussagen von ganz besonderem Gewicht, wie sie in diesem Evangelium häufig sind. Jesus ist das Brot des Lebens. Diese erhabene Tatsache steht ohne Vorbehalt und ohne Einschränkung fest. Das Manna in der Wüste war von den Juden zur Sprache gebracht worden; der Herr kommt jetzt darauf zurück und stellt einen scharfen Gegensatz zu sich selbst her. Ihre Väter waren gestorben, obwohl sie von dem Manna gegessen hatten. Er war das Brot, das aus dem Himmel herniederkommt, auf daß man davon esse und nicht sterbe. Ihre Väter waren gestorben, geistlich wie physisch; denn sie hatten keinen Glauben (Heb 3,19), obwohl sie von dem Manna aßen. Der Mensch aber, der von dem Brot ißt, das aus dem Himmel herniederkommt, wird geistlicherweise nicht sterben, was ihm auch immer dem Leibe nach zustoßen mag.

In den Versen 50 – 58 spricht der Herr nicht weniger als siebenmal vom Essen Seiner selbst oder dem Essen Seines Fleisches als dem lebendigen Brot und dreimal vom Trinken Seines Blutes. Seine Sprache ist bildhaft, klar und schlicht. Was wir essen und trinken, wird uns vollständig und gründlich einverleibt. Es wird ein Bestandteil von uns selbst, der Vorgang kann nicht mehr umgekehrt werden. Es ist folglich ein äußerst treffendes Bild des Glaubens, denn genau dasselbe bewirkt der Glaube auf eine geistliche Weise. Durch die Fleischwerdung weilte der Sohn des Vaters unter den Menschen als in Wahrheit aus dem Himmel herniedergekommen; dadurch stand alles, was in Ihm geoffenbart wurde, zur Verfügung des Menschen, doch nur in dem Sinn, daß wir es uns wirklich durch Glauben aneignen. Deshalb müssen die Menschen von diesem Brot essen, und indem sie davon essen, leben sie für immer.

Der letztere Teil von Vers 51 führt einen neuen Gedanken ein. Dieses „Brot“ ist Sein Fleisch, das nicht nur für die jüdische Nation, sondern für „das Leben der Welt“ gegeben wird. Hier zeigt uns der Herr, daß Er Fleisch wurde, um zu sterben. In ihrer Blindheit stritten die Juden nun untereinander, was dem Herrn Gelegenheit gab, sich mit großem Ernst noch deutlicher zu erklären. Ohne den Tod des Sohnes des Menschen, durch Glauben innerlich zu eigen gemacht, hat niemand geistliches Leben in sich selbst. Der Sohn ist als Sohn des Menschen im Fleisch gekommen und gestorben, nunmehr hängt das Leben ab von dem Glauben an Ihn. Bevor Er kam, gab es viele, die an Gott glaubten entsprechend den Zeugnissen, die Er gegeben hatte, und sie lebten vor Ihm. Aber jetzt, wo der Sohn gekommen ist, ist Er das Zeugnis, und alles hängt von Ihm ab.

Die Zeitform des Verbs „essen“ in Vers 51 und 53 ist der Beachtung wert. Wörtlich übersetzt heißt es hier: „Wenn jemand gegessen haben wird“ beziehungsweise „wenn ihr nicht gegessen haben werdet“. Das bedeutet einen Akt der Aneignung, der ein für allemal geschehen ist. Dieser Vorgang wird zu einem unerläßlichen Ausgangspunkt, wenn ein Mensch vor Gott leben soll. Es gibt kein Leben ohne die gläubige Aneignung des Todes Christi. Das spricht indessen nicht gegen ein beständiges gewohnheitsmäßiges „Essen“, wie es in den Versen 54.56.57.58 viermal erwähnt wird. Empfangenes Leben muß genährt und unterhalten werden; wer gegessen hat, ißt folglich immer wieder; mit anderen Worten: Wer das Leben durch die am Anfang stehende Aneignung im Glauben ergreift, setzt dieses Leben nach demselben Prinzip fort – „Der Gerechte wird aus Glauben leben“. Er hat geglaubt, und er fährt fort zu glauben.

Wer somit beständig ißt, hat ewiges Leben, und in Vers 54 wird dann zum viertenmal die Auferstehung erwähnt. Der Grund für diese vierfache Erwähnung ist zweifellos die Tatsache, daß das ewige Leben in seinem vollendeten Ausdruck und Genuß erst in der Auferstehung am letzten Tag erreicht wird. Im Alten Testament kommt es nur zweimal vor: „Leben in Ewigkeit“ (Ps 133,3) und „ewiges Leben“ (Dan 12,2); in beiden Fällen wird der Tag des Messias als „die letzte Zeit“ vorausgesagt. In Daniel 12 geht es um eine nationale Erweckung Israels, indem sie aus „dem Staub der Erde“, das ist den Nationen, wiedererstehen; doch in unserem Kapitel handelt es sich um Einzelpersonen, deren Auferstehung nicht bildlich, sondern leibhaftig gemeint ist. Wenn Paulus vom ewigen Leben spricht, hat er gewöhnlich seine zukünftige Fülle in der Auferstehung vor Augen, z.B. „als das Ende aber ewiges Leben“ (Röm 6,22). Bei Johannes hat es im allgemeinen den Sinn einer gegenwärtigen Wirklichkeit, obwohl – die Worte des Herrn hier zeigen es – seine Vollendung in einem kommenden Zeitalter nicht aus unseren Gedanken ausgeschlossen wird.

Wer so ißt und trinkt, hat nicht nur das Leben, er „wohnt“ oder „bleibt“ auch in Christus, und Christus in ihm. Überdies zeigt Vers 57, daß er in dieselbe Beziehung zu Christus gesetzt ist, in der Christus zum Vater stand. Als der Gesandte des Vaters und in dem Auftrag, Ihn zu offenbaren, lebte der Herr Sein ganzes Leben des Vaters wegen, indem Er alles von dem Vater empfing. Und geradeso mit Bezug auf Christus wird derjenige leben, der sich durch Glauben gewohnheitsmäßig Ihn aneignet. In dieser Weise lebend, bleibt er in Christus und Christus in ihm.

Diese bemerkenswerte Unterweisung des Herrn hatte eine prüfende und sichtende Wirkung auf Seine Jünger; viele unter ihnen waren betroffen. Seine Rede erschien ihnen „hart“; doch worin bestand diese Härte? Darin, daß sie sich an der Wurzel ihres national-religiösen Stolzes verletzt fühlten. Daß ihnen gesagt wurde „Ihr habt kein Leben in euch“, es sei denn, daß ihr im besagten Sinn esset und trinket, war ihnen unerträglich. Nun, sie nahmen es für selbstverständlich, daß sie als von Gott erwählte Nation Leben hatten, und an dieser Vorstellung hielten sie fest, auch wenn sie glaubten, in Jesus den verheißenen Messias gefunden zu haben. Der Herr wußte „bei sich selbst“, daß diese Jünger in ihren Herzen von solchen Einwänden erregt waren, und daraufhin unterzog Er sie einer noch härteren Prüfung.

Er hatte bisher von Seiner Fleischwerdung gesprochen, in der uns die Fülle der Gottheit gebracht worden ist, und von Seinem Tod, der für uns den Zugang zum Leben bedeutet: Jetzt spricht Er von Seiner Erhöhung und himmlischen Herrlichkeit. Wenn sie sich schon darüber ärgerten, daß der Sohn Gottes herabgekommen war, was würden sie erst sagen, wenn Er auffahren würde? In diesem Kapitel haben wir dann auch Hinweise auf das erste und letzte Glied der Kette in 1. Timotheus 3,16: „Gott ist geoffenbart worden im Fleische..., aufgenommen in Herrlichkeit.“ Beachten wir, daß Er auffährt als Sohn des MENSCHEN. Es war schon ein Wunder, daß Gott auf die Erde herabstieg: es war kein geringeres Wunder, daß ein Mensch zum Himmel auffuhr. Jesus von Nazareth ist im Himmel (siehe Apg 22,8). Und Er ist, „wo er zuvor war“. Ein eindrucksvolles Zeugnis von der Tatsache, daß wir es bei Ihm mit einer und zwar unteilbaren Person zu tun haben, mögen wir auch oft und mit Recht die Kraft und die Bedeutung Seiner verschiedenen Namen und Titel betonen, ebenso wie wir unterscheiden zwischen dem, was Er immer war, und dem, was Er wurde, wie dies auch bei der Betrachtung der Eingangsverse zu diesem Evangelium geschehen ist.

Die Belehrung dieses Kapitels schließt ab mit Vers 63, wo der Heilige Geist eingeführt wird. Nichts stammt aus dem Fleisch des Menschen, dem der Nutzen dieser Sache zukommt: der Geist ist es, der lebendig macht. Der Vater gibt das wahre Brot des Lebens: der Sohn ist dieses Brot, und als Sohn des Menschen gibt Er Sein Fleisch für das Leben der Welt: der Geist macht lebendig. Alles ist von Gott, nichts geht aus dem Menschen hervor. Wie der Mensch wirklich tot ist, das zeigt dieses Kapitel; denn die Worte des Herrn, die Geist und Leben sind, waren ihnen nur zum Ärgernis. In den Versen 64 und 65 unterbricht der Evangelist seinen Bericht, um mitzuteilen, daß der Herr eine vollkommene Kenntnis der Dinge hatte, über die Er sprach. Er wußte nicht nur bei sich selbst, was sie dachten und sagten, Er kannte auch von Anfang die, die glaubten, und die, die nicht glaubten, und wer es sei, der Ihn überliefern würde.

Es war augenscheinlich an diesem Punkt, daß viele von denen, die in Kapitel 2,23–25 genannt werden, sich in ihrem wahren Charakter offenbarten. Sie hatten keinen lebendigen Glauben, und so gingen sie weg. Dann stellte der Herr auch die Zwölf auf die Probe. Petrus als ihr Sprecher gab ein schönes Bekenntnis echten Glaubens ab. Er anerkannte den von Gott Gesandten, daß Er Worte ewigen Lebens habe. Menschen, die eben bloß Menschen sind, mögen Worte der Wissenschaft oder der Philosophie haben, gelegentlich auch Worte der Weisheit, aber nur der Sohn Gottes hat Worte ewigen Lebens. Dazu gibt es keine Alternative; dem „Heiligen Gottes“ war niemand an die Seite zu stellen, soweit der Glaube dieses Jüngers schauen konnte. Christus stand allein in Seiner Einzigartigkeit. Und ganz gewiß, das ist Er durch Gottes Gnade auch für uns. Doch Er war es nicht für jeden von den Zwölfen; und der Herr benutzt die Gelegenheit, um zu zeigen, daß das Herz des Judas Iskariot bloß und aufgedeckt vor Seinen Augen lag. Nicht aus einem Mißverständnis über seinen wahren Charakter hatte Er ihn zu den Zwölfen genommen.

Zu dieser Zeit war Galiläa noch der Schauplatz des Dienstes des Herrn; wir sehen, wie die Herzen vor Ihm in denkwürdiger Weise offenbar werden: falsche Jünger gehen zurück, ein echter Jünger bekennt seinen Glauben, der Verräter wird entlarvt.

Nächstes Kapitel »« Vorheriges Kapitel