Vorträge zum Matthäusevangelium
Kapitel 8
So mancher Christ, der die Bibel angenommen hat und als das Wort des lebendigen Gottes schätzt, wird einigermaßen verwirrt, wenn er sich ausführlich mit den Evangelien beschäftigt, die den Dienst des Herrn berichten. Das kann ich gut verstehen. Ein Gelegenheitsleser mag keine Schwierigkeiten haben. Nichtsdestoweniger ist es durchaus verständlich, daß jemand, der die verschiedenen biblischen Berichte vergleicht, ziemlich ratlos vor ihnen steht. Damit will ich nicht sagen, daß sein Glaube Schaden nimmt, denn dazu hat er zu viel Vertrauen auf das Wort Gottes. Gleichwohl entdeckt er beim Vergleich der Evangelien, daß sie beachtlich voneinander abweichen in der Art, wie sie dieselben Ereignisse berichten. Er findet bei Matthäus eine andere Anordnung als bei Markus - und bei Lukas noch eine dritte; und dennoch ist er sicher, daß alle richtig sind. Er vermag jedoch nicht zu erkennen, wieso diese scheinbaren Widersprüche auftreten können, wenn doch der Heilige Geist die verschiedenen Evangelisten inspiriert hat, um eine vollkommene Geschichte von Christus zu schreiben. Dadurch wird er gezwungen, auf Gott zu vertrauen und nachzuforschen, ob nicht Grundsätze vorliegen, die diese Unterschiede in der Reihenfolge der Ereignisse und der Art der Darstellung gleicher Begebenheiten erklären. Sobald er sich so den Evangelien nähert, erhält seine Seele Licht. Er beginnt zu erkennen, daß der Heilige Geist uns nicht einfach ein Zeugnis vieler Zeugen überliefert hat. Die einzelnen Schreiber stimmen natürlich im Grundsätzlichen überein. Andererseits teilte der Heilige Geist jedem von ihnen eine besondere Aufgabe zu, sodaß ihre Schriften den Herrn in verschiedenartigen und unterschiedlichen Charakteren darstellen. Uns bleibt nun zu untersuchen, welche Gesichtspunkte das waren und wie sie diese Abweichungen in der Darstellung und die Unterschiede, die wir zweifellos finden, begründen.
Ich habe früher schon gesagt, daß der Heilige Geist im Matthäusevangelium den Herrn Jesus in Seinen Beziehungen zu Israel schildert und daß dies der Grund für die Art Seines Geschlechtsregisters in Kapitel 1 ist, welches auffallend von dem im Lukasevangelium abweicht. Es ist insbesondere Sein Geschlechtsverzeichnis als Messias, welches natürlich für Israel wichtig und interessant ist, da es einen Herrscher aus dem Samen Davids erwartet. Gleichzeitig sorgte der Heilige Geist dafür, die engen, weltlichen Gedanken der Juden zu berichtigen, und zeigt, daß es sich bei Ihm, der dem Fleisch nach aus dem Samen Israels kam, um den Herr-Gott handelt. Als Emmanuel und Jehova bestand Sein spezielles Werk als göttliche Person darin, Sein Volk von ihren Sünden zu erretten. Andererseits wollte Er weit über den Bereich Seines Volkes hinausgehen und die Nationen nicht weniger segnen als die Juden. Dennoch hätten letztere nach den Verheißungen ihrer Propheten von Christus die Errettung von ihren Sünden erwarten sollen. Statt dessen erhofften sie, unter der Herrschaft des Messias als Volk über die Völker erhöht zu werden. So würden sie zum Haupt und die Nationen zum Schwanz werden. (vgl. 5. Mo 28,13!). Alles dieses hatten sie richtigerweise aus dem prophetischen Wort gefolgert; aber es gab dort noch viel mehr, das sie nicht erkannt hatten. Der Messias sollte ihnen nicht nur natürliche, sondern auch geistliche Segnungen bringen. Daher mußten alle gegenwärtigen Hoffnungen vor der Frage der Sünde - ja, ihrer Sünden - zurücktreten. Jesus nahm Seine Verwerfung ihrerseits an und bewirkte für sie am Kreuz gerade jene Erlösung, an die sie so wenig dachten.
Wie gut paßt es auch zum Matthäusevangelium, daß es uns eine lange Rede wie die Bergpredigt ohne Unterbrechungen mitteilt. Sie ist uns als zusammenhängende Ansprache unseres Herrn überliefert. Alle Unterbrechungen, falls es welche gab, sind sorgfältig weggelassen, als sollte Er auf dem Berg ausdrücklich Mose, der ein irdisches Reich einführte, gegenübergestellt werden. Da Er seinerzeit den himmlischen König offenbarte, stand Er im Widerspruch zu allem, was die Juden erwarteten.
Der Heilige Geist fährt im Matthäusevangelium damit fort, die Ereignisse im Leben unseres Herrn unter diesem großen Gedanken zu berichten. Seine Aufgabe besteht darin, Jesus als den göttlichen Messias an Israel, die Verwerfung Seiner Person in diesem Charakter und die Konsequenzen von Seiten Gottes darzustellen. Wir werden sehen, ob die Geschehnisse des 8. Kapitels nicht zu dieser besonderen Blickrichtung auf unseren Herrn beitragen. Letztere nämlich könnte unmöglich in gleicher Weise dem Markusevangelium entnommen werden. Matthäus mißachtet hier die rein geschichtliche Reihenfolge. Ereignisse werden nebeneinandergestellt, die Monate auseinander lagen. Es ist keineswegs wie bei Markus die Absicht des Heiligen Geistes, durch Matthäus oder Lukas die Begebenheiten in der Reihenfolge, in der sie geschahen, mitzuteilen. Wenn wir das Markusevangelium sorgfältig untersuchen, finden wir Zeitangaben und Ausdrücke wie „alsbald“ usw. an Stellen, wo die anderen Evangelisten sich unbestimmt ausdrücken. Die Redewendungen eines schnellen Übergangs oder einer unmittelbaren Folge binden natürlich die verschiedenen Geschehnisse, die so nebeneinander gestellt sind, aneinander. Bei Matthäus wird darauf überhaupt kein Wert gelegt; und von allen Kapiteln des Evangeliums gibt es vielleicht keines, in dem so gänzlich die Folge der Zeitpunkte mißachtet wird, wie in dem vor uns liegenden. Wenn dem so ist - worauf ist es zurückzuführen? Wir mögen mit Ehrfurcht fragen: Warum setzt sich der Heilige Geist im Matthäusevangelium über die Reihenfolge hinweg, in der die berichteten Tatsachen aufeinander folgten? Lag es daran, daß Matthäus die Zeitpunkte nicht kannte? Vorausgesetzt, er hätte einfach zum eigenen Vergnügen einen geschichtlichen Bericht geschrieben, wäre es ihm dann nicht möglich gewesen, die Zeitpunkte der Ereignisse mit ausreichender Sicherheit in Erfahrung zu bringen? Und falls er als Erster seinen Bericht veröffentlicht hat, wäre es dann für die anderen Evangelisten nicht das Einfachste gewesen, ihm zu folgen und ihre Darstellungen in Übereinstimmung mit ihm abzufassen?
Das Gegenteil ist jedoch der Fall. Markus folgt einer anderen Linie und Lukas einer dritten, während das Johannesevangelium seinen eigenen Charakter trägt. Angesichts dieser Sachlage stehen wir vor zwei Erklärungsmöglichkeiten: Entweder waren die Evangelisten die nachlässigsten Schreiber, die jemals Berichte von ihrem Lehrer geschrieben haben, und lieferten unterschiedliche Schilderungen, als wollten sie den Leser verwirren, oder der Heilige Geist stellt die Tatsachen verschieden dar, um die Herrlichkeit Christi weit mehr zu veranschaulichen als durch eine vierfache Wiederholung. Das Letztere halte ich für richtig. Jede andere Erklärung wäre unvernünftig und unehrerbietig. Denn selbst unter der Annahme, die Apostel hätten abweichende Berichte geschrieben und Fehler gemacht, wäre es für sie ein Leichtes gewesen, sich wechselseitig zu korrigieren. Der Grund, warum solche Berichtigungen nicht zu finden sind, liegt nicht am menschlichen Irrtum oder Mangel, sondern an der göttlichen Vollkommenheit. Dem Heiligen Geist gefiel es, diesen Evangelien ihre besondere Form zu geben, um in eindrücklichster Weise die Person, die Mission und die verschiedenen Beziehungen Christi herauszustellen. Das Markusevangelium weist nach, daß die Heilung des Aussätzigen zu einer anderen Zeit stattfand, als wir aus unserem Kapitel entnehmen würden. Tatsächlich geschah sie lange vor der Bergpredigt. In Markus 1 wird der Herr beschrieben, wie Er in ganz Galiläa in den Synagogen predigte und Dämonen austrieb. „Und es kommt ein Aussätziger zu ihm, bittet ihn und kniet vor ihm nieder und spricht zu ihm: Wenn du willst, kannst du mich reinigen.“ (Markus 1,40-45).
Kein vernünftiger Mensch wird bezweifeln, daß dies dasselbe Ereignis ist wie in Matthäus 8. Wenn wir jedoch das nächste Kapitel bei Markus lesen, was wird dort als erstes erwähnt? „Und nach etlichen Tagen ging er wiederum hinein nach Kapernaum, und es wurde ruchbar, daß er im Hause sei . . . Und sie kommen zu ihm und bringen einen Gelähmten, von Vieren getragen“ (Markus 2,1 u. 3). Wir lesen hier eindeutig von der Heilung des Gelähmten, die Matthäus erst im 9. Kapitel berichtet, und zwar nach dem Sturm, den Markus in Kapitel 4 beschreibt, und der Befreiung des Besessenen, die wir in Markus 5 finden. Offensichtlich ist einer der beiden Evangelisten von der geschichtlichen Reihenfolge abgewichen. Wegen der genauen Zeitangaben kann es nicht Markus sein; folglich ist es Matthäus. In Markus 3 sehen wir unseren Herrn, wie Er auf den Berg steigt und Seine Jünger zu sich ruft. Wenn Markus von der Bergpredigt geschrieben hätte, müßten wir zeitlich gesehen an dieser Stelle auf dieselbe stoßen. Letztere wurde also offensichtlich eine beträchtliche Zeit nach dem Ereignis von Matthäus 8,2-4 gehalten. Markus überliefert uns diese Predigt nicht, weil sein großes Thema der Evangeliumsdienst und die kennzeichnenden Werke Christi beinhaltet. Darum werden die lehrmäßigen Ausführungen unseres Herrn weggelassen. Markus erwähnt nur jene kurzen Erklärungen Jesu, die Seine Handlungen verdeutlichten.
Das, was ich gesagt habe, wird wahrscheinlich noch klarer, wenn wir die wirkliche Reihenfolge nach Markus 1 betrachten. In Vers 16 werden Simon und Andreas berufen, in Vers 19 Jakobus und Johannes. Als sie nach Kapernaum kamen, ging Er „alsbald“ am Sabbat in die Synagoge und lehrte. Dort treffen wir auf den Menschen mit einem unreinen Geist. Dieses Ereignis fand kurze Zeit nach der endgültigen Berufung von Andreas, Simon, Jakobus und Johannes statt. Der unreine Geist wurde ausgetrieben. „Und alsbald ging das Gerücht von ihm aus in die ganze Umgegend von Galiläa. Und alsbald gingen sie aus der Synagoge und kamen in das Haus Simons und Andreas', mit Jakobus und Johannes. Die Schwiegermutter Simons aber lag fieberkrank danieder; und alsbald sagen sie ihm von Ihr.“ (Markus 1,28-30). Also erhalten wir die feste Gewißheit aus Gottes eigenem Wort, daß die Heilung von Petrus' Schwiegermutter kurze Zeit nach der Berufung von Andreas und Simon und erheblich vor der Heilung des Aussätzigen stattfand.
Wenn wir mit dieser Einsicht zum achten Kapitel im Matthäusevangelium zurückkehren, erkennen wir die Wichtigkeit unserer Ausführungen; denn von der Heilung der Schwiegermutter des Petrus erfahren wir erst in der Mitte des Kapitels. Zuerst wird die Reinigung des Aussätzigen, dann die Heilung von des Hauptmanns Knecht und zuletzt die der Schwiegermutter beschrieben. Dagegen wissen wir durch Markus mit Gewißheit, daß letztere lange vor dem Aussätzigen geheilt wurde. Wenn wir noch einen Augenblick bei Markus verweilen, finden wir, daß an demselben Sabbatabend nach der Heilung der Schwiegermutter, sie alle Leidenden und Besessenen zu ihm brachten. „Und die ganze Stadt war an der Tür versammelt. Und er heilte viele, die an mancherlei Krankheiten leidend waren; und er trieb viele Dämonen aus . . . Und frühmorgens, als es noch sehr dunkel war, stand er auf und ging hinaus und ging hin an einen öden Ort und betete daselbst.“ (Markus 1,32-35). Das ist offensichtlich dieselbe Szene, auf die in Matthäus 8,16-17 angespielt wird. Das Hinausgehen des Herrn an einen öden Ort, um zu beten, wird hier nicht erwähnt. Es fand jedoch zu dieser Zeit statt und müßte nach Vers 17 angeführt werden. Danach erfahren wir bei Markus, wie Er durch Galiläa zog, in den Synagogen predigte und Dämonen austrieb. Nach all diesem heilte unser Herr den Aussätzigen.
Ich entnehme diesen Berichten, daß wir Markus als den Zeugen für die zeitliche Reihenfolge ansehen müssen, weil er uns den genauen Tag angibt, an denen die Ereignisse geschahen. Wenn ich dann zu Matthäus zurückkehre - finde ich irgendwelche Hinweise zum Zeitpunkt der Begebenheiten? Nein, kein Wort! Es wird einfach gesagt: „Als er aber von dem Berge herabgestiegen war, folgten ihm große Volksmengen.“ (V. 1). Hinterher lesen wir von der Heilung des Aussätzigen. Nichts weist darauf hin, daß der Aussätzige gerade zu jener Zeit kam. Es wird einfach gesagt: „Und siehe, ein Aussätziger kam herzu“ - eine alt-testamentliche Ausdrucksform. Ob der Aussätzige vor oder nach dem Herabsteigen des Herrn geheilt wurde, wird uns nicht berichtet. Aus dem Markusevangelium dürfen wir folgern, daß die Bergpredigt viel später gehalten wurde und daß die Heilung der Schwiegermutter vor der Reinigung des Aussätzigen stattfand.
Wir mögen nun fragen: Warum paßt es nicht zum Matthäusevangelium, zuerst von der Heilung der Schwiegermutter, danach von der Reinigung des Aussätzigen und zuletzt vom Knecht des Hauptmanns zu berichten? Das wäre der Zeit nach die richtige Reihenfolge. Der Hauptmann kam erst nach der Bergpredigt, als Christus wieder in Kapernaum weilte. Der Aussätzige war schon beträchtliche Zeit vorher geheilt worden und die Schwiegermutter des Petrus noch viel früher. Welche große Wahrheit soll durch die Anordnung der Ereignisse im Matthäusevangelium gelehrt werden? Der Herr begegnete einem Aussätzigen. Wir wissen wie ekelhaft Aussatz ist. Bekanntermaßen war er nicht nur anstößig, sondern auch hoffnungslos unheilbar, soweit es um menschliche Mittel ging. Ich gebe zu: In 3. Mose 14 lesen wir von Zeremonien für die Reinigung eines Aussätzigen. Aber wer konnte ein Verfahren zur Heilung eines Aussätzigen beschreiben? Wer konnte diese Krankheit wegnehmen, nachdem sie einmal einen Menschen befallen hatte? Lukas, der „geliebte Arzt“ (Kolosser 4,14), merkt an, daß der Mann „voll Aussatz“ war. (Lukas 5,12). Die anderen Evangelisten sprechen einfach nur von einem Aussätzigen. Das genügte schon. Bei den Juden ging es nur um die Frage, ob jemand aussätzig war oder nicht. Lag Aussatz vor, durften sie mit einem solchen Menschen nichts mehr zu tun haben, bevor er geheilt und gereinigt war. Der Geist Gottes benutzt den Aussatz als ein Symbol der Sünde mit all ihren ekelhaften Folgen. Lahmheit spricht von Kraftlosigkeit. Beide Krankheiten versinnbildlichen einen Sünder. Er ist ohne Kraft und unrein in den Augen Gottes.
Jesus heilte den Aussätzigen. Das offenbarte sofort die Macht Jehovas in Jesus auf der Erde. Doch die Heilung enthüllte noch mehr. Wir erkennen nicht nur Seine Macht, sondern auch Seine Gnade, Seine Liebe und die Bereitwilligkeit, alle Seine Macht zugunsten Seines Volkes zu benutzen; denn das ganze Volk Israel war wie dieser Aussätzige. Der Prophet Jesaja hatte es schon vor langer Zeit gesagt; und diese Generation war keineswegs besser. Daher wiederholt der Herr den Urteilsspruch aus dem Buch des Propheten: „Mache das Herz dieses Volkes fett, und mache seine Ohren schwer“, usw. (Jesaja 6,10; vergl. Matthäus 13,15). Dieser Aussätzige war ein Bild von dem sittlichen Zustand Israels in der Gegenwart des Messias. Doch seien es wenige oder viele - mögen sie sich in ihrer ganzen Abscheulichkeit vor den Messias stellen! Und was würde der Messias mit ihnen tun? Er war da. Er hatte die Macht. Aber der Aussätzige war sich Seines guten Willens nicht sicher. „Herr“, sagte er, „wenn du willst, kannst du mich reinigen.“ (V. 2). Wir sollten uns an die Verzweiflung des Königs Israels in den Tagen Elisas erinnern, als der König von Syrien Naaman zu ihm sandte, um dessen Aussatz wegzunehmen! Als er den Brief gelesen hatte, „zerriß er seine Kleider und sprach: Bin ich Gott, um zu töten und lebendig zu machen, daß dieser zu mir sendet, einen Mann von seinem Aussatz zu heilen?“ (2. Könige 5,7). Das konnte nur Gott. Jeder Jude wußte es. Und dies möchte der Heilige Geist uns zeigen.
Wir sehen also einen Beweis, daß Jesus zwar ein Mensch war, aber doch Jehova Selbst, der Sein Volk von ihren Sünden erretten konnte. Gleichzeitig beginnt jetzt Seine Darstellung an Israel in den verschiedenen, geschilderten Beispielen. Der Heilige Geist gibt nicht länger einen allgemeinen und geschichtlichen Abriß über Sein Wirken wie in Kapitel 4. Statt dessen stellt Er besondere Ereignisse vor, welche die Beziehungen des Herrn zu Israel und die sichtbaren Folgen jener Begebenheiten veranschaulichen. Der Aussätzige ist der erste Fall, in dem der Geist Gottes sozusagen ein Mikroskop anwendet, damit wir genau erkennen, wie der Herr sich Israel vorstellt. Wir erfahren auch dessen wahren Zustand und welchen Platz es hätte einnehmen sollen. Sofort, nachdem der Aussätzige des Herrn Macht anerkannt und die Wahrheit über Seine Person mit den Worten: „Herr, wenn du willst, kannst du mich reinigen“ bekannt hatte, findet er Erhörung. Wenn es ausschließlich um den Willen des Herrn und Seine Zuneigungen geht, erhält der Bittende sogleich eine Antwort der Liebe und Macht. „Ich will; sei gereinigt! Und alsbald wurde sein Aussatz gereinigt.“ (V. 3). Er streckte Seine Hand aus und rührte ihn an. Das offenbarte nicht nur Gott, sondern auch Gott, geoffenbart im Fleisch. Er hatte volles Verständnis für die Angst des Aussätzigen; und doch erwies Er sich als weit über dem Gesetz stehend. Seine Berührung war die Jehovas. Er war Gott. Das Gesetz vermochte einzig und allein den Aussätzigen fern zu halten. Wenn aber Gott ein Gesetz gibt, steht Er in Gnade über dem Gesetz, das Er gegeben hat. Das Herz dieses Aussätzigen zitterte, weil er fürchtete, daß der gesegnete Herr ihn vielleicht nicht segnen wollte. Dieser streckte jedoch Seine Hand aus und berührte ihn. Niemand anderes konnte so handeln; niemand sonst hätte es getan. Die Berührung vermochte den Herrn nicht zu verunreinigen; im Gegenteil, sie verbannte die Unreinigkeit des Aussätzigen. Er wurde alsbald gereinigt.
Jesus sprach dann zu ihm: „Siehe, sage es niemand; sondern gehe hin, zeige dich dem Priester, und bringe die Gabe dar, die Moses angeordnet hat, ihnen zum Zeugnis.“ (V. 4). Der Gereinigte sollte keinesfalls bekannt machen, wer Jesus war. Gott wollte durch Seine Werke reden. Der Herr bestimmte: „Siehe, sage es niemand; sondern gehe hin, zeige dich dem Priester“ usw. Nichts könnte gesegneter sein. Die Zeit war noch nicht gekommen, um das Gesetz beiseite zu setzen. Jesus wartete noch. Bevor das Gesetz rechtmäßigerweise beiseite gesetzt werden konnte, mußte zuerst das Kreuz eingeführt werden. Wir sind durch den Tod und die Auferstehung Jesu vom Gesetz befreit worden. Das ist die große Lehre des Römerbriefs. Wir sind dem Gesetz gestorben (natürlich in Jesu Tod!), „um eines anderen zu werden, des aus den Toten Auferweckten, auf daß wir Gott Frucht brächten.“ (Römer 7,4). Das Gesetz wurde bis zur Auferweckung Christi sorgfältig bewahrt. Nach diesem Ereignis traten die Heiligen in eine neue Beziehung. Sie gehören jetzt zum Herrn, der aus den Toten auferstanden ist.
Hier sehen wir also, wie eifrig die Anrechte des Gesetzes Gottes aufrecht erhalten werden; und so war es immer bis zum Kreuz. Darum sagte der Herr: „Zeige dich dem Priester!“ Ein weiterer Gesichtspunkt ist wichtig: Hätte der Mann, anstatt direkt zum Priester zu gehen, jedem Begegnenden auf dem Weg von seiner Reinigung berichtet, wäre das für den großen Feind wahrscheinlich ein wirksames Mittel geworden, um das Werk falsch darzustellen und das Wunder zu leugnen. Der Teufel konnte es dann so hinstellen, als sei der Gereinigte gar nicht der Mann, der den Aussatz hatte. Ach, das Menschenherz hatte natürlich nicht den geringsten Wunsch, die Wundertat Jesu zu verbergen! Doch der Herr sprach: „Zeige dich dem Priester!“ Warum? Der Priester selbst sollte der glaubwürdige Zeuge sein, daß Jesus wirklich Jehova war. Er, der wußte, daß der Mann früher aussätzig war, denn er hatte ihn für unrein erklärt und hinausgetan, sollte ihn als geheilt wiedersehen. Wer hatte das Werk getan? Nur Gott konnte einen Aussätzigen heilen. Also war Jesus Gott. Jesus war Jehova. Der Gott Israels befand sich im Land. Der Mund des Priesters würde gezwungen sein, die Herrlichkeit der Person Christi zu bekennen. „Bringe die Gabe dar, die Moses angeordnet hat, ihnen zum Zeugnis!“ Wann wurde jemals jene Gabe dargebracht? Der Mensch hatte nicht die Kraft, einen Aussätzigen zu heilen, darum konnte er auch keine Gabe darbringen. So hatte sich Jesus den Verpflichtungen des Gesetzes gebeugt und doch das ausgeführt, was das Gesetz nicht tun konnte, weil es durch das Fleisch kraftlos war. Aber hier war eine göttliche Person. Gott hatte Seinen Sohn in Gleichgestalt des Fleisches der Sünde gesandt. (Römer 8,3). Gott selbst - Gottes eigener Sohn - hatte zum Nachweis Seiner Würde dieses gewaltige Werk ausgeführt; und sogar der Priester mußte davon Zeugnis ablegen.
Danach folgt eine andere Wahrheit. Jesus betrat Kapernaum. Wann das geschah, wird nicht gesagt. Es gibt keine Verbindung zum Bericht vom Aussätzigen. Der Heilige Geist stellt beide Ereignisse hier zusammen, weil jetzt die Nichtjuden eingeführt werden. Den Juden erkennen wir in der Reinigung des Aussätzigen und in der Gabe, die Mose als Zeugnis an Israel geboten hatte. Nun kommt ein heidnischer Hauptmann wegen seines Knechtes zu Jesus. In dieser Begegnung hören wir eine ganz neue Art des Bekenntnisses über Seine Person. Außerdem wird der Patient nicht angerührt; es besteht keine Verbindung zu Christus nach dem Fleisch. Folglich wird uns veranschaulicht, in welcher Weise ein Nichtjude Christus kennt. Der Jude erwartete einen Messias, der Seine Hand ausstreckte - einen Heiland, der persönlich bei ihnen war - und göttliche Kraft mitbrachte, um Israel zu heilen, so wie die Bibel es sagt: „Ich bin Jehova, der dich heilt.“ (2. Mose 15,26). Er war wahrhaftig gekommen; aber sie erkannten Ihn nicht, weil sie Ihn nicht erkennen wollten. Der nächste Zeuge, der im Matthäusevangelium vorgestellt wird, ist der Hauptmann; denn Gott wollte den Nichtjuden Seine Gnade erzeigen, während die natürlichen Kinder Abrahams, Isaaks und Jakobs abgeschnitten wurden. (Römer 11). Sie wollten Ihm nicht huldigen wie der Aussätzige. Das Zeugnis des Priesters wurde mißachtet. Sie wiedersetzten sich mehr und mehr Gottes Anrechten. Er sagt sozusagen: „Wenn ihr Juden meinen Sohn nicht haben wollt, dann sende ich ein Zeugnis an die Heiden; und diese werden hören.“ Wenn die Juden Jesus verwarfen und Israel Den zurückwies, der sich als ihr Jehova-Gott bezeugt hatte, indem Er ihre Ungerechtigkeiten vergab und ihre Krankheiten heilte, was folgt darauf? Die Tür des Glaubens wird den Heiden aufgetan.
So wird die Begegnung mit dem Hauptmann nicht an der chronologisch richtigen Stelle beschrieben, sondern absichtlich hier eingefügt. Auch in den Einzelheiten des Berichts gibt es sehr bemerkenswerte Unterschiede. Wir hören nichts von der jüdischen Gesandtschaft des Hauptmanns. Diese fehlt im Matthäusevangelium, wird jedoch bei Lukas erwähnt. Matthäus berichtet alles, was das Gewissen eines Juden erreichen sollte, indem er andererseits das wegläßt, worauf er sich etwas einbilden könnte. Für die Nichtjuden war es nützlich, daß sie von der Gesandtschaft dieses frommen Mannes hörten. Er glich jenen Heiden, die mit ihrer Hand den Rockzipfel eines jüdischen Mannes ergreifen (Sacharja 8,23), indem er seine geringere Stellung unter derjenigen Israels willig annahm. Aber sein Glaube ging weit darüber hinaus; denn wir erfahren, daß er kam und in seiner Bitte an den Herrn in gesegnetster Weise seinen persönlichen Glauben zum Ausdruck brachte. Als Jesus zu ihm sagte: „Ich will kommen und ihn heilen“ (V. 7), wurde sofort sein Herz offenbar. Er antwortete: „Herr, ich bin nicht würdig, daß du unter mein Dach tretest.“ (V. 8). Wenn er, der Hauptmann, zu seinem Untergebenen sagen konnte: „Gehe hin, und er geht; und zu einem anderen: Komm, und er kommt; und zu meinem Knechte: Tue dieses, und er tut's“, dann brauchte auch der Herr nur „ein Wort“ zu sprechen, und sein Knecht war geheilt! Jesus hatte wirklich Autorität über alle Krankheiten. Mußte Er dabei notwendigerweise wie bei dem Aussätzigen Seine Hand auflegen? Keineswegs! Er brauchte nur ein Wort auszusprechen, und es geschah. Der Hauptmann setzte die große Wahrheit voraus, daß Jesus nicht nur der Messias, sondern auch Gott war, und darum die Fähigkeit besaß, zu heilen. Kurz gesagt: Er blickte auf den Herrn mit noch größerer Einsicht als der Aussätzige. Seine Gegenwart war nicht erforderlich, um Kraft auszuüben. Er hatte nur ein Wort auszusprechen, damit alles nach Seinem Willen geschah. Damit wird die Bedeutung des Wortes Gottes vorgestellt. Außerdem erblicken wir ein Bild von jener Zeit, in der Jesus nicht bei denen ist, welche Nutzen aus Seiner Gnade ziehen.
Das ist unsere gegenwärtige Stellung. Jesus ist abwesend und unsichtbar. Wir hören Sein Wort, nehmen es an - und sind errettet. Hier finden wir eine schöne Darstellung, in der uns die verschiedenen Handlungsweisen des Herrn mit dem Juden und dem Heiden vor Augen geführt werden. Doch wir erfahren außerdem, daß Israel den Segen zurückweisen würde und die Nationen zum Gegenstand der Barmherzigkeit werden sollten. Daher wird gesagt: „Wahrlich, ich sage euch, selbst nicht in Israel habe ich so großen Glauben gefunden. Ich sage euch aber, daß viele von Osten und Westen kommen und mit Abraham und Isaak und Jakob zu Tische liegen werden in dem Reiche der Himmel.“ (V. 10-11). Viele Nichtjuden werden also kommen. Doch das ist nicht alles. „Aber die Söhne des Reiches“ sollten „hinausgeworfen werden in die äußere Finsternis: da wird sein das Weinen und das Zähneknirschen.“ (V. 12). Damit spricht der Herr selbstverständlich von den natürlichen Kindern, jenen, die den Samen Abrahams ausmachen und nicht seine Kinder im eigentlichen Sinn sind - die Söhne des Reiches nach der Geburt, die keinen Glauben haben. Die Juden als Nation sollten verworfen werden. Nur eine kleine Anzahl von ihnen würde glauben. Die Masse Israels steht unter Verwerfung, bis die Vollzahl der Nationen eingegangen ist.
So erhalten wir hier ein wunderbares Bild von unserem Herrn, das gut mit dem Thema des Matthäusevangeliums übereinstimmt. Jesus erwies sich als der Jehova-Jesus mit der Bereitschaft, überall zu heilen, wo immer Er Glaube fand. Doch wo fand Er ihn? Der Aussätzige versinnbildlicht den gottesfürchtigen Überrest. Der Mehrheit des Volkes wird jedoch ihr Untergang angekündigt. Das geschah anläßlich eines Ereignisses, welches zeigte, wie die von Israel verworfene Gnade Gottes sich für ihren Strom einen ausgedehnteren Kanal bereiten würde. Die Heiden sollten an jenen Barmherzigkeiten teilnehmen, welche die Juden ablehnten. Genau diese Wahrheit wird in den beiden Berichten nebeneinandergestellt. Jesus gab Israel den Beweis, daß Er ein göttlicher Messias war. Wenn sie dieses Zeugnis verschmähten - die Nichtjuden würden hören.
Es folgt ein weiterer Gesichtspunkt von großer Bedeutung. Deshalb wird die Heilung der Schwiegermutter des Petrus erst nach diesen Ereignissen berichtet, obwohl Markus sie viel früher erwähnt. Letzterer überliefert uns die Geschichte des Dienstes, so wie er wirklich ablief. Warum handelte Matthäus nicht ebenso? Wie überall im Wort Gottes ist auch diesen Darstellungen göttliche Weisheit aufgeprägt. Ich glaube, die Erzählung ist durch Matthäus bis jetzt zurückgehalten worden, um Israel jeglichen Gedanken zu nehmen, als habe der Ausfluß der Barmherzigkeit Gottes an die Heiden Sein Herz von ihnen abgewandt. Wir lesen anderswo, daß das Mädchen nicht tot war, sondern „schlief“. (Matthäus 9,24). In diesem Zustand befindet sich Israel heute; und so wie der Herr damals das Kind auferweckte, genauso wird Er an einem zukünftigen Tag die schlafende Tochter Zion aufwecken. Wir Christen haben bessere Segnungen und eine erhabenere Herrlichkeit empfangen. Doch die Wahrheit des Wortes Gottes fordert, daß auch Israel gesegnet wird; denn wenn Gott Sein Wort an Israel bräche, wie könnte ich Seinem Wort an mich trauen? Gott hat jedoch ausdrücklich eine zukünftige abschließende Herrlichkeit Israels auf der Erde verheißen. Diese Wahrheiten dürfen wir nicht durcheinanderwerfen. Gott will nicht, daß wir hinsichtlich der Schriften sowie Seiner Kraft unwissend sind. (Matthäus 22,29).
Obwohl der Herr den Unglauben Israels kannte und vorhersagte und obwohl Er wußte, daß die Nationen jetzt durch den Glauben herzugebracht werden sollten, beweist das Ereignis vor uns, daß Sein Herz sich nicht von Israel losreißen kann. Zur Verdeutlichung berichtet der Heilige Geist in diesem Zusammenhang von der Heilung der Schwiegermutter. Der Herr tat, wie wir wohl folgern dürfen, jenes Wunder um Petrus' willen, auch wenn vielleicht noch andere Gründe eine zusätzliche Rolle gespielt haben mögen. Hier geht es um eine Beziehung des natürlichen Lebens; und wir erkennen, daß in einem Bild Israel vor uns steht. Petrus war der Apostel der Beschneidung. Daher bezweifle ich nicht, daß einer der Gründe, warum diese Begebenheit an dieser Stelle vorgestellt wird, darin besteht, allen zu zeigen, daß der Unglaube Israels letztlich das Volk dem Herzen des Herrn nicht entfremden konnte. Er war da, indem Er weiterhin alle ihre Krankheiten heilte, wie es den Volksmengen an der Tür bezeugt wurde (vergl. Markus 1,33), „damit erfüllt würde, was durch den Propheten Jesaias geredet ist, welcher spricht: „Er selbst nahm unsere Schwachheiten und trug unsere Krankheiten.““ (V. 17). Wenn der Herr ein Wunder wirkte, trat Er im Geist in die Umstände dessen ein, dem Er helfen wollte. Während das Wunder Seine göttliche Macht herausstellte, zeigte Er Sein göttliches Mitgefühl, indem Er im Geist in die Tiefen der Not eindrang, von der Er befreite.
Danach lesen wir, wie der Herr sich aufmachte, um zur anderen Seite des Sees zu fahren. Das wurde zum Anlaß, um den wahren Charakter und die Handlungsweise gewisser Männer und des Herrn selbst offenbar zu machen. Wann geschah das? Diese Frage stellt eine besondere Eigentümlichkeit des Matthäusevangeliums heraus, indem sich zeigt, wie erhaben der Heilige Geist hier über der Zeitenfolge steht. Wenn wir in das Lukasevangelium schauen, stellen wir fest, daß die angeführten Gespräche mit diesen Männern erst nach der Verklärung stattfanden. In Lukas 9 wird erzählt, daß der Herr nach der Verklärung Sein Angesicht feststellte, um nach Jerusalem zu gehen. (V. 51). Später lesen wir in den Versen 57-59: „Es geschah aber, als sie auf dem Wege dahinzogen, sprach einer zu ihm: Ich will dir nachfolgen, wohin irgend du gehst, Herr. Und Jesus sprach zu ihm: Die Füchse haben Höhlen und die Vögel des Himmels Nester; aber der Sohn des Menschen hat nicht, wo er sein Haupt hinlege. Er sprach aber zu einem anderen: Folge mir nach. Der aber sprach: Herr, erlaube mir zuvor, hinzugehen und meinen Vater zu begraben.“ Bin ich zu kühn, wenn ich denke, daß Matthäus und Lukas hier dieselben Ereignisse berichten? Es ist kaum denkbar, daß unser Herr dasselbe zweimal erlebt hat oder daß zwei verschiedene Personen sich so genau gleichen können. Beachten wir also die Bedeutung dieser Umstellung! Die Unterredungen fanden viel später statt, und doch werden sie von Matthäus hier angeführt. Warum? Weil sie verdeutlichen, daß in Israel kein Herz wirklich mit dem Herrn empfand, obwohl das Seinige trotz ihres Unglaubens mit Liebe gegen das Volk Gottes erfüllt war. In welchen Umständen befand Er sich damals? Er hatte nicht einmal einen Ort, wo Er Sein Haupt hinlegen konnte. Was für ein Zustand, daß der Messias Israels zu einem Menschen, der sich anbot, Ihm zu folgen, sagen mußte: „Die Füchse haben Höhlen und die Vögel des Himmels Nester, aber der Sohn des Menschen hat nicht, wo er das Haupt hinlege.“ (V. 20).
Hier benutzt Er zum ersten Mal in unserem Evangelium den Ausdruck „Sohn des Menschen“. Er spricht nicht länger mehr vom „Sohn Davids“. „Sohn des Menschen“ ist der Titel Christi in Seiner Verwerfung sowie in Seiner Verherrlichung. Es besteht keine Frage, welcher Gesichtspunkt hier gemeint ist. Sogar Sein eigenes Volk wollte Ihn nicht haben. Er ging weg zur anderen Seite; Er mußte es verlassen. Wie wir wissen, kennzeichnet dies die heutige Zeit. Jener Mann wollte Ihm folgen. Der Herr kannte alles, was in seinem Herzen war. Der Mann war nicht mehr als ein fleischlicher Jude, der daran dachte, in der Nachfolge Jesu einen guten Platz bei dem Messias zu gewinnen. Der Herr sagte ihm, daß Er ihm keinen Platz zu geben habe. Der Messias besaß nicht einmal ein Nest. Was konnte demnach das Fleisch, welches Christus nachfolgen wollte, finden? Der Herr deckte das Herz auf und erwies dessen völlige Verderbnis. Das war um so schrecklicher, weil der Herr selbst nicht den bescheidensten Ort Sein eigen nennen konnte im Gegensatz zu den unscheinbarsten und schädlichsten Tieren, die Er erschaffen hatte. Besaßen nicht die Füchse ihre Höhlen und die Vögel der Luft Nester? Der Sohn des Menschen indessen hatte nicht einmal einen Ort, wo Er Sein Haupt hinlegen konnte. Falls das Fleisch behauptet, dem Herrn nachfolgen zu wollen, findet es nur Tadel. Einem Jünger hingegen, der sagte: „Herr, erlaube mir, zuvor hinzugehen und meinen Vater zu begraben“, mußte der Herr antworten: „Folge mir nach, und laß die Toten ihre Toten begraben.“ (V. 21-22).
Beachte den Unterschied! Wo der Ruf Christi vernommen wird, folgt häufig heftiges Widerstreben. Man empfindet die Schwierigkeiten und Kämpfe seitens der menschlichen Natur. Dennoch lautet das Wort: „Folge mir nach!“ Wenn ein durch und durch fleischlicher Mensch vor dem Evangelium steht, ist sein Blick nicht in gleicher Weise rückwärts gerichtet; ihm fehlen diese Bedenken. Er hält alles für wunderschön; aber seine Seele wird nicht ergriffen. Sehr bald treten Umstände ein, die sein Herz wegziehen zu anderen Dingen. Zuletzt sinkt er wieder auf sein vorheriges ungeistliches Niveau hinab. Doch wie oft antwortet eine Seele, wenn sie vom Herrn die Worte hört: „Folge mir nach!“, schon vorher oder zur gleichen Zeit mit der Entschuldigung: „Herr, erlaube mir, zuvor hinzugehen und meinen Vater zu begraben“? Natürlich gibt es dieses Familienband mit gewichtigen Ansprüchen. Der Vater lag tot da; er mußte hingehen und ihn begraben. Wir können uns kaum eine unbedingtere Pflicht vorstellen. Die Menschen mögen vielleicht die Beerdigung eines Vaters für so dringend halten, daß alles davor zurücktreten muß. „Keineswegs“, sagt der Herr, die Verpflichtungen gegen Christus sind größer. Wenn der Ruf Christi gehört wird, während der eigene Vater tot daliegt und beerdigt werden muß, haben wir letzteren zu verlassen. Die Welt mag dann sagen: „Seht diesen Mann! Er spricht von Christus und liebt trotzdem seinen Vater nicht!“ Darauf sollten wir vorbereitet sein. Anderenfalls verstehen wir nicht den Wert des Christus, Den wir empfangen haben. Wir erfahren ständig, wie die natürlichen Bande und Pflichten in dieser Welt sich leicht als Hindernis zwischen Christus und die Seele schieben. Ständig drücken die Ansprüche der Natur auf uns. Seien es jedoch Vater oder Mutter, Bruder oder Schwester, Sohn oder Tochter - wenn wir den Ruf Christi klar gehört haben, sollten wir nicht sagen: „Erlaube mir zuvor, dies oder das zu tun!“ Jesu Worte lauten: „Folge mir nach, und laß die Toten ihre Toten begraben.“
Danach ging der Herr weg. Er betrat jetzt ein Schiff; und Seine Jünger folgten Ihm. Wir lesen dann die Beschreibung des Sturms und des Wunders, welches Jesus bewirkte, indem Er die Winde und den See beruhigte. Wann fand dieses Ereignis statt? Am Abend des Tages, an dem der Herr die sieben Gleichnisse von Matthäus 13 aussprach - vor der Verklärung, allerdings lange nach den anderen Begebenheiten, die in unserem Kapitel erwähnt werden. Markus bestätigt uns das ausdrücklich. In dem Kapitel, das von den Gleichnissen berichtet, fügt Markus hinzu: „Und in vielen solchen Gleichnissen redete er zu ihnen das Wort, wie sie es zu hören vermochten. Ohne Gleichnis aber redete er nicht zu ihnen; aber seinen Jüngern erklärte er alles besonders [nachdem sie in das Haus gegangen waren, wie Matthäus uns mitteilt]. Und an jenem Tage, als es Abend geworden war, spricht er zu ihnen: Laßt uns übersetzen an das jenseitige Ufer.“ (Markus 4,33-35). Darauf folgt jenes Ereignis, das wir jetzt betrachten. Auf der anderen Seite des Sees treffen sie den Mann mit der Legion Dämonen. Zweifellos ist das dieselbe Bootsfahrt, die letztlich mit der Befreiung des Besessenen endet. Sie wird jedoch in beiden Evangelien in unterschiedlichen Zusammenhängen dargestellt. Im Gegensatz zu den Heilungen im ersten Teil von Matthäus 8 geschahen die Begebenheiten im letzten beachtliche Zeit später. Auch die Gespräche unseres Herrn mit den beiden Männern, die hier geschildert werden, gehören zu einem ganzen anderen Abschnitt des Lebens und Dienstes Christi.
Was können wir hieraus schließen? Daß der Heilige Geist im Matthäusevangelium nur dann die geschichtliche Reihenfolge einhält, wenn sie mit dessen besonderem Thema übereinstimmt! Alles dieses beweist die vollkommene Weisheit Gottes; und niemand, außer Gott, hätte so gehandelt. Doch nur wenige Leser beachten oder verstehen heutzutage die göttliche Schreibweise! Zeigt dies nicht die Trägheit unserer Herzen, Sein Wort in voller Bedeutung anzunehmen? Was lehrt der Herr in diesen beiden Szenen? Er ist jetzt mit Seinen Jüngern allein. Der gottesfürchtige Teil Israels ist zusammen mit Ihm abgesondert und allen Gefahren ausgesetzt, welche die Feinde Gottes gegen sie hervorrufen können. Das bewirkt jedoch nur ein Eingreifen der Macht des Herrn zu Gunsten der Jünger. Alles muß Ihm gehorchen, wie wir aus eigener Erfahrung wissen. Wir durchleben keine Schwierigkeit, Versuchung oder leidvolle Lage, in denen wir scheinbar von der Gewalt Satans in dieser Welt überwunden werden, ohne zu wissen, daß die Macht des Herrn sich letztlich für uns offenbaren wird. Dazu müssen wir allerdings unser Auge auf Christus richten und uns an Ihn um Hilfe wenden. Als die Jünger sich vergegenwärtigten, wer mit ihnen im Boot saß, und schrieen: „Herr, rette uns!“, stand Er auf und bedrohte den Wind und den See. „Und es ward eine große Stille“, sodaß selbst die Schiffsleute sich verwunderten und sprachen: „Was für einer ist dieser, daß auch die Winde und der See ihm gehorchen?“ Die Jünger hatten Seine Autorität schon in weit erhabenerer Weise erfahren; die anderen wurden von ihr überrascht (V. 23-27).
Wir erfahren indessen noch mehr. Das Ereignis auf dem See zeigte nur, was Christus für die Gottesfürchtigen ist, die bei Ihm sind. Was war mit jenen beiden Männern, die sich weit entfernt von dem Messias aufhielten, indem sie in den Grüften lebten? Sie waren von Dämonen besessen und äußerst wild, sodaß niemand jenes Weges vorübergehen konnte - ein treffendes Bild von der schrecklichen Macht Satans in der Welt. Einer von ihnen war, wie uns anderswo erzählt wird (Markus 5, 9), unter dem Namen Legion bekannt, weil viele Dämonen in ihm wohnten. Etwas Schlimmeres kann man sich nicht vorstellen. Die Macht Satans erwies sich als stärker als alle Fesseln der Menschen (Markus 5,4).
Aber der Herr kam zu ihnen. Die Dämonen glauben und zittern (Jakobus 2,19). Sie fühlten Seine Anwesenheit. Die Zeit war jedoch noch nicht gekommen, Satan seine Herrschaft über die Welt wegzunehmen. Jetzt sollte nur bewiesen werden, daß die Macht dafür schon existierte. Ihre volle Ausübung wird für einen anderen Tag zurückgehalten. Ich zweifle nicht, daß unser Evangelist die Austreibung der Dämonen als ein Zeugnis von der Macht Christi beschreibt, welche einst den jüdischen Überrest befreien wird. Das ist wohl auch der Grund, warum der Heilige Geist nur hier zwei Männer erwähnt. Auf der anderen Seite soll die besessene Herde Schweine anscheinend den Untergang der unreinen Masse Israels in den letzten Tagen veranschaulichen.
Zuletzt stellt diese Begebenheit noch eine andere Wahrheit heraus. Satan besitzt eine zweifache Macht. Sie zeigt sich nicht nur in den entsetzlichen Exzessen jener, die vollkommen unter seinem Einfluß stehen, sondern auch in der stillschweigenden Feindschaft des Herzens. Letztere veranlaßte die Stadtbewohner, zu Jesus zu kommen und Ihn zu bitten, aus ihren Grenzen wegzugehen. Wie ernst ist es, daß dieser geheime Einfluß Satans über das Herz, indem er den Wunsch erweckt, Jesus los zu sein, persönlich gesehen noch verhängnisvoller ist als seine unmittelbare Herrschaft, die einen Menschen zum Zeugen seiner schrecklichen Gewalt macht. So war es damals; und auf dieser Grundlage gehen auch heutzutage die Menschen verloren.
Das ist die Geschichte solcher Menschen, die Jesus bitten, von ihnen wegzugehen. Der Herr möge uns jene glückselige Erkenntnis Seiner Person darreichen, welche der Seele Ruhe und Erholung in Seiner Liebe gibt, indem wir mit Verständnis eindringen in das, was Er jetzt für uns ist! Mögen wir die Gewißheit genießen, daß Jesus wirklich bei denen ist, die Ihm angehören! „Ich bin bei euch alle Tage bis zur Vollendung des Zeitalters.“ (Matthäus 28,20). Mögen wir lernen, was es heißt, daß Jesus für uns sorgt und eine große Stille schafft, wie sehr Satans Macht auch die Umstände gegen uns aufrührt! Der Herr schenke, daß wir auf Jesus blicken! Von dem Augenblick an, als ich zum ersten Mal erkannte, was Sünde ist, bis zu meiner letzten Erprobung in dieser Welt - es geht immer um die eine Frage: Vertraue ich auf mich selbst oder auf Jesus?