Das Evangelium nach Johannes
Kapitel 2
„Und am dritten Tage“ – so beginnt Kapitel 2. Wenn wir noch einmal zurückblicken, so war es der zweite Tag, an dem Jesus den Philippus fand, und es war der erste Tag, an dem Andreas und sein Mitjünger in Jesus den anziehenden und sammelnden Mittelpunkt erkannten. Indem wir diese Begebenheiten in vorbildlichem oder gleichnishaftem Sinn betrachten, können wir sagen, daß der erste Tag der ist, an dem die Kirche zu Christus hin gesammelt wird; der zweite Tag ist der, an dem Er als Sohn Gottes und König Israels von einem gottesfürchtigen Überrest in Israel erkannt wird; der dritte Tag schließlich entspricht dem Tausendjährigen Reich, wo Segnung und Freude gefunden wird als die Frucht der Herrschaft des Sohnes des Menschen, der dann über alle Dinge gesetzt sein wird.
In Kana fand eine Hochzeit statt, und Jesus nahm daran teil, ohne daß irgendwelche äußere Pracht auf Seine Gegenwart aufmerksam machte. Auch Seine Jünger und Seine Mutter waren dort. Doch bald zeigt Er durch die Antwort, die Er Seiner Mutter gab, daß Er und nicht sie den Gang der Ereignisse bestimmte. Ebenso macht Er deutlich, daß Seine Stunde noch nicht gekommen ist – weder die Stunde Seiner Leiden, noch die Stunde Seiner Verherrlichung, wenn „alle Dinge“ Ihm unterworfen sind. Indessen offenbarte Er sehr bald Seine Herrlichkeit, indem Er Seine Gewalt über das Wasser kundtat und daraus machen konnte, was Ihm gefiel. Er verwandelte das Wasser der Reinigung in den Wein der Freude. Dies war der Anfang Seiner Wunder und Zeichen, und dieses erste Zeichen war zugleich ein Hinweis auf die Vollendung Seines Werkes. Freude von Dauer kann es nicht geben außer auf der Grundlage einer Reinigung, die Er vollbringt, und jene Fröhlichkeit, die einem gereinigten Israel schließlich am Tag seiner Hochzeit aufsprießen wird, wird die beste von allen sein. Der „gute Wein“ wird bis an jenen Tag aufbewahrt sein. Dieses Zeichen, das Seine Herrlichkeit enthüllte, stärkte den Glauben Seiner Jünger und vermag auch uns in unserem Glauben wohl zu befestigen.
Nach einer kurzen Zeit, die der Herr noch in Galiläa blieb, ging Er zum Passahfest hinauf nach Jerusalem. All dies geschah, bevor Johannes ins Gefängnis geworfen war und deshalb auch, bevor Jesus Seinen eigentlich öffentlichen Dienst begann, wie es von den anderen Evangelisten berichtet wird. Die hier geschilderte Tempelszene muß sich deshalb direkt am Anfang Seines Dienstes ereignet haben. Als Er in den Tempel eintrat, stand Er mittendrin im vermeintlich frommen, jüdischen Leben, und hier, wo Er dessen Pulsschlag spürte, bekundete sich auch am stärksten, wie notwendig ein Werk der Reinigung war. Das Haus Gottes, Seines Vaters, hatten sie zu einem Kaufhaus gemacht, zu einem Platz der Geschäftemacherei und des weltlichen Gewinns.
Dies illustriert, wie die wohlgemeinten Gesetzesvorschriften verfälscht werden konnten und hier auch verdorben waren, um den gewinnsüchtigen Interessen der Menschen zu dienen. 5. Mose 14,22–26 gab Anweisungen zu diesem Punkt, und sie mochten sich mit dem Hinweis zu rechtfertigen suchen, daß sie doch nur machten, was das Gesetz erlaubte. Gewiß sprach das Gesetz davon, daß sie ihr Geld bringen und nötige Einkäufe machen sollten, aber es billigte nicht die habsüchtigen Praktiken, die sie eingeführt hatten, indem sie das Haus Gottes in eine Stätte des Gelderwerbs verwandelten. Die dem Grundsatz nach gleichen Erscheinungen beobachten wir auch heutzutage, so zum Beispiel römische Reliquienschreine mit Verkaufsläden in der Nähe, wo solche, die einfältigerweise daran glauben, Kerzen und allerlei Zubehör zu teuren Preisen erstehen!
Zu dieser Zeit anerkannte der Herr den Tempel noch als das Haus Gottes, und wie war Er seinetwegen von tätigem Eifer erfüllt. Niemand konnte Ihm und Seiner Geißel aus Stricken widerstehen, und für den Augenblick hatten die Übeltäter die Pätze zu räumen. Dennoch stellten die Juden Sein Vorgehen in Frage und forderten ein Zeichen, als ob die unwiderstehliche Autorität Seines Handelns nicht schon genug Zeichen wäre. In Seiner Erwiderung gab der Herr ihnen, obwohl eingebettet in eine symbolische Sprache, das große Zeichen Seines eigenen Todes und Seiner Auferstehung. Der Tempel als Wohnstätte Gottes würde bald durch Ihn selbst ersetzt werden. Sein Leib war ein Tempel, und als solcher weit wunderbarer als der, der auf dem Berg Morija gestanden hatte. Das Wort wohnte im Fleisch unter uns, und deshalb „war Gott in Christo“ in weit tieferem und innigerem Sinn. Die Fülle der Gottheit wohnte in Ihm. Der Tempel hatte einer bestimmten Aufgabe in Israel gedient, aber jetzt würde Er diese Aufgabe auf eine ganz und gar neue Weise übernehmen.
Von Anfang dieses Evangeliums an wird der Herr als verworfen betrachtet. So setzt Jesus bereits hier ihre tödliche Feindschaft als gegeben voraus. Seine Worte bedeuten eine Vorhersage, daß sie Hand an Ihn legen würden, um Ihn zu Tode zu bringen, daß sie, soviel an ihnen lag, den Tempel Seines Leibes zerstören würden. Sie würden ihn abbrechen, und in drei Tagen würde Er ihn aufrichten. Achten wir darauf, wie Er sagt, daß Er es tun würde. Es ist natürlich gleicherweise wahr, daß Gott Ihn aus den Toten auferweckte, doch auch in Kapitel 10 spricht Er davon, daß Er Gewalt hat, Sein Leben wiederzunehmen. Das entspricht dem Charakter dieses Evangeliums, das Ihn darstellt als das Wort, das Gott war und Fleisch wurde. Unter allen Zeichen, die Er wirkte, war Seine eigene Auferstehung das größte.
Doch in jenem Augenblick verstand Ihn niemand, selbst Seine Jünger nicht. Das ist ein anderes charakteristisches Merkmal des Johannesevangeliums. Er wird beständig mißverstanden, sowohl von Seinen Freunden als von Seinen Feinden. Erst nach Seiner Auferstehung und der nachfolgenden Ausgießung des Geistes wurde den Jüngern die wahre Bedeutung dieser Dinge allmählich klar. Aber auch das sollte uns nicht überraschen. Als das fleischgewordene Wort wird Er wahrlich in menschlicher Sprache zu uns sprechen, aber Er wird zugleich von jenen erhabenen Dingen reden, die Er kennt als der, der im Schoß des Vaters ist. Deshalb nehmen Seine Äußerungen eine Tiefe in sich auf, die der Verstand des Menschen nicht ausloten kann – Tiefen, die allein der Heilige Geist zu offenbaren vermag.
Wenn der Herr von Seiner Auferstehung in Bildern sprach, wurden Seine Worte von manchen Zuhörern nicht verstanden, doch die machtvollen Werke, die Er tat, übten auf viele ihre Wirkung aus. Die Schlußverse von Kapitel 2 zeigen uns, daß Wunder eine gewisse Art von „Glauben“ hervorbringen mögen. Viele in Jerusalem hätten zu der Zeit sicher dem geflügelten Wort „Sehen ist Glauben“ zugestimmt. Doch der Glaube an Tatsachen, die man sieht und die deshalb nicht geleugnet werden können, ist nicht der von Gott gegebene Glaube, der errettet. Er ist nicht mehr als eine intellektuelle Überzeugung, die in der Erprobung leicht zusammenbricht, wie wir in Kapitel 6,66 sehen.
Für den Augenblick muß die Lage in Jerusalem noch ganz hoffnungsvoll erschienen sein, aber Jesus sah unter die Oberfläche, und der Evangelist ergreift die Gelegenheit, es uns so mitzuteilen. Er trifft die zweifache Feststellung, daß Jesus „alle Menschen kannte“ und daß Er „wußte, was im Menschen war“. Eine ähnliche Aussage wiederholt Er in Kapitel 6,64; aber in unserem Kapitel finden wir die erste in einer Reihe sinnverwandter Bemerkungen, die die Allwissenheit unseres Herrn enthüllen und die dem Charakter des Evangeliums völlig entsprechen. Da Jesus diese Menschen kannte, vertraute Er sich ihnen nicht an. Das mit anvertrauen übersetzte Wort ist dasselbe, das im vorhergehenden Vers mit glauben wiedergegeben ist. Wenn wir das wissen, verstehen wir besser, daß wahrer Glaube nicht eine bloße geistige Überzeugung ist, sondern eine persönliche Übergabe in schlichtem Vertrauen auf den, an den man glaubt.