Der Brief an die Römer
Kapitel 2
Die heidnische Welt vor neunzehn Jahrhunderten umfaßte auch eine Anzahl hochzivilisierter Völker. Der Apostel Paulus wußte, daß er hinsichtlich des Evangeliums dem gelehrten Griechen ebenso ein Schuldner war wie dem unwissenden Barbaren. Wenn wir uns nun Kapitel 2 zuwenden, finden wir, daß er von dem einen zu dem anderen überwechselt. Sein Stil wird sehr anschaulich. Es ist fast, als sähe er einen hochgebildeten und geschliffenen, höflichen Griechen vor sich stehen, der durchaus zustimmt, wenn Paulus die ungeheuerlichen Sünden der armen Barbaren an den Pranger stellt. Nun aber schwenkt der Apostel um und klagt auch ihn an, daß er dieselben Dinge, obwohl in verfeinerter Form, ausübe, die er vorher in ihrer groben Form bei den Barbaren verurteilt hat. Deshalb steht auch der Grieche ohne Entschuldigung vor Gott, denn indem er andere richtete, verdammte er sich selbst.
In diesen Ausdruck „Grieche“ schloß der Apostel alle jene Völker mit ein, die zu jener Zeit unter dem Einfluß griechischer Kultur zu einer fortschrittlicheren Erziehung und Bildung gelangt waren. Die Römer selbst können wir dazu rechnen. Sie waren nach außen hin vornehme Leute, gescheit, intelligent und Freunde kluger Beweisführungen. In den ersten elf Versen dieses Kapitels sucht Paulus sie zu überzeugen hinsichtlich der Gerechtigkeit und des kommenden Gerichts, und womit ließen sich diese Verse in Schärfe, Kürze und Kraft vergleichen?
Die Griechen hatten einen gewissen Kodex für ihr äußeres moralisches Verhalten. Sie liebten Schönheit und Kraft und trainierten zu diesem Zweck ihre Körper. Das allein bewahrte sie vor den tödlichen Ausschweifungen der Barbaren. Doch wußten sie ihren Wünschen heimlich zu frönen, gleichsam mehr geistig und mit kunstgerechter Akribie zu sündigen. Das gleiche Merkmal kennzeichnet unsere Tage. Ein Slogan in der heutigen Welt könnte lauten: „Sündige nicht auf grobe und ungeschickte Weise, sündige wissenschaftlich bedachtsam!“ Unter solchen Umständen ist es für die Menschen leicht, sich selbst zu betrügen. Man bildet sich einfach ein, wenn man nur alles Gute theoretisch anerkenne und grobe Sünden vermeide, so könne man vor dem göttlichen Gericht sicher sein.
Beachte drei Schritte in der Beweisführung des Paulus:
- Das Gericht Gottes ist nach der Wahrheit (V. 2). Wahrheit meint Wirklichkeit. Keine Unwirklichkeit wird in Gottes Gegenwart standhalten, sondern alles wird offenbar werden, wie es ist. Eine dürftige Aussicht für den Griechen, dessen Tugenden nicht tiefer reichten als die Haut.
- Es gibt eine „Offenbarung des gerechten Gerichts Gottes“ (V. 5). Einem elenden Verbrecher mag es geschehen, daß die Wahrheit über sein Verbrechen enthüllt wird, doch wenn der vorsitzende Richter untauglich oder unredlich ist, mag er trotzdem ungeschoren davonkommen. Die göttlichen Gerichte sind ebenso gerecht, wie sie nach der Wahrheit sind.
- „Es ist kein Ansehen der Person bei Gott“ (V. 11). Heutzutage gibt es Länder, wo die Rücksichtnahme auf Personen bei unbezweifelbaren Verbrechen eine breite Straße offenhält, um der Bestrafung zu entgehen. Seilschaften oder andere Einflüsse hinter den Kulissen tun ihr Werk, oder man bedient sich einer Bestechung, und der Missetäter entzieht sich der Strafe. So wird es bei Gott niemals sein.
Für den abgefeimten Sünder oder gar den bloßen Moralisten gibt es da kein Entrinnen mehr. In der Tat sieht es so aus, daß ihn eine noch strengere Verurteilung ereilt. Gerade sein Wissen erhöht seine Schuld, denn die Güte Gottes möchte ihn zur Buße leiten, aber er verachtet diese Güte aus Herzenshärte und häuft sich so selbst Zorn auf.
Die Darlegung in den Versen 6-11 bietet vielen eine Schwierigkeit, insofern dort ein Hinweis auf den Glauben an Christus fehlt. Einige lesen beispielsweise Vers 7 und sagen: „Da, so braucht man schließlich nur fortzufahren mit dem Gutestun und das Gute zu suchen, und am Ende wird einem ewiges Leben zufallen.“ Wir brauchen jedoch nur ein wenig weiter zu lesen und finden dann, daß niemand Gutes tun oder Gutes suchen kann, außer wenn er an Christus glaubt.
Die Grundlage für das Gericht vor Gott sind unsere Werke. Wenn jemand aufrichtig an den Erretter glaubt, erlangt er Heil und hat dadurch die Kraft, Gutes zu tun und damit fortzufahren. Außerdem hat der Zweck seines Lebens sich gewandelt, und er beginnt, Ehre und Herrlichkeit zu suchen sowie jenen Zustand der Unvergänglichkeit, der bei der Ankunft des Herrn unser Teil sein wird. Anderseits gibt es zu viele Menschen, die, statt durch Glauben an das Evangelium der Wahrheit zu gehorchen, Sklaven der Sünde bleiben. Die Werke dieser Menschen werden die durchaus verdiente Verurteilung am Tag des Gerichts empfangen.
An dieser Stelle der Erörterung könnte jemand vielleicht einwenden: „Nun, aber alle diese Völker hatten nie den Vorzug, das heilige Gesetz Gottes zu kennen, wie die Juden ihn hatten. Ist es dann recht, sie derart zu verdammen?“ Paulus fühlte solchen Einwand und fügt deshalb die Verse 12-16 hinzu. Er stellt fest, daß diejenigen, die unter dem Gesetz gesündigt haben, durch das Gesetz gerichtet werden an dem Tag, wo Gott durch Jesus Christus richtet. Dagegen werden solche, die gesündigt haben, ohne das Licht des Gesetzes zu kennen, auch nicht wegen dieses Lichts zur Verantwortung gezogen werden. Nichtsdestoweniger werden sie umkommen. Beachte, daß die Verse 13-15 eine Einschaltung sind. Um den Sinn zu verstehen, muß man nach Vers 12 Vers 16 lesen.
Die Einschaltung zeigt, daß viele Dinge, die das Gesetz forderte, so waren, daß die Menschen in ihren Herzen wußten, daß sie verkehrt waren, auch wenn nie irgendein Gesetz gegeben worden wäre. Ferner warnt die Stimme des Gewissens die Menschen bezüglich solcher Dinge, selbst dann, wenn sie keine Kenntnis des mosaischen Gesetzes haben. Man mag hingehen, wohin man will, man wird finden, daß Menschen, sogar gänzlich verdorbene, ein gewisses Maß an natürlichem Licht oder Instinkt hinsichtlich Gut und Böse haben. Und so haben sie ein Bewußtsein davon und entsprechend anklagende oder entschuldigende Gedanken. Darum ist das Gericht, das sie treffen wird, begründet, auch ohne Gesetz.
Wenn Gott die Menschen richten wird durch Jesus Christus, wird das noch aus einem dritten Grund geschehen. Nicht nur entsprechend dem natürlichen Gewissen oder dem Gesetz, sondern auch „nach meinem Evangelium“. Das Gericht wird nicht einsetzen, bis das volle Zeugnis des Evangeliums verbreitet worden ist. Es wird solchen, die das Licht des Evangeliums kannten und dennoch gerichtet und verdammt werden, weit schlimmer ergehen als anderen, die nach dem Gesetz oder ihrem Gewissen verurteilt werden. An jenem Tag wird das Verborgene des Menschen gerichtet werden, obwohl ihre Verurteilung nach ihren Werken sein wird.
Ach, was für ein Tag wird dieser Gerichtstag sein! Möchten wir ein tiefes Gefühl für seine drohenden Schrecken haben! Mögen wir ernstlich keinerlei Mühe scheuen, daß wenigstens einige errettet werden.
Nachdem der Apostel sich mit dem Barbaren und dem Griechen befaßt und den Nachweis geführt hat, daß sie beide ohne Entschuldigung dem Gericht Gottes verfallen sind, wendet er sich nunmehr dem Juden zu, um seinen besonderen Fall zu betrachten. Der anschauliche Sprachstil, den er mit Kapitel 2 aufnahm, setzt sich bis zum Ende des Kapitels fort. Er scheint sich einen Juden vorzustellen, der ihm ebenso wie der Grieche über die Schulter schaut; in Vers 17 wechselt er von dem einen zum anderen über.
Der Jude besaß nicht nur das Zeugnis der Schöpfung und das eines natürlichen Gewissens, sondern auch das des Gesetzes. Das Gesetz vermittelte ihm eine Erkenntnis Gottes und Seines Willen, die ihn in Sachen der Religion weit über alle anderen erhob. Er machte jedoch einen großen Fehler. Er behandelte das Gesetz als etwas, dessen er sich rühmen konnte, und so förderte es seinen Stolz. Da sagt der Apostel: „Du ... stützest dich auf das Gesetz und rühmst dich Gottes.“ Er machte sich nicht klar, daß das Gesetz ihm nicht gegeben war, um sich darauf zu stützen, sondern daß es auf ihn einwirken sollte, um ihn zu erproben.
Dieser Prüfung wird er von Vers 21 an bis zum Schluß des Kapitels unterzogen. Das Ergebnis ist niederschmetternd. Wohl hatte er eine Form der Erkenntnis und der Wahrheit in dem Gesetz, aber es war doch wirksam gleich einem zweischneidigen Schwert. Er war so sehr damit befaßt gewesen, die scharfe Schneide gegen andere Völker zu richten, daß er dabei völlig übersehen hatte, sie auf sich selbst anzuwenden. Er betrachtete es für andere als strengen Maßstab - eine Art Senkblei oder geistige Richtschnur -, doch im Blick auf sich selbst verstand er es als persönlichen Schmuck, als eine an den Hut gesteckte Feder.
Laßt uns über sein Verhalten nicht allzu überrascht sein, denn wir tun von Natur aus genau dasselbe. Wir brüsten uns mit unseren Vorrechten und vergessen die damit verbundenen Verantwortlichkeiten.
Jede Frage in den Versen 21, 22 und 23 gleicht einem Schwertstich. In jedem Anklagepunkt mußte er sich schuldig bekennen. Er hatte tatsächlich das Gesetz, doch indem er es brach, verunehrte er Gott, dessen Gesetz es war. Ihre Schuld war so offenkundig, daß die Heiden verächtlich auf sie blickten und Gott lästerten, für den die Juden doch dastehen sollten.
Bei diesem Zustand der Dinge nützte es nichts, auf die Tatsache zurückzukommen, daß sie Gottes Volk der Beschneidung waren. Die Beweisführung in den Versen 25-29 ist sehr bedeutsam. Keine formelle oder äußere Stellung zählt vor Gott und macht richtig, was falsch ist. Gott wertet das Innere. Einen Menschen, der gehorcht, würde Gott achten, selbst wenn er ein unbeschnittener Heide wäre. Einen ungehorsamen Menschen würde Er zurückweisen, selbst wenn er ein beschnittener Jude wäre.