Wenn die Mauer des Schweigens bricht ...
Hilfe für misshandelte Kinderseelen
Zur Einstimmung
„Wer irgend einem dieser Kleinen, die an mich glauben, einen Fallstrick legt, für den wäre es besser, dass ein Mühlstein um seinen Hals gehängt und er in die Tiefe des Meeres versenkt würde“ (Matthäus 18,6).
Immer wieder kommt das Thema Pädophilie und Kindesmissbrauch in die Medien. Und immer macht das Lesen dieser Dinge betroffen. Denn kleine, unbeschützte Kinder sind die Opfer brutaler und unberechenbarer Täter.
Folgender Auszug aus dem Gedicht eines der Opfer hat mich besonders beeindruckt:
„In meinem Herzen steckt ein KZ,
ganz tief unten,
Zugang habe ich kaum …So gehen die Tage, geht das Jahr.
Das KZ geht nicht …Lieber KZ mit dir
als Himmel ohne dich!
Ich bin doch schon dein, Herr.
Deck auf!“ 1
An anderer Stelle schreibt dieselbe Autorin unter anderem:
„Trotzdem!
Und wenn sie dich jetzt fragen –
Warum
lässt Gott das zu?
Dann halte aus,
dass du nicht weißt,
warum.Diese Frage werde ich Gott im Himmel stellen.
Sie brennt unter den Nägeln,
und quält das Herz.
Aber sie darf uns nicht trennen von Gott.“
Seit dem Jahr 2010 ist das Thema Kindesmissbrauch zu einem medialen Spektakel geworden. Noch ist nicht klar, ob diese intensive öffentliche Debatte dazu führt, dass man sich diesem traurigen Kapitel dauerhaft mit der notwendigen Ernsthaftigkeit zuwenden wird. Tatsächlich hat das Thema etwas an Gewicht verloren. Aber wo immer eine neue Tat an die Öffentlichkeit gelangt, wird sie durch alle Medien hindurch beleuchtet.
Oftmals ist eine solche Medialisierung eher dazu geeignet, bestimmte Personen oder in diesem Fall Institutionen wie die Römisch-Katholische Kirche, spezielle Schuleinrichtungen und Vereine zu brandmarken. Der Fokus liegt auf öffentlichkeitswirksamen Vergehen; der Rest dagegen geht „straffrei“ aus, auch wenn es dort mindestens genauso viele Vorkommen dieser Art geben dürfte. Aber der Scheinwerfer richtet sich nun einmal auf medial verwertbare Bereiche.
Das alles hat nichts mit einem systematischen Durchleuchten zu tun. Auf wen das Scheinwerferlicht nicht fällt, der hat Glück gehabt und versteckt sich. Noch sind die Mauern dick genug, um sich dahinter zu verbergen. Wir Christen tun zuweilen leider das Unsrige mit dazu, dass Transparenz nicht zustande kommt.
Muss man eigentlich erst alles an den öffentlichen Pranger stellen, damit man Menschen und auch Christen vor derartigen Straf- und Schandtaten bewahren kann? Wissenschaftliche Untersuchungen ergeben, dass es in Deutschland rund 250.000 Männer mit pädophilen Neigungen gibt. Wahrscheinlich sind es mehr. Sie lauern überall, wo es Kinder gibt: im Kindergarten, im Schwimmbad, im Sportverein, in Schulen, auf Spielplätzen. Und, was besonders schlimm ist: in der eigenen Familie. Bei dieser letztgenannten Gruppe handelt es sich nicht notwendigerweise um Pädophile, sondern um solche, die aus verschiedenen Motiven heraus Kindesmissbrauch betreiben, indem sie ihre Autoritätsposition und die körperliche und psychische Schwäche der ihnen anvertrauten Kinder dazu missbrauchen, sexuelle und sonstige Gewalt an ihnen auszuüben.
Nach einer Repräsentativerhebung des Jahres 2011 werden 5% der Mädchen und 1% der Jungen bis zu ihrem 14. Lebensjahr Opfer sexueller Übergriffe.
Die Christen
Christen können sich nicht von den Wirkungen unserer Mediengesellschaft abkoppeln. Aber sie unterliegen anderen „Gesetzen“ als Menschen, die mit Gott und seinem Wort, dem Wort Gottes, nichts zu tun haben wollen. Christen sind gehalten, sich dem ewigen Wort Gottes unterzuordnen. Aus diesem Grund dürfen sie sich Fragen nach einem moralisch einwandfreien Leben nicht verschließen. Sie müssen Vorbilder sein, wenn sie das Vertrauen von Menschen dieser Gesellschaft erwerben oder bewahren wollen; das gilt insbesondere im Hinblick auf Kinder innerhalb christlicher Versammlungen (Gemeinden).
Hinzu kommt: Wenn irgendwo im Umfeld von christlich geprägten Familien Kindesmissbrauch auftritt, sind sie gefordert zu handeln, und zwar unabhängig von jeglichem Medienhype. Es scheint so, dass diese Verantwortung heute wieder betont werden muss. Verschleiern ist Sünde – gerade wenn es Christen tun. Denn sie müssten es besser wissen.
Dass hier in der Vergangenheit zum Teil nicht mit der notwendigen Offenheit und Sensibilität gehandelt worden ist, entschuldigt weder heute noch im Blick auf frühere Jahre irgendjemanden. Leider ist das Thema, auch „unter uns“, innerhalb christlicher Gemeinden (Versammlungen) aktuell. Es hat keinen Sinn, mit dem Finger auf andere zu zeigen, wenn es im eigenen Umfeld brennt, im Allgemeinen nicht und in diesem besonderen Fall erst recht nicht.
Es könnte aber sein, dass wir in der Vergangenheit überzeugt waren, mit diesem Thema (praktisch) nichts zu tun zu haben. Das ist eine grundsätzliche Fehleinschätzung. Es gibt nichts, wirklich gar nichts, was nicht auch erlöste Menschen tun können. Denn sie haben das Fleisch, die alte Natur, bis an ihr Lebensende noch an sich. Wir müssen uns über manches moralisch Böse und auch über Vorkommen von Kindesmissbrauch schämen und ein aufrichtiges Bekenntnis ablegen. Eine Mauer des Schweigens hilft nicht weiter.
Wer noch glaubt, dass praktizierende Christen zu solchen Dingen nicht fähig seien, muss die Fakten zur Kenntnis nehmen. Auch unter ernsthaften Christen gibt es inzwischen eine ganze Reihe von Fällen, wo kleine Kinder missbraucht worden sind. Darüber wird (hier auf der Erde) kein Buch geführt. Aber es scheint an der Zeit, auf dieses Problem unter Christen einmal deutlich hinzuweisen.
Statistiken gibt es nicht. Wer jedoch die Augen und Ohren offen hält, kommt an dem Eingeständnis nicht vorbei: Es gibt nichts, was es bei uns nicht gibt. Über die Dunkelziffer will man lieber nicht nachdenken.
Dieses Buch soll uns aufrütteln. Es soll mit dazu beitragen, dass wir uns selbst gegenüber ehrlich sind. Wir müssen bereit sein zuzugeben, dass wir unserem hohen Bekenntnis, Jünger des Herrn Jesus Christus zu sein, Glieder des einen Leibes der Versammlung (Gemeinde) Gottes, oftmals nicht in passender Weise in unserem praktischen Glaubensleben Rechnung getragen haben. Ein Bekenntnis allein aber ist zu wenig. Wir müssen uns neu auf diese eine, einzigartige Person ausrichten: den Herrn Jesus Christus. Und wir wollen mithelfen, dass kindliches Vertrauen gepflegt und nicht zerstört wird.
Vielleicht wendet jemand ein: Der Apostel Paulus schreibt aber doch an die Epheser: „Hurerei aber und alle Unreinheit oder Habsucht werde nicht einmal unter euch genannt, wie es Heiligen geziemt; auch Schändlichkeit und albernes Geschwätz oder Witzelei, die sich nicht geziemen, sondern vielmehr Danksagung“ (Epheser 5,3.4). Das ist ein wichtiger Grundsatz. Er bedeutet aber nicht, dass man ein solches Thema, durch Schweigen unterdrückt – Paulus selbst ist mit seinem Handeln Vorbild.
Der Apostel belehrt uns vielmehr, dass wir eben nicht leichtfertig diese Dinge, deren Tun böse ist, in den Mund nehmen, als ob nur die Tat böse wäre. Auch ein belustigendes Sprechen zum Beispiel in witzelnder Weise, verunreinigt den Christen. Das wollen wir auch in diesem Buch nicht tun. Allerdings ist wirklich zu bedenken, dass die Beschäftigung mit Bösem nicht ohne Folgen für einen Christen bleibt. Wie leicht verunreinigen wir uns dadurch. Daher ist es wichtig, vor und nach der Beschäftigung mit einem solchen Thema das Wort Gottes zur Hand zu nehmen, damit der Geist Gottes seine reinigende und heiligende Tätigkeit an unseren Seelen vornehmen kann.
Kein vollständiges Nachschlagewerk
Dieses Buch kann viele Punkte nur kurz anreißen. Es erhebt nicht den Anspruch, ein vollständiges Nachschlagewerk zum Thema Kindesmissbrauch zu sein. Dazu gibt es schon viele andere Bücher. Es soll für den christlichen Bereich von Versammlungen und Gemeinden eine Hilfe sein, damit dieses traurige und inakzeptable Fehlverhalten nicht einfach übergangen wird. Es ist zu wichtig – und leider auch existent.
Wenn erreicht werden könnte, dass wir durch das Lesen derartiger Hinweise sensibel werden, in unserem Umfeld Opfern (und auch Tätern) eine Hilfe zu sein, wäre viel gewonnen. Besonders aber ist dieses Buch den Opfern gewidmet, damit sie eine neue Lebensperspektive erhalten und die Traumata überwinden, die bei ihnen durch sexuellen Missbrauch bewirkt worden sind.
Zu guter Letzt noch ein wichtiger Hinweis an solche, die selbst sexuell missbraucht worden sind. Es besteht beim Lesen dieses Buches die Gefahr des Triggerns, also dass Dinge ausgelöst werden, die man alleine nicht in den Griff bekommt. Opfer sollten daher mit aller Vorsicht an das Lesen dieser Seiten herangehen. Denn es wird zuweilen auch sehr konkret. Das heißt, dass Eltern dieses Buch auch unter keinen Umständen ihren kleinen Kindern in die Hand geben können. Dazu ist das Thema zu brutal.
Schon an dieser Stelle sei auf ein Angebot von Christen im Internet hingewiesen. Auf der Homepage www.bibelseelsorge.de wird zwar nicht nur das Thema „Kindesmissbrauch“ behandelt – aber auch dieses. Und über die Kontaktseite ist es möglich, auch mit Seelsorgern Kontakt aufzunehmen, die sich für dich gerne Zeit nehmen, falls du selbst Opfer bist oder falls du Fragen zu diesem Thema hast, weil du vielleicht Angst hast im Blick auf einen Freund oder eine Freundin. Auch für Täter steht diese Kontaktmöglichkeit offen.
Fußnoten
- 1 Entnommen aus: Gedichte, Bilder und Texte zur Heilung sexuellen Missbrauchs, herausgegeben von Joachim Kix, S. 86.