Wenn die Mauer des Schweigens bricht ...
Hilfe für misshandelte Kinderseelen
Briefe als Dokumente der Not Missbrauchter
Im Folgenden werden Auszüge aus acht Briefen abgedruckt, die ein wenig von der Not und dem Furchtbaren zeugen, das ein Opfer durchmachen muss. Der vorletzte Brief ist der eines Opfers an ein anderes, das von großen Schuldgefühlen geprägt ist, weil es meint, selbst mitverantwortlich zu sein an dem Drama – ein immer wieder anzutreffendes Gefühl. Den letzten Brief habe ich einmal von einem Opfer erhalten. Allein die Namensgebung zeigt, dass die Person diesen Missbrauch überwunden – ja besiegt – hat.
Man kann die Not, die von betroffenen Opfern durchlitten wurde und die über Jahre noch immer vorhanden ist, schwer mit Worten beschreiben. Auch die hier angefügten Briefe werden nur erahnen lassen, wie groß die wirkliche Not war und ist. In den Briefen 1 und 3 wird von diesen „Opfern“ – Mädchen, die das durchleben mussten – ansatzweise beschrieben, was sie körperlich, auch mit ihren Augen und Ohren, erfahren mussten. Beide Briefe sind deutlich gekürzt worden, um das Empfinden des Lesers nicht zu verletzen und um die persönlichen Merkmale der betroffenen Familien außen vor zu lassen. Schon die zitierten Teile reichen aus, um unsere Herzen und Gewissen betroffen zu machen.
Im vierten Brief kann man erkennen, über wie viele Jahre man an den Folgen von Missbrauch leiden kann. Im fünften Brief kommt noch eine weitere Dimension hinzu: Man kann ein solches Buch lesen oder einen entsprechenden Vortrag wie denjenigen, den wir an dieses Buch eingefügt haben1, hören und nach Hause gehen mit dem Gedanken: Gut, dass mir nichts passiert ist. Vor einer solchen Haltung haben Betroffene mit Recht Angst. Denn eine solche Reaktion wäre ein Stück der Gleichgültigkeit, welche die Betroffenen über viele Jahre erdulden mussten. Im sechsten Brief sieht man dann, dass die Fragen nach Gott nicht nur in der Zeit der ersten Not, sondern auch später noch genauso eine Rolle spielen. Ob wir Mit-Empfinden haben?
Bruder Jürgen Winterhoff erwähnt in seinem Vortrag unter anderem die Briefe 2 und 5, darüber hinaus aber noch andere „Zeitdokumente“, die uns die Not von Betroffenen fassbarer machen.
Briefauszug 1
Meine liebe …,
es hat lange gedauert offen darüber zu reden – nun ist es an der Zeit! Einleitend sei Dir mitgeteilt, dass ich kein einfaches Kind war. Als Jugendliche und Heranwachsende war ich eine Rebellin in höchstem Maß. Ich habe meinen Eltern viel Kummer, Probleme und Sorgen bereitet. Kurzum: Das folgende teile ich Dir ganz bewusst im Licht meiner eigenen Fehlbarkeit mit und aus der Sicht eines Kindes, einer Jugendlichen und eines heute Erwachsenen.
Seit geraumer Zeit bin ich das zweite Mal in psychologischer Behandlung. Das zweite Mal, weil die erste Betreuung von einem nach meiner Kenntnis nicht wiedergeborenen Psychologen vorgenommen wurde. Dieser zweite Teil nun wird von einer wiedergeborenen Seelsorgerin durchgeführt, die eine Zusatzausbildung absolviert hat.
Ausschließlich unter Gebet konnte ich das verarbeiten, was ich in meiner Kindheit und Jugendzeit als herzzerbrechend und sardonisch empfunden habe. Eines aber lässt mich nicht los, weil ich es nicht nachvollziehen kann: Warum habt Ihr die bösartigen Beschuldigungen meines Vaters nicht einmal hinterfragt? Auf der einen Seite ist er ein Mensch, der darauf bedacht ist, sich selbst für schuldlos zu halten (denn Schuld hatten grundsätzlich die anderen). Menschen in seinen Bann zu ziehen, sie herumzukommandieren, einzuschüchtern, zu täuschen und anderes, das hat er immer wieder getan. Auf der anderen Seite war er extrem verunsichert, wenn er nicht wusste, was Personen aus der Versammlung (Gemeinde) von ihm dachten oder hielten. Meist tat er das, was ihm in seinen Augen angesehene Personen und Diener sagten oder rieten. In den Zusammenkünften und bei Besuch war er immer wie ein Engel, zu Hause, wenn keine Besucher zugegen waren, ein Ungetüm...
Wenn es um Anschuldigungen geht, dass er mich sexuell missbraucht hat, ist er eiskalt. Er meint, so die Situation kontrollieren zu können. Emotionalität führt ihn seines Erachtens dahin, den Überblick über sich, die anderen und die Situation zu verlieren. Dieses Betragen hält bis zu diesem Augenblick an. Zu Hause, was ich selten mein zu Hause nennen konnte, lebte er all diese Dinge in vollem Maß aus. Es gab sicher auch ein paar schöne Tage mit ihm wie Radtouren, Biergartenbesuche, Urlaub im Süden/Norden, Schwimmen gehen, Ausflüge, Essen gehen und anderes, woran ich mich aber nicht mehr gut erinnern kann und er war, was das Finanzielle angeht, stets großzügig. Trotz alledem wollte ich ihn als Kind, Jugendliche und Heranwachsende die meiste Zeit nicht mehr sehen und in der Nähe haben.
Ich möchte nur einige wenige Beispiele bis zu meinem fluchtartigen Auszug aus unserem Alltag nennen, die mir überaus schmerzlich und schändlich in Erinnerung bleiben: Wenn uns unsere Mutter zu Bett gebracht hat, war oben Licht aus. Im Esszimmer brannte es noch, denn sie musste ja noch für ihn arbeiten, und zwar so viel, dass ihr oft eine Schlafzeit von nur 3–4 Stunden blieb. Hatte sie ihr Tagewerk nicht nach dem Ermessen meines Vaters erledigt, hat er sie angebrüllt, mit Putzlappen nach ihr geschmissen, sie beleidigt und ihr Tun, Denken und Entscheiden verbal bis zum Äußersten verurteilt. Sie saß jedes Mal eingeschüchtert, verängstigt, gekränkt und wie ein „geknicktes Rohr“ am Tisch und ließ diese verbale Vergewaltigung über sich ergehen.
Habe ich ihn dann wieder gehört, setzte ich mich auf die abgedunkelte obere Flurtreppe und hörte und sah in das beleuchtete Esszimmer. Sie tat mir außerordentlich leid; es schmerzte mich in meinem Kinderherz, und das tut es bis zum heutigen Zeitpunkt, denn er bekam aufgrund seiner vielen Reisen nicht mit, was Mutter unter ihm gelitten, geweint, alles getan, entschieden und erledigt hat. Wie oft hatte er uns eine weinende und verletzte Mutter hinterlassen. Wie oft ist er nicht auf ihre Ängste eingegangen, z.B. schnelles Autofahren, Platz- und Höhenangst. Er fegte einfach über ihre Empfindungen hinweg. Handgreiflichkeiten habe ich so nie beobachtet, traue ich ihm aber zu.
In heller Erinnerung bleibt mir, wie sie mir einmal unter Tränen sagte: „Wärt ihr nicht, ich wäre schon oft mit dem Auto gegen eine Mauer gefahren, denn ich kann nicht mehr!“ Wir Kinder und unsere Mutter litten alle unter unserem Vater, weil er ein cholerisches, zorniges, ungeduldiges, täuschendes und wütendes Gemüt hatte; vielleicht nicht alle Kinder haben seine mit Wut und Zorn getränkten Schläge und Erziehungsmaßnahmen aushalten müssen. Irgendwann taten mir die Schläge oder das Verbannen in dunkle Zimmer nicht mehr so weh. Ich konnte eh nichts dagegen tun, beobachtete stattdessen während des Schlagens sein Gesicht – es war ein grausiger Anblick. Die körperlichen und sexuellen Interventionen musste ich einfach ertragen.
Mein Vater kam nachts immer wieder an mein Bett und kniete sich nieder. Was ich dann unter meiner Bettdecke über mich ergehen lassen musste, darüber schäme ich mich zu schreiben. Manchmal bin ich von Schmerzen in der Scheide aufgewacht, sah ihn, hatte eine riesige Angst, etwas Falsches zu tun. Manchmal war ich auch wach und machte meine Augen zu. Es tat manches Mal allein schon körperlich weh. Ich ertrug es, weil er mir einmal sagte, dass es im Leben unangenehme Dinge gibt, die man zu ertragen lernen müsse. Ich hatte eine unermessliche Angst vor ihm. Allein schon der Gedanke, wenn meine Geschwister etwas mitbekämen, was sollte ich ihnen eigentlich sagen, führte zu Angstschweiß. Später haben wir gesehen, dass auf seiner geschäftlichen Telefonabrechnung pornographische Anbieter auftauchten …
Ich traute mich nicht, mich zur Wehr zu setzen. Ich hatte zu viel Angst, hierfür auch noch verprügelt zu werden. Denn schon für das geringste Vergehen wurden wir geschlagen. Meine Schwester hat mir mal mitgeteilt, dass sie öfter das Gefühl hatte, er säße auch an ihrem Bett. Sie wisse allerdings bis heute nicht, ob es so war oder nicht. Jedenfalls teilte ich es meiner Mutter mit und fragte sie, ob ihr Mann tatsächlich mein Vater sei, weil er oft in unserem Zimmer an meinem Bett... Die erste Reaktion meiner Mutter war: „Du hast bestimmt geträumt, mein liebes Kind.“ Sie glaubte mir nicht. Heute sagt sie, dass sie es im ersten Moment nicht glauben konnte, weil sie sich in einem psychischen Schock befand – das will ich ihr heute wirklich glauben. Sie sagte mir später, sie habe mit ihrem Mann darüber gesprochen.
Für mich brach nach dieser Zeit endgültig alles zusammen! Mein Selbstbewusstsein und mein Glaube an den echten Freund – an Jesus – zerbrach. Ich schämte mich, ich fühlte mich schmutzig, ich widerte mich an, ich war seelisch verletzt und meine Kinderseele war tieftraurig, dass ich zumindest von meinem „Vater“ nie wirklich für mich spürbar geliebt wurde. Ich gab den Kampf nach Liebe und Einfühlsamkeit auf.
Nach geraumer Zeit schlug Mutter mir vor, das Mädchenzimmer nachts abzusperren. Als Kind aber geriet ich, ohne das Mutter davon wusste, in Erklärungsnot, weil mein Vater ausdrücklich untersagt hatte, irgendetwas nach außen dringen zu lassen. Hinzu kam: Was sollte ich meinen Geschwistern sagen, die in meinem Zimmer schliefen, wenn sie nachts auf Toilette müssten und die Tür zugesperrt wart? Zumal eines meiner Geschwister ein schlafwandelndes Kind war und mir schon die utopischsten Dinge einfielen, was passieren würde, wenn sie die Tür nicht öffnen kann und nicht mehr halten konnte …
Ich glaubte nicht mehr daran, dass es einen Gott geben könne, von dem meine Eltern und auch viele andere in meinem Umkreis sprachen. Denn Er half mir ja nicht! Wo war Er zu all dieser Zeit? Es war für mich fast nicht mehr auszuhalten. Auch andere Dinge wie Alkohol spielten bei meinem Vater eine große Rolle. Ich und meine Geschwister wurden zum Teil für kleinste Dinge angebrüllt. Nach jeder Versammlungsstunde wurde Mutter verbal vergewaltigt und schreiend gefragt, warum das Essen noch nicht fertig sei, das gute Geschirr und das dazugehörige Sonntagssilberbesteck noch nicht auf dem Tisch liege usw., ganz gleich ob wir im Garten saßen und alle Welt das mitbekam, oder ob wir drinnen waren.
Vor einigen Jahren hat mit allen seinen Kindern ein Gespräch stattgefunden. Dabei waren neben unserer Mutter alle Kinder anwesend; ich selbst war leider verhindert. Wir wollten ihn über sein Tun zur Rede stellen. Das war nicht möglich, weil er eiskalt blieb und sich aus allem herauswand. Ich muss dabei erwähnen, dass er einmal bei mir anrief und sich „mal eben“ dafür entschuldigte. Zuvor betete mein Vater noch schnell mit mir und bat Gott um Entschuldigung.
Auch vor einigen Jahren noch versagte ich, die ganze Wahrheit einmal ans Licht zu bringen. Selbst mit 25 Jahren fehlte mir dazu noch der Mut. Warum? Nicht zuletzt, weil mein Vater mich nach seinem Entschuldigungsgebet barsch zurechtwies, genauestens auf meine Wortwahl zu achten. Er wollte auch da noch verhindern, dass irgendetwas nach draußen drang. Für meinen fehlenden Mut schäme ich mich heute. Und die verantwortlichen Personen in der örtlichen Gemeinde, zu der ich ging und denen ich etwas anvertraut hatte, waren nach Rücksprache mit meinem Vater wieder der Meinung, er habe recht. Nun trug ich diesen mächtigen Ballast weiterhin mit mir, kam nie zur Ruhe, und hatte deswegen psychische Probleme und Alpträume. Mit der Zeit litten meine eigentlich gut laufende Ehe, mein wunderbarer Mann und auch meine Kinder darunter. Am Anfang unserer Ehe teilte ich ihm nur grob davon mit, weil ich im Unterbewusstsein noch immer Angst vor meinem Vater hatte. Zu dieser Zeit wurde ich das erste Mal psychologisch betreut. Irgendwann bekam ich panische Angst, wenn ich mit meinem Mann zusammen war. Er teilte mir mit, dass es so nicht laufen könne und forderte mich liebevoll zur Aussprache und Aufklärung auf – dabei ließ ich nichts aus!
Jetzt, nach der zweiten psychologischen Betreuung, darf ich endlich in Frieden den Weg mit dem Herrn Jesus gehen und habe dabei eine einfühlsame Unterstützung vonseiten meines Mannes. Endlich, nach bestimmt 18 Jahren, kann und darf ich in Ruhe leben und habe Frieden in meinem Herzen.
Zuletzt möchte ich noch sagen, dass ich sicher bin, meinem Vater eines Tages vergeben zu können – das spüre ich, und ich möchte es auch. Meine dann wieder wachsende töchterliche Liebe zu ihm wird dann sicher auch alle meine Wunden vergessen machen.
Ich bin aber sicher, dass es schwer fallen wird, dem von mir Aufgeschriebenen Glauben zu schenken; gerade über einen Mann, Familienvater und anerkannten, bekannten „Bruder im Herrn“, der in der örtlichen Versammlung (Gemeinde) und zu Hause, wenn Besuch da war, der freundlichste, nachsichtigste, geduldigste und geistlichste Mensch zu sein schien. Es sei gesagt, dass Kindern – sie sind Schutzbefohlene! – gerade unter Gläubigen Tränen, negative Berichte und Hilferufe, die ihre Eltern betreffen, oftmals nicht geglaubt werden. Ich spreche hier aus eigener, langjähriger Erfahrung und Beobachtung …
Briefauszug 2
… Zum Schluss bleibt noch immer meine schwere Hypothek aus längst vergangenen Tagen. Die meisten Symptome habe ich unter meine Füße bekommen. Aber mit den Bildern in meinem Kopf und der Erinnerung muss ich ganz allein leben. Vor allen Dingen muss ich ganz alleine weiterleben in einem geschändeten und von fremden Händen beschmutzten Leib. Die Bilder in meinem Kopf kann keiner fortnehmen. Sie tyrannisieren meinen inwendigen Menschen und können mich verfolgen bis in die Träume. Auch noch fast dreißig Jahre danach …
Briefauszug 3
Sehr geehrter …
es ist mir persönlich wichtig, einige Details über die Handlungen von X weiterzugeben. Über Jahre wollte sie keiner hören, weil mir suggeriert wurde, ich sei irgendwie nicht normal im Kopf. Mein Vater sorgte ja auch nachhaltig dafür, die Denkweise anderer so zu beeinflussen, dass sie denken mussten, ich sei nicht normal. Wollte ich jemals anfangen zu reden, um mich für mein angeblich anormales Verhalten zu rechtfertigen, hat man mir entweder das Wort abgewürgt oder mich schief angeschaut und gesagt: „Aha, soso“!
Mein Vater hat sich stets mit X abgesprochen, deshalb traute ich mich nie, X zu widersprechen oder mich zu verweigern. Mutter wurde von Vater stets so behandelt, als gäbe es die sexuellen Interventionen nicht. Wenn sie nach der Glaubwürdigkeit dieser Dinge fragte, tat es Vater stets ab und verneinte alles. Das sind Eindrücke und Erfahrungen von mir als Kind und Jugendliche. Die körperlichen und sexuellen Interventionen meines Vaters musste ich einfach ertragen – sie waren schmerzhaft für die Seele und den Körper. Für meine Seele ist es das bis heute, denn aktuell versucht er seinen leiblichen Brüdern mehr oder weniger erfolgreich glauben zu machen, das seien alles Hirngespinste meinerseits.
Die sexuellen Eingriffe von X fingen schon früh an und gingen über 8 Jahre. Eigentlich ging ich gerne in dieses Haus, weil ich mich dort bekehrt habe – wenn nicht er dort gewesen wäre … Sein bevorzugter Ort war eine ganz spezielle Kammer. Ein Stuhl, ein kleines Waschbecken, ein grasgrüner Teppich und eine kleine hell leuchtende Lampe zierten die Kammer … Wenn ich es ein paar Male überhaupt nicht ertragen konnte, mich zur Verfügung zu stellen, und mich weigerte, was mir selten gelang, musste ich mir auf seinem Bildschirm … ansehen. Er erklärte mir die ekelhaftesten Dinge und Theorien, die ich zum Glück inzwischen vergessen habe.
Seine Frau ertappte ihn oft mit mir, holte mich aber nie heraus! Zu ihrer Verteidigung möchte ich meinen, dass sie sich nicht traute... Als ich einmal für mehrere Tage bei ihm sein musste, … [wurde ich vielfach sexuell missbraucht] Ich war dankbar für die Momente, wenn ich zum Einkaufen weggehen konnte. Der Rückweg war ein Graus. So ging es fortlaufend...
Selbst wenn X mal zu uns kam, konnte er trotz Anwesenheit aller Erziehungsberechtigten ungehindert zu uns ins Kinderzimmer kommen. Dort trieb er ebenfalls ungehindert sein Spiel, aber nur mit ausgewählten Kindern, nämlich mit denen, von denen er wusste, dass er sie zum Schweigen bringen könne – koste es was es wolle. Es fiel den unten im Wohnzimmer Sitzenden nicht auf, wie lange X schon fort war. Sie taten auch nichts dagegen. Eine Christin war mal da und ertappte ihn mit mir und anderen Mädchen, schaute weg und schloss hinter uns die Türe. Wer weiß, was sie meinen Eltern berichtete...?
X hat zu mir als Kind gemeint, dass das, was er da jetzt tut, zum Leben dazu gehöre, aber es müsse und dürfe niemand wissen. Im Anschluss an seinen Missbrauch gab er mir immer ein kleines Geschenk. Ich weiß es noch wie heute, dass ich zu ihm sagte: „Nein, das macht man nicht, das geht nicht, deine Frau ist doch da.“ Je öfter ich ihm das sagte, desto gleichgültiger wurden die Antworten. Erst war es noch: „Ach das bekommt sie nicht mit“, irgendwann war es nur noch „Ach, na ja“. Zuletzt hat er nichts mehr gesagt, sondern hat es nur noch abgewinkt.
Gott sei Dank kann ich endlich über diese Erfahrungen reden, was mir gut tut. Letztendlich ist Gott der Beurteiler derjenigen, die wegschauten und nichts über all das gesagt haben, was geschah, die mich auch für anormal erklärten und mir keinen Glauben schenkten. Mein Zeuge ist Gott – und mein Vertrauen liegt ganz allein bei Ihm. Ein Mensch kann mir heute Derartiges nicht mehr antun. Dafür sorgt Er, mein Heiland …
Briefauszug 4
Lieber...
leider gehöre ich zu einem unbeschreiblich traurigem Opferkreis, und bin seit über 30 Jahren in therapeutischer Behandlung. Das hat zur Folge, dass ich einerseits in der Lage war, meinen Eltern (Täter) überhaupt zu vergeben, anderseits aber heute immerhin im Alter von über 60 Jahren, noch an Folgen zu tragen habe, über die ich noch nicht, bzw. nur sehr schwer sprechen kann.
Meine Bitte, suchen Sie, Ihre Seelsorger und Helfer, Kontakt zu den Opfern. Die Opfer selbst werden kaum kommen, da sie sich sehr oft schämen, bzw. nicht ihre Familie „beschmutzen“ wollen. So war es auch in unserem Elternhaus. In den letzten 30 Jahren haben meine Frau und ich gelernt, wie Gott einem behilflich sein kann.
Meine (unsere) Erfahrungen sind in meiner Arbeit unter Christen eine enorme Hilfe, zumal wir Gott als unseren Vater kennen, der keine Fehler im Heilungsprozess macht, und auch Menschen als „Werkzeuge“ nutzt, die er zu so einem schwierigen Dienst befähigt hat.
Ich weiß, dass in manchen Versammlungen (Gemeinden) jahrelang Missbrauch praktiziert wurde, es aber keiner bemerkt bzw. angesprochen hat. Mit Prügelstrafe hat man die Kinder zuweilen zum Schweigen gebracht und in der Gemeinde wurden sie kurzerhand als „schwer erziehbar“ eingestuft.
Briefauszug 5
Dieser kurze Briefauszug eines Opfers an einen christlichen Seelsorger kommentiert das erwartete Verhalten von Zuhörern bei einem Vortrag zum Thema Kindesmissbrauch.
… Die meisten Besucher werden sich an die Brust schlagen und spüren, wie schrecklich die Welt ist und dann in Ihre Häuser gehen, die Türen schließen und voller Dankbarkeit einschlafen, dass es sie nicht betrifft und wie wunderbar der Herr sie bewahrt …
Briefauszug 6
Lieber...
... ich sehe auch, wie Menschen, ja auch Christen ungeschoren davon kamen und immer noch kommen, und ich, was mache ich falsch, dass ich wie auf allen Vieren durchs Leben krauchen muss? Ich darf darüber wirklich nicht nachdenken. Da geht jahrzehntelang ein „hoch geistlicher Vater“ mit geballter krimineller Energie, die von seiner Frau noch unterstützt wird, durchs Leben, wird gefeiert, geachtet und geehrt, und nichts passiert. Wo war Gott? Wo sind die Mühlsteine, von denen er sprach, dass sie um den Hals von Kinderschändern gehängt werden sollten? Die Aussage, dass seine Wege nicht unsere und seine Gedanken nicht unsere sind, tröstet mich überhaupt nicht. Wie kann ein Vater, der die vollkommene Liebe in Person ist, Jahrzehnte untätig mit ansehen, wie kleinen schutzlosen Kindern das Leben grundlegend zerstört wurde und immer noch wird? Wie kann es sein, dass Täter heute ein freies, völlig unbeschwertes Leben führen können, und die Opfer einfach Opfer bleiben. Nur so nebenbei: Dieser Tage bekam ich einen Anruf eines Bruder aus... Wir kamen auf das Thema Vergebung. Er fragte mich, wie ich das sehen würde in Bezug auf die Versammlung (Gemeinde), in der das ganze Elend begann. Ich sagte nur, dass es sicher eine vertrauensbildende Handlung gewesen wäre, wenn man meine Frau und mich auch angesprochen hätte, um uns zu sagen, dass es ihnen leid tut, was seinerzeit in „ihrer“ Mitte geschehen ist. Ich meine die Staatskirchen waren sich zu einer öffentlichen Entschuldigung, bzw. der Bitte um Vergebung nicht zu schade. Doch das ist in dieser Versammlung nicht möglich. Schade kann ich nur sagen. Es täte unserer gemeinsamen Aufarbeitung sehr gut, zumal auch meine Frau an dieser Haltung schwer zu tragen hat.
Nun, ich könnte die dunklen Wolken noch wesentlich intensiver beschreiben. Es ist ja nicht so, dass ich mich ununterbrochen in ihnen befinde. Ich weiß, dass Gott als mein Vater mich unendlich liebt, und ich einen Herrn habe, der mich auch begleitet. Als Gott und Schöpfer wird er mich verstehen, aber aus eigener Erfahrung sicher nicht. Aber da mich all diese Gedanken nicht viel weiterbringen, will ich immer wieder versuchen auf das zu sehen, was positiv ist, und was es bedeutet, überhaupt in der Nähe, bzw. in der Hand Gottes meines Vaters leben zu dürfen. Aber es gibt Momente, wo ich schon froh bin, wenn es ein Stück Holz in einem reißenden Strom zu fassen gibt. Wenn es mich auch nicht retten kann, aber es erinnert vielleicht, dass es doch Rettung geben könnte.
Brief 7
Liebe...,
ich weiß um Deine schlimme Situation und ich weiß auch um Deine Schuldgefühle. Ich möchte Dir dazu gerne etwas sagen und würde Dir so gerne helfen!
Die Schuldgefühle, die Du hast, sind völlig unbegründet! Du hast an nichts, an gar nichts Schuld, was mit Dir gemacht wird, auch wenn Du denkst, dass Du daran sehr viel Schuld trägst! Was mit Dir geschieht, all das Böse, die Schmerzen, die Isolation und Kontrolle, all das haben die Menschen zu verantworten, die es mit Dir machen, die Dich nicht schützen (obwohl es ihre dringende Aufgabe ist!) und die Dich aufgrund ihres Egoismus verlassen, alleingelassen und verstoßen haben!
Deine Mutter hat nur an sich gedacht, kümmert sich um gar nichts mehr; alleine das schon ist nur ihre Schuld, Du warst erst 10 Jahre alt, als dies geschah! Dafür kannst Du überhaupt nicht verantwortlich gemacht werden! H müsste Dir eigentlich helfen! Du bist ihre Schutzbefohlene, und sie weiß um all das Böse! Auch daran trägt nur sie die Schuld, nicht Du! Du bist noch ein Kind, auch wenn Du Dich längst nicht mehr so fühlst, weil Dir schon so lange Verantwortung übertragen wird, die Du noch gar nicht tragen kannst! Warum hat sie denn nicht ihre Aufgabe als Ehefrau und Mutter wahrgenommen? Das ist doch nicht Deine Schuld!
Und nun zu [dem Täter]: Er hat angefangen diese überaus bösen Dinge mit Dir zu machen; Du wolltest dies nicht von Dir aus. Du empfindest zu Recht diesen Ekel davor, auch vor ihm! Und auch, wenn Du nun anfängst vorzupreschen, ihn aufforderst, weil Du diese widerliche Spannung nicht mehr aushältst, bis er das tut, von dem Du genau weißt, dass es es bald an Dir gewaltsam tun wird, trägst Du keinerlei Schuld daran! Du bist das Opfer und nicht alle, die um Dich herum sind!
Lass Dir nicht weiter einreden, dass Du die diejenige seiest, die alles kaputt macht und die das Böse in die Familie brachte! Es ist für mich vollkommen verständlich, dass Du vorpreschst, um alles hinter Dir zu haben; dass Du wenigstens dieses Fünkchen Kontrolle über Dich bewahren willst!
Nun wünsche ich mir von Herzen für Dich, dass Du diese Schuldgefühle bald nicht mehr hast! Verliere nie den Glauben an Gott, unseren liebenden Vater! Er trägt nämlich auch keine Schuld an unserer Situation. Er möchte Dir helfen, wenn Du das auch momentan nicht spürst und akzeptierst! Er will Dich auch nicht für irgendetwas bestrafen! Er will Dir Kraft schenken und liebt Dich auch als sein Geschöpf!
Verliere nicht den Mut! Du bist wertvoll und liebenswert. Eines Tages wirst auch Du einmal schöne Zeiten erleben dürfen! Und eines Tages wirst Du sehen, dass Gott Dich schon heute trägt!
Schäme Dich nicht für Dich, versuche, Deine guten Seiten zu sehen, lass Dich nicht davon überzeugen, dass Du die Verantwortliche in diesem Drama bist!
Du bist diejenige, von der man sagen kann, dass sie die Einzige in Deinem Umfeld ist, die vollkommen schuldlos ist!
Mit herzlichen Grüßen
Brief 8
Hallo Ihr Lieben,
vielen Dank für Deine liebe Nachfrage! Mir geht es aber echt gut, und ich merke, dass meine Therapeutin mir wirklich helfen kann!
Wir sind inzwischen sogar soweit, dass wir den eigentlichen Missbrauch aufgearbeitet haben, und jetzt „nur“ noch an den Folgeerscheinungen (falsch gelernte Einstellungen, Lebensmottos, etc.) durcharbeiten, um überhaupt mal ein Gefühl dafür zu bekommen, was „normal“ ist. Ihr könnt Euch gar nicht vorstellen, wie frei ich mich fühle, wo jetzt die ganze Last wirklich weg ist. Sie ist sogar so weit weg, dass die Vergangenheit selbst in meinen Gedanken kaum noch auftaucht, und das ist für mich ein echtes Wunder! (Obwohl der Herr mir genau das verheißen hat, aber ich konnte mir einfach nicht vorstellen, wie Er es erfüllen würde, und jetzt kann ich nur staunen!)
Jeden Tag erlebe ich neue kleine Fortschritte, und hab genug zum Danken! Und jetzt noch was Schönes: Seit November hat mein Vater sich bereit erklärt, in eine Therapie zu einem gläubigen Arzt zu gehen, und ich hoffe einfach, dass es wirklich was bringt und dass er sich echt helfen lässt.
Meine Mutter war inzwischen 5 Wochen zur Kur und sie genießt ihre Freiheit in vollen Zügen! Sie wird dort von einem seelsorgerlichen Arzt betreut, und konnte so mal alle Fragen loswerden. Dadurch ist sie ermuntert worden, auch weiterhin fachliche Hilfe in Anspruch zu nehmen, und ich bin echt gespannt, ob sie es tun wird! So, nun wisst Ihr erstmal wieder, wie es bei mir so aussieht, und ich freu mich echt, dass Ihr Euch ab und zu meldet.
Habt Ihr sonst noch ähnliche Fälle zu betreuen? Wenn ich Euch da irgendwie helfen kann, sagt es ruhig, ich werd mir alle Mühe geben, und Ihr dürft auch persönliche Fragen stellen. Wenn es einem anderen „Opfer“ hilft gebe ich gerne darüber Auskunft. Ich merke es so sehr dass man alleine nicht zurechtkommt. Und die Hilfe die ich erfahren durfte, möchte ich gerne weitergeben.
Vielen Dank für Eure Gebete!
Viktoria [Sie gab sich den Namen: Überwinderin]
Fußnoten
- 1 Der Printausgabe dieses Buches.