Die Offenbarung
Kapitel 8
Das Öffnen des sechsten Siegels (6,12–17) verursachte gewaltige Umwälzungen, die sowohl die Himmel als die Erde betrafen und die Herzen aller Menschen mit Entsetzen erfüllten. Dann entstand eine Pause. Die Winde des Himmels wurden festgehalten, bis die Knechte Gottes versiegelt waren. In Kapitel 8 wird das siebte Siegel geöffnet, und erneut tritt eine Pause ein, die als „ein Schweigen in dem Himmel bei einer halben Stunde“ beschrieben wird. Was während dieser Zeit auf der Erde geschieht, wird nicht gesagt. Gottes Gericht ist, wenn es ausbricht, nicht nur gewiß, sondern schnell, doch nie übereilt. Während dieser Zwischenzeit des Schweigens bereiteten sich die sieben Engel, „auf daß sie posaunten“. Ruhige Gelassenheit bestimmt göttliches Handeln im Gericht, und es wird aufgeschoben bis zum letztmöglichen Augenblick.
Engel treten jetzt in den Vordergrund. Dies entspricht den eigenen Worten des Herrn im Matthäus 13,39.41.49 und Matthäus 24,31. Hier handelt es sich um Engel von besonderer Bedeutung – „die sieben Engel, die vor Gott stehen“. In Lukas 1,19 finden wir, daß der Engel, der Zacharias, dem Vater von Johannes dem Täufer, erschien, sich selbst vorstellte als „Gabriel, der vor Gott steht“. Diese sieben Engel genießen also ebenfalls dieses besondere Vorrecht. In den Posaunen, die ihnen gegeben werden, haben wir ein Symbol, das sich von den Siegeln unterscheidet. Das Öffnen der Siegel löste nicht allein Gerichte der göttlichen Vorsehung aus, die über die Menschen kamen, sondern enthüllte auch ihren geheimen Ursprung. Ähnliche Gerichte von nicht so schwerer Art hatten sich vorher schon ereignet. Doch die Hand Gottes hinter den Gerichten hätte nicht so deutlich erkannt worden können, wären die Siegel nicht gebrochen worden. Andererseits ist die Posaune ein Symbol für einen unmißverständlichen Appell, der sich an alle richtet. Die Posaune wurde in Israel häufig benutzt, ob sie nun zum Versammeln rief oder zum Alarm blies. In diesem Kapitel wird mit großem Nachdruck zum Alarm geblasen.
Indessen verrichtete „ein anderer Engel“ während der halben Stunde eine auffällige Handlung, die in den Versen 3–5 ausführlich geschildert wird. Dieser große Engel fungiert in der Eigenschaft eines Hohenpriesters, indem er den Gebeten aller Heiligen den Wohlgeruch seines Räucherwerks hinzufügt. Viele sehen deshalb in ihm zu Recht eine symbolische Darstellung von Christus selbst. Er bewirkt zweierlei. Erstens handelt Er um der lebenden Heiligen willen, damit ihre Gebete als „ein duftender Wohlgeruch“ vor Gott aufsteigen mögen. Es gibt dann noch Gläubige auf der Erde, wenn auch viele den Märtyrertod erlitten haben, wie Kapitel 6,9 zeigte. Sie riefen um Rache, doch sie bedurften nicht der Unterstützung des Hohenpriesters, wie es bei diesen der Fall war.
Zweitens zeigt Sein Handeln uns das Feuer der Gerichte. Das gleiche Räucherfaß, das für das Räucherwerk des Wohlgeruchs verwendet wurde, wurde mit dem Feuer des Altars gefüllt und auf die Erde als ein Signal für den Beginn der Posaunengerichte geworfen. Es war ein goldenes Räucherfaß, in Übereinstimmung mit dem goldenen Altar, ein sinnbildlicher Ausdruck der wahren göttlichen Vortrefflichkeit. Ob es nun die Gebete der Heiligen sind, die im Wohlgeruch aufsteigen, oder das Feuer, das im Gericht herabkommt, alles wird in göttlicher Gerechtigkeit ausgeführt.
Die Verse 7–13 beschreiben, wie die ersten vier Posaunen ertönen und was sie bewirken. Die Sprache bleibt in hohem Maß symbolisch, und ein allen gemeinsames Merkmal liegt darin, daß nur jeweils der dritte Teil von den Gerichten betroffen wird. Dies zeigt, daß im Augenblick die Auswirkungen noch nicht umfassend, sondern begrenzt sind. Der Ausdruck „der dritte Teil“ kehrt wieder in Kapitel 12,4, wo es um das von Satan aufgestachelte Römische Reich geht. Das führt zu dem Schluß, daß mit dem dritten Teil das Gebiet des Römischen Reiches gemeint ist, was wir praktisch mit dem der westeuropäischen Mächte gleichsetzen können, oder wir können vielleicht auch sagen: mit der Christenheit.
In diesen Versen fällt außerdem auf, daß die Gerichte mehr auf Dinge als auf Menschen fallen. Doch die genannten Dinge – Erde, Bäume, Gras, Meer und Lebewesen darin, Schiffe, Flüsse, Quellen, Sonne, Mond, Sterne – sind in sich selbst keine moralischen Kräfte und somit auch nicht Gott verantwortlich. Der Mensch ist der aufrührerische Sünder, mit dem Gott sich beschäftigen muß. Die Dinge stehen symbolisch für den Menschen und für alles, was mit ihm verbunden ist.
„Erde“ bedeutet beispielsweise stabil geordnete Nationen, im Gegensatz zum „Meer“, dem Bild unruhiger Völker mit geringer staatlicher Ordnung. „Bäume“ bedeuten mächtige Männer der Erde, im Gegensatz zu „grünem Gras“, das auf das gewöhnliche Volk, jedoch in einem Zustand des Gedeihens hinweist. „Schiffe“ sind ein Symbol für Handel; „Flüsse“ und „Quellen“ sind Kanäle und Brunnen des Lebens und der Erquickung. Die teilweise Verfinsterung von Tag und Nacht könnte eine Störung im gesamten Ablauf der Naturerscheinungen anzeigen, die eine zunehmende Verblendung der Menschen zur Folge hätte.
Die heimsuchenden Gerichte werden in jedem Fall symbolisch beschrieben. „Hagel und Feuer, vermischt mit Blut“ muß ein Gericht bezeichnen, das vom Himmel her eine gewaltige und tiefgreifende Zerstörung mit Todesfolge bewirkt. „Ein großer, mit Feuer brennender Berg wurde ins Meer geworfen“ – irgendein eindrucksvolles, offenkundig festgefügtes Gebilde wird durch göttliches Gericht zerschlagen und geht unter im brodelnden Völkermeer. Ein „großer Stern“, der wie eine Fackel brennt und vom Himmel fällt, spricht vermutlich von irgendeiner herausragenden Persönlichkeit, die wie ein strahlender Komet helles Licht verbreitet, dann aber im völligen Abfall von Gott todbringendes Gift einer teuflischen Verführung unter die Völker bringt. Daß der dritte Teil der Sonne, des Mondes und der Sterne geschlagen wird, mag andeuten, daß den Menschen Licht des Verstandes zu ihrer Lebensführung teilweise verlorengeht.
Natürlich ist es auch sehr wohl möglich, daß hier auf gewaltige Erscheinungen, Zeichen und Katastrophen im Bereich der Natur Bezug genommen wird. Doch sind solche Ereignisse wohl nicht das Hauptanliegen der Prophezeiung, die es mehr mit dem zu tun hat, was geistlicher und moralischer Art ist, statt mit physikalischen oder materiellen Vorgängen.
Nach der vierten Posaune wurde eine sehr ernste Warnung ausgerufen. Der „Adler“ ist hier bedeutsam im Licht der Worte des Herrn in Matthäus 24,28. Der Zustand derer, „die auf der Erde wohnen“, wird dem von verwesendem Aas ähnlich, und deshalb entfesseln die drei folgenden Posaunen Gerichte mit dreifacher Verstärkung. Der Ausdruck „die auf der Erde wohnen“ oder Ausdrücke, die dasselbe besagen, kommen mehrmals in dem Buch vor. Sie weisen auf eine besondere Klasse von Menschen hin, deren Interessen und Hoffnungen vollständig auf die Erde gerichtet sind und die alles Himmlische aus ihren Vorstellungen ausgeschlossen haben. Als Christen haben wir eine himmlische Berufung, und doch ist die gegenwärtige Strömung religiösen Denkens ausschließlich auf die Erde konzentriert, so daß unsere himmlische Hoffnung verächtlich gemacht wird. Wenn die Kirche entrückt ist, werden die auf der Erde Wohnenden ihr irdisches Paradies anstreben und es als ein Ergebnis ihrer Anstrengungen erwarten. Diese Abtrünnigen werden ganz besonders den Zorn Gottes in Seinen Regierungswegen erfahren.