Botschafter des Heils in Christo 1882
Manasse
Wenn wir die Geschichte Manasses, des Königs von Juda, lesen, so muss unser Herz mit Lob und Dank gegen Gott erfüllt werden. Denn wir sehen in derselben eine treffende Erfüllung der Worte des Apostels: „Wo aber die Sünde überströmend geworden ist, ist die Gnade noch überreichlicher geworden“ (Röm 5,20). Doch während wir auf der einen Seite die Gnade des Herrn bewundern und anbeten müssen, werden wir andererseits erschrecken bei dem Anblick solch trauriger Sünden, begangen durch eine Person, welche die besten Umgebungen, die größten Vorrechte, das klarste Licht und deshalb die geringste Entschuldigung hatte. Wir lernen in Manasses Geschichte zwei Dinge. Zunächst, dass die besten Umgebungen und größten Vorrechte das Herz eines Menschen nicht verändern, und dann, dass die traurigsten Sünden nicht imstande sind, in dem Herzen Gottes einen Wechsel hervorzubringen oder den Ausfluss Seiner Gnade zu hindern. Mag der Mensch sein, was er will, mag er sich offenbaren in dem traurigsten Licht, dennoch bleibt Gott stets was Er ist: „Licht und Liebe“, „barmherzig und gnädig, langsam zum Zorn und groß an Güte“ (Ps 103,8) und „ein Gott der Vergebung“ (Neh 9,17). Alle diese Eigenschaften Gottes treten in der vor uns liegenden Geschichte hell ans Licht. Wir haben mit einem Wort ein alttestamentliches Gemälde von dem Herzen des Menschen und von dem Herzen Gottes.
Manasse hatte das Vorrecht, einen frommen Vater zu haben, von welchem die Schrift sagt: „Er tat, was recht war in den Augen des HERRN, nach allem, was sein Vater David getan hatte“ (2. Chr 29,2). Ohne Zweifel hatte Hiskia seinem jugendlichen Sohn oft von dem Gott Israels erzählt, der „ihn und die Bewohner Jerusalems von allen ihren Feinden gerettet und sie auf allen Seiten geleitet hatte“ (vgl. 2. Chr 32,22). Belehrt über die wahre Anbetung des HERRN, umgeben von den täglichen Ausübungen des Gottesdienstes, beeinflusst von einem frommen Vater, bewahrt und gesegnet mit dem bevorzugten Volk Gottes, so begann die Geschichte Manasses. Trotz alledem aber blieb sein Herz unberührt, „arglistig, mehr als alles, und verdorben“ (vgl. Jer 17,9). Die Gnade Gottes machte nicht den geringsten Eindruck auf ihn, und sobald er sich selbst überlassen war, verfiel er in die schrecklichsten und erniedrigendsten Sünden. Welch eine ernste Warnung!
Ach! Wie viele, vielleicht auch manche Leser dieser Zeilen, haben fromme, gottesfürchtige Eltern gehabt, während sie selbst bis heute noch in ihren Sünden weiterleben! Obwohl christlich auferzogen, sind sie bis heute noch Christus fremd geblieben. Obwohl unter das Gehör des Wortes Gottes gebracht und eingeladen, sich mit Gott versöhnen zu lassen, sind sie nie in Wahrheit zu Jesus gekommen. Umstrickt von den Banden Satans und der Welt, die Sünde und die Finsternis mehr liebend als das Licht, wandern sie gleichgültig und guter Dinge auf dem breiten Weg einher. Aber ach! Was wird ihr Ende sein? „Denn ihr Ende ist der Tod“ (vgl. Röm 6,21.23). Und dann? Das Gericht vor dem großen, weißen Thron. Und worin besteht dieses Gericht? In dem See, der mit Feuer und Schwefel brennt. Welch ein ernster, erschreckender Gedanke! O mein lieber, unbekehrter Leser, stehe einen Augenblick still und lass deinen Blick zurückschweifen über dein vergangenes Leben! Wie viele, ja unzählige Sünden und Vergehungen tauchen da vor deinem Geistesauge auf! Sie alle rufen dir mit Donnerstimme zu: „Verloren! Einem ewigen Gericht verfallen!“. Aber nicht nur das. Zahlreiche Gelegenheiten kommen in dein Gedächtnis zurück, wo Gott ernstlich mit dir geredet und an dein Herz angeklopft hat. Du erinnerst dich, wie da dein Gewissen beunruhigt war und dich verklagte, wie du es aber auf alle Weise einzuschläfern und seine Stimme zu betäuben suchtest, bis es wirklich nach und nach wieder ruhig wurde und dich nicht weiter belästigte. O, mein lieber Freund, wenn es heute wieder seine Stimme hören lässt, so suche dieselbe nicht wieder durch die Vergnügungen und Freuden dieser Welt zu ersticken. Denke daran, dass heute die Zeit der Annehmung (Ps 69,14) und der Tag des Heils ist (2. Kor 6,2) und dass Gottes Güte und Langmut einmal aufhören wird. Möchte diese Güte dich zur Buße leiten, so lange es noch Zeit ist und Gott dir Vergebung deiner Sünden schenken will!
Wie schon bemerkt, verübte Manasse, sobald sein Vater gestorben war, die schrecklichen Gräuel. Er erbaute Götzenaltäre, bückte sich vor allem Heer des Himmels, ließ seine Kinder durchs Feuer gehen, trieb Zauberei und Magie, bestellte Totenbeschwörer und Wahrsager und stellte ein geschnitztes Bild an der geweihten Stätte der Anbetung des Gottes Israels, in dem Tempel auf. Und um seinen Missetaten die Krone aufzusetzen, „vergoss Manasse auch sehr viel unschuldiges Blut, bis er Jerusalem damit füllte von einem Ende bis zum anderen“ (2. Kön 21,16). Welch eine entsetzliche Liste von Verbrechen: Götzendienst, Zauberei und Mord! Und nicht nur verunreinigte sich Manasse selbst mit allen diesen Dingen, sondern er verführte auch seine Untertanen zum Abfall von Gott und zu allen Schandtaten. „Aber Manasse verleitete Juda und die Bewohner von Jerusalem, mehr Böses zu tun als die Nationen, die der HERR vor den Kindern Israel vertilgt hatte“ (V. 9).
Wahrlich, ein trauriges, finsteres Gemälde! Und leider müssen wir sagen, dass die Geschichte Manasses gerade in unseren Tagen ein häufiges Gegenbild findet. Wie manches Kind christlicher Eltern wirft sich, nachdem es das Elternhaus verlassen hat, der Welt und der Sünde in die offenen Arme! Es hat nicht selten den Anschein, als ob es die Zeit, die es unter der sorgenden Leitung der Eltern und unter ihrem wachsamen Auge zugebracht hat, wieder einholen müsse. In die zahllosen Schlingen Satans fallend, führt es ein traurigeres Leben als selbst viele Kinder ungläubiger Eltern, die wenig oder nie von ihrem verderbten Zustand und der Notwendigkeit einer Errettung gehört haben. Da es stets Herz und Ohr vor der freundlichen Stimme Gottes verschlossen hat, so gibt Er es für eine Zeit dahin, um die Früchte des Weges der Sünde zu ernten. Ach! Welch eine furchtbare Verantwortlichkeit lädt ein solches Kind auf sich! Nicht nur erfüllt es das Elternherz mit der tiefsten Betrübnis und dem nagendsten Kummer, denn was könnte für das liebende Herz eines christlichen Vaters, einer christlichen Mutter, schmerzlicher sein, als ihr Kind auf der Bahn der Sünde unaufhaltsam einherschreiten zu sehen?, sondern es wendet auch dem Gott, dessen Liebe es von Jugend an so offenbar genossen hat, den Rücken und tritt diese Liebe mit Füßen. Welch einem schrecklichen Gericht eilt es entgegen, wenn es nicht umkehrt von seinen bösen Wegen! O, möchten diese Zeilen, wenn sie irgendeinem solchen abgeirrten Kind in die Hände fallen sollten, ein lauter Mahnruf für dasselbe sein, einmal still zu stehen auf dem Weg und zu sich selbst zu kommen, um, wie der verlorene Sohn, nach Erkenntnis seines traurigen Zustandes, mit wahrer Reue und aufrichtigem Bekenntnis zu dem Vater zurückzukehren, den es so tief betrübt und beleidigt hat. Wenn schon ein irdischer Vater bereit ist, den gebeugt heimkehrenden Sohn aufzunehmen, wie viel mehr ist es die Freude Gottes, jeden Sünder in Gnaden zu erretten, der mit zerknirschtem Herzen und den Worten auf seinen Lippen: „Ich habe gesündigt … ich bin nicht mehr würdig, dein Sohn zu heißen!“ (Lk 15,21) zu Ihm kommt. Es ist Freude im ganzen Himmel, Freude vor den Engeln Gottes über einen Sünder, der Buße tut (vgl. Lk 15,7.10).
Doch kehren wir zu unserer Geschichte zurück. Gott handelte in großer Gnade und Langmut mit Manasse. Er ließ nicht sogleich das Gericht über ihn kommen. Er redete in Freundlichkeit zu ihm und zu seinem Volk, um ihn auf diese Weise zur Besinnung zu bringen, „aber sie merkten nicht darauf“ (V. 10). Es ist bewundernswert, zu sehen, wie Gott sich mit dem schuldigen König und seinen bösen Gefährten in aller Geduld beschäftigt. Es ist nicht seine Freude, zu richten, Er ist langsam zum Zorn, aber stets bereit zu segnen (vgl. 4. Mo 14,18). Doch Manasse war entschlossen, auf seinem bösen Pfad zu beharren, und mit ihm das Volk. Sie verhärteten ihren Nacken, sie wollten nicht hören auf die freundliche Stimme des HERRN. „Und der HERR, der Gott ihrer Väter, sandte zu ihnen durch seine Boten, früh sich aufmachend und sendend; denn er erbarmte sich seines Volkes und seiner Wohnung. Aber sie verspotteten die Boten Gottes und verachteten seine Worte und verhöhnten seine Propheten, bis der Grimm des HERRN gegen sein Volk stieg, dass keine Heilung mehr war“ (2. Chr 36,15.16).
Gleichst du hierin dem gottlosen König und seinen Gesinnungsgenossen, mein lieber Leser? Ist Gott auch schon so mit dir beschäftigt gewesen? Hat er versucht, durch sein Wort dein Herz und Gewissen zu erreichen? Hat Er seine Boten an dich gesandt, um dich zur Umkehr aufzufordern und dir seine Überströmende Gnade vorzustellen? Sicher, Er hat es auf die eine oder andere Weise getan. Aber wie hast du dich dem gegenüber verhalten? Hast du auf seine Stimme gehorcht, oder hast du sie verächtlich von dir gewiesen? Hast du auf das Wort seiner Boten geachtet und es in dein Herz aufgenommen, oder hast du sie verspottet und ihre Warnungen lachend in den Wind geschlagen? Siehe, es ist die Liebe und die Güte Gottes, die dich zur Buße leiten will. Hüte dich, dass nicht sein Zorn über dich komme! Willst du nicht der Einladung Gottes folgen und dich vor seinem Wort beugen, so muss das Gericht dich ereilen. Und erinnere dich, dass es ein ewiges Gericht ist, umso schrecklicher für dich, weil du so lange Gelegenheit gehabt hast, ihm zu entfliehen.
Da Manasse nicht auf die Stimme des HERRN durch den Mund seiner Boten hören wollte, so musste Gott lauter reden. Gott will nicht den Tod des Sünders, sondern, dass er sich bekehre und lebe (vgl. Hes 18,23). Es ist der Wunsch und die Freude seines Herzens, zu segnen, und wer wird Ihn daran hindern? „Da ließ der HERR die Heerobersten des Königs von Assyrien über sie kommen; und sie nahmen Manasse gefangen und banden ihn mit ehernen Fesseln und führten ihn nach Babel“ (V. 11). Gott weiß das Gewissen zu erreichen. Er kann den Menschen zwingen zu hören, auch wenn er nicht will. Wahrlich, ein wunderbarer Gott ist unser Gott! „Doch in einer Weise redet Gott und in zweien, ohne dass man es beachtet … um den Menschen von seinem Tun abzuwenden … dass er seine Seele zurückhalte von der Grube, und sein Leben vom Rennen ins Geschoss. Auch wird er gezüchtigt mit Schmerzen auf seinem Lager … und seine Seele nähert sich der Grube, und sein Leben den Würgern“ (Hiob 33,14–22). Gott weiß einen jeden zu finden. Niemand ist vor Ihm verborgen. Welch ein tröstlicher Gedanke ist dies für das Herz solcher Eltern, deren Kinder sich auf den Weg der Sünde gewandt haben. Befinden sie sich auch außer ihrem Bereich, Gott kennt sie, und Er ist mächtig, auch das härteste Herz zu schmelzen und den stolzesten Sinn zu beugen.
In seiner Drangsal fängt Manasse an, seiner Sünden zu gedenken und sich an den Gott zu erinnern, den er verachtet und zum Zorn gereizt hat. Sein Gewissen erwacht und ruft ihm mit überwältigender Macht seine unzähligen Missetaten ins Gedächtnis zurück. Zugleich treten vor sein erleuchtetes Auge die Tage seiner frühesten Jugend, in denen er an der Seite eines gottesfürchtigen Vaters seine Knie vor dem einen wahren und lebendigen Gott gebeugt hat. Er bricht zusammen. Völlig zerknirscht fällt er nieder, und über seine Lippen strömt ein offenes Bekenntnis seiner großen Schuld. „Und als er bedrängt war, flehte er den HERRN, seinen Gott, an und demütigte sich sehr vor dem Gott seiner Väter und betete zu Ihm“ (V. 12). Alles ist jetzt verändert. Der einst so stolze und gottlose König tut Buße in Sack und Asche. Derselbe, der früher fremden Götzen Altäre gebaut und geopfert hatte, liegt jetzt im Staub vor dem Gott seiner Väter und „betet“. Wird Gott ihn erhören, ihn, der so lange Jahre seine Botschaften der Liebe verachtet und Ihn selbst auf die schrecklichste Weise verhöhnt hat? Wird Er nicht sagen: „In den guten Tagen hast du meiner vergessen und nicht auf meine Stimme hören wollen, und jetzt ernte, was du gesät hast?“ O Wunder der Gnade! Gott hört auf die Stimme des einstigen Verächters. „Und Er ließ sich von ihm erbitten und erhörte sein Flehen und brachte ihn nach Jerusalem in sein Königreich zurück“ (V. 13). Ja, Er ist „ein gnädiger und barmherziger Gott, langsam zum Zorn und groß an Güte, und der sich des Übels gereuen lässt“ (Jona 4,2). Jetzt erkannte Manasse, dass der HERR in Wahrheit Gott ist, und „er tat die Götter der Fremde weg und das Gleichnis aus dem Haus des HERRN und alle Altäre, die er auf dem Berg des Hauses des HERRN und in Jerusalem gebaut hatte; und er warf sie hinaus außerhalb der Stadt. Und er baute den Altar des HERRN wieder auf und opferte darauf Friedens- und Dankopfer; und er befahl Juda, dass sie dem HERRN, dem Gott Israels, dienen sollten“ (V. 15.16).
Welch eine völlige und gesegnete Veränderung! Nicht nur konnte Manasse jetzt selbst Dank- und Friedensopfer darbringen, sondern auch andere auffordern diesem großen und gnädigen Gott zu dienen. Gott hatte sein Ziel bei ihm erreicht. Manasse hatte Ihn und sich kennen gelernt, wenn auch auf schweren Wegen. Sein ganzes Wesen war jetzt verändert. Er konnte „vor den Menschen singen und sagen: Ich hatte gesündigt und die Geradheit verkehrt, und es wurde mir nicht vergolten; er hat meine Seele erlöst, dass sie nicht in die Grube fahre, und mein Leben erfreut sich des Lichts“ (Hiob 33,27.28). Und es war ihm genug, die vergangenen Tage in Sünde und Schande gelebt zu haben. Es gab jetzt nur noch einen Gegenstand für ihn, und das war der Gott Israels und Seine wunderbare Güte. Ihm zu dienen und Ihn zu loben, das bildete fortan seine erste Beschäftigung. – Möchte es auch die unsrige sein, so viele wir den Herrn kennen!