Vorträge zum Matthäusevangelium
Kapitel 2
Ich denke, wir werden auch in dem Kapitel vor uns reichlich Bestätigung dafür finden, daß der Heilige Geist eine besondere Absicht in dem von Ihm durch den Apostels Matthäus geschriebenen Evangelium verfolgt. Das heißt: Wir werden Beweise dafür finden, daß Jesus sorgfältig als der wahre Messias Gottes vorgestellt wird. Außerdem erfahren wir von Seiner Verwerfung als solcher durch die Juden. Dabei nutzt Gott gleichzeitig das Versagen Israels, um größere und tiefgründigere Absichten zur Ausführung zu bringen.
Schon das erste Ereignis in unserem Kapitel verdeutlicht dies. Jesus wurde geboren. Wir begegnen hier nicht denselben interessanten Einzelheiten, die Lukas uns von den allerersten Tagen der Kindheit unseres Herrn berichtet. Sie werden übergangen, bis auf die Erwähnung Seiner Geburt zu Bethlehem in Judäa, die Huldigung der Magier aus dem Osten und die Flucht nach Ägypten. Zunächst wird uns durch den Heiligen Geist die ergreifende Tatsache berichtet, daß man in Israel kein Herz für den Messias hatte. Das wird uns durch die eindeutigsten Umstände bewiesen. „Als aber Jesus zu Bethlehem in Judäa geboren war, in den Tagen Herodes, des Königs, siehe, da kamen Magier vom Morgenlande nach Jerusalem, welche sprachen: Wo ist der König der Juden, der geboren worden ist? denn wir haben seinen Stern im Morgenlande gesehen und sind gekommen, ihm zu huldigen.“ (V. 1-2). Uns wird nicht gesagt, wie bald nach Seiner Geburt dies geschah. Zweifellos war eine beträchtliche Zeit vergangen. Die Menschen werden oft irregeführt, wenn sie diese Szene im Licht der Eindrücke ihrer Kindheit betrachten. Wir kennen alle das Bild vom Säugling in der Krippe und den „drei Königen“, die gekommen sind, Ihm zu huldigen. In Wirklichkeit geschah es nicht so, wie diese Darstellungen uns eingeben. Der Herr war nicht gerade erst geboren, als die Magier eintrafen. Hinsichtlich Seiner frühesten Umstände in dieser Welt müssen wir uns zu Lukas wenden und nicht zu Matthäus.
Einige von uns mögen diesen falschen Eindruck beim Lesen des ersten Verses gewonnen haben, wo steht: „Als aber Jesus zu Bethlehem in Judäa geboren war, in den Tagen Herodes', des Königs.“ Das Wort „als“ deutet nicht an, daß der Besuch der Magier unmittelbar auf die Geburt unseres Heilands folgte, sondern erlaubt durchaus, daß zwischen beiden Ereignissen eine mehr oder weniger erhebliche Zeit verstrich. Es besagt einfach, daß nach Seiner Geburt diese Morgenländer kamen. Einige Monate bis zu einem Jahr können durchaus vergangen sein. Bestätigt wird diese Ansicht dadurch, daß die Weisen den Stern im Morgenland zum ersten Mal gesehen hatten, und zwar sehr wahrscheinlich zur Zeit der Geburt unseres Herrn. Nachdem sie den Stern entdeckt hatten, mußten sie natürlich viele Vorbereitungen treffen, bevor sie aufbrechen konnten; und dann hatten sie noch einen langen Weg vor sich. Dabei war das Reisen in jenen Tagen in den östlichen Teilen der Welt eine schwierige und umständliche Angelegenheit. Als sie in Judäa ankamen, gingen sie zuerst nach Jerusalem hinauf, um sich genauer zu erkundigen. Das setzt notwendigerweise voraus, daß nicht wenig Zeit verstrichen war. Ihre Fragen wurden von den Schriftgelehrten beantwortet. Herodes hörte davon und war bestürzt und ganz Jerusalem mit ihm. (V. 3). Er versammelte alle Hohenpriester und Schriftgelehrten des Volkes und erkundigte sich bei ihnen, wo der Christus geboren werden sollte. (V. 4). Sie antworteten ihm: „Zu Bethlehem in Judäa.“ Daraufhin rief er die Weisen zu sich und sandte sie dorthin. (V. 5-8). All das fand statt, bevor sie dem Kind huldigen konnten.
Nachdem sie den König angehört hatten, reisten sie ab. „Und siehe, der Stern, den sie im Morgenlande gesehen hatten, ging vor ihnen her, bis er kam und oben über dem Orte stand, wo das Kindlein war.“ (V. 9). Wir dürfen nicht nach der uns überlieferten Meinung denken, daß der Stern sie den Weg nach Jerusalem führte. Sie sahen ihn im Morgenland und verbanden seinen Anblick mit dem verheißenen Messias; denn zu jener Zeit hatten sich die Prophezeiungen über des Herrn plötzliches Erscheinen über einen beträchtlichen Teil der Welt verbreitet. Viele Nichtjuden erwarteten Ihn - vor allem im Osten. Auch die Großen und dem Messias am feindlichsten Gesinnten im Westen kannten diese Hoffnung. Der Letzte, der im Osten als Prophet bekannt war, bevor die Nationen vor Israel zerbrochen wurden, war Bileam. Er war zweifellos ein böser Mensch. Doch Gott benutzte ihn, um die bemerkenswerteste Vorhersage über die zukünftige Herrlichkeit Israels auszusprechen. Und gerade diese Prophezeiung schloß mit einem Hinweis auf den Stern, der in Jakob aufgehen sollte. (4. Mose 24,17). Auch jetzt noch, nachdem viele hundert Jahre vergangen waren, blieb diese Prophezeiung unter den Kindern des Ostens lebendig. Außerdem ist unwahrscheinlich, daß die Vorhersagen Daniels in Babylon, insbesondere die von den siebzig Wochen, usw., unbekannt blieben, wenn man seine politische Stellung und die außerordentlichen Ereignisse in seinen Tagen bedenkt. Wir können verstehen, daß schon der Charakter dieser Prophezeiungen ihre Kenntnis nicht auf die Kinder Israel beschränkte, sondern dieselbe weit verbreitete, hauptsächlich in jenen Ländern. Viel davon wurde wohl kaum richtig verstanden. Dennoch schauten jene Menschen aus nach dem Erscheinen einer wunderbaren Persönlichkeit - einem Stern aus Jakob und einem Zepter aus Israel.
Als diese Fremden den Stern sahen, machten sie sich auf nach der allbekannten Hauptstadt des Messias, nach Jerusalem. Es ist klar, daß der Stern eine Art Himmelserscheinung war. Als er im Osten aufleuchtete, verbanden sie dieses bemerkenswerte Phänomen mit der Erwartung des kommenden Königs. Das ist um so verständlicher, weil die Orientalen große Himmelsbeobachter waren und alle ungewöhnlichen Erscheinungen schnell wahrnahmen. Der Stern mochte ihnen die Prophezeiung Bileams ins Gedächtnis gerufen haben. Eins ist jedoch gewiß: Sie brachen bald nach Jerusalem auf, wo entsprechend dem allgemeinen Gerücht unter den Nationen der große König regieren sollte. Als sie dort eintrafen, begegnete ihnen Gott; und es ist beachtenswert, wie Er das tat. Es geschah durch Sein Wort; und zwar wurde Sein Wort von Männern ausgelegt, die nicht das geringste Herzensinteresse am Messias hatten. Sie hatten völlig recht bei ihrer Auslegung. Sie wußten, wo der Messias geboren werden sollte. Die Magier dachten möglicherweise, daß Jerusalem dieser Ort war. Sie erfuhren jedoch durch die Schriftgelehrten von Bethlehem als dem vorhergesagten Geburtsort. Ach, dieselben Menschen, die so sachdienlich antworten konnten, zeigten die sehr ernste, wenn auch nicht ungewöhnliche Wahrheit, daß es möglich ist, sehr viel klare Erkenntnis über die Bibel zu haben, ohne Den zu lieben, von dem sie zeugt. Die Magier waren zwar unwissend und wahrscheinlich in vielen Dingen in Finsternis, doch ihr Verlangen war aufrichtig; und darum kontrollierte Gott alle Umstände. Tatsächlich sandte Er durch diese Heiden ein Zeugnis von der Geburt des Messias an Jerusalem. Gott wußte, wie Er handeln und durch ihr Zeugnis jene zurechtweisen konnte, die vor allen anderen Menschen ihren Messias hätten erwarten und begrüßen sollen. So wie damals eine Königin von weit entfernten Gegenden der Erde kam, um den König Salomo, der ein Vorbild von Christus war, zu sehen und seine Weisheit zu hören, so geschah es auch jetzt. Der Heilige Geist wirkte in diesen Pilgern aus fernem Land und bereitete alles vor, um sie in die Gegenwart des wahren Königs zu führen. Die Schriftgelehrten konnten die Fragen beantworten, aber sie kümmerten sich nicht um den Messias. Und wegen dieses Messias kamen diese Weisen aus weiter Ferne. Das deckte sofort den schrecklichen Zustand Jerusalems auf. Als Antwort auf die Nachricht, daß Gottes König geboren worden war, suchten sie nicht den Verheißenen und waren auch nicht mit Freude erfüllt, von Dem zu hören, den sie nicht gesucht hatten. Statt dessen waren sie alle bestürzt - vom König angefangen. Wir erfahren hier insbesondere, wie die Hohenpriester und Schriftgelehrten in ihrem Zustand die gänzliche Herzlosigkeit der Nation offenbarten. Sie besaßen genug religiöse Erkenntnis. Sie hielten den Schlüssel in der Hand, doch sie hatten nicht das Herz, um einzutreten.
„Dann berief Herodes die Magier heimlich und erforschte genau von ihnen die Zeit der Erscheinung des Sternes.“ (V. 7). Ich möchte hierauf eure Aufmerksamkeit lenken, weil es das zuvor Gesagte stützt. Nach dieser sorgfältigen Befragung der Weisen berechnete der König in seinem Herzen, wann das Kind geboren sein mußte. Als die Magier von Gott gewarnt wurden und auf ihrer Heimreise nicht zu Herodes zurückkehrten, sandte er das grausame Kommando aus, alle Kinder in Bethlehem und Umgebung „von zwei Jahren und darunter“ zu töten. (V. 16). Anders ausgedrückt: Er folgerte natürlich, daß eine beträchtliche Zeit zwischen der Geburt Christi und der Ausgabe seines gottlosen Befehls vergangen war.
Wenn wir uns zum Lukasevangelium wenden, erkennen wir die Bedeutung dieser Wahrheit. Wir sehen dort, wie unser Herr geboren wurde, und zwar, genauso wie Matthäus es zeigt, in der Stadt Davids. Von Lukas erfahren wir jedoch die Umstände, wodurch es in Bethlehem geschah; denn normalerweise lebten Maria und Joseph nicht in diesem Ort. Bethlehem war das Dorf, in das sie sich begaben, weil der römische Kaiser ein Gebot hatte ausgehen lassen, daß die ganze Welt sich für die Steuererhebung schätzen bzw. aufschreiben lassen sollte. Da sie aus der königlichen Familie der Juden stammten, mußten sie nach Bethlehem, der Stadt Davids, reisen. So brachte Gott die Prophezeiung Michas (Kap. 5,1) durch die Anordnung des Kaisers Augustus zur Erfüllung. Nichts lag dessen Gedanken ferner als das Ergebnis, welches seine Verordnung nach der Vorsehung Gottes liefern sollte, nämlich die Geburt des Messias an dem Ort, den die Prophetie verlangte. Es scheint sogar so, als sei die Volkszählung damals nicht zu Ende geführt worden. Sie begann und wurde dann für eine Zeit unterbrochen; denn es wird in Lukas 2,2 gesagt: „Die Einschreibung selbst geschah erst, als Kyrenius Landpfleger von Syrien war“, nämlich einige Jahre später. Menschen, die dies nicht verstanden, schlossen auf einen Fehler im Lukasevangelium. Sie wußten, daß Kyrenius erst einige Zeit nach der Geburt Christi Landpfleger in Syrien wurde. Darum folgerten sie zu voreilig, daß unser Evangelist unter dem Eindruck schrieb, daß die Reise von Joseph und Maria nach Bethlehem zu Kyrenius' Zeit stattfand. Aber nicht Lukas irrt, sondern sie irren. Die Anordnung des Kaisers Augustus wurde erst in der späteren Zeit vollständig ausgeführt und erfüllt. Es genügte Gott, daß der Befehl zur Einschreibung gegeben wurde, um die Eltern Joseph und Maria zur Reise an den Ort des Familienstammsitzes zu veranlassen. Damit waren die Absichten Gottes verwirklicht. Joseph und Maria zogen dorthin; und ihre Tage wurden erfüllt. „Sie gebar ihren erstgeborenen Sohn und wickelte ihn in Windeln und legte ihn in eine Krippe.“ (Lukas 2,7). Wir sehen hier eine ganz andere Szene als bei Matthäus, wenn auch in Bethlehem. Aller Wahrscheinlichkeit nach machten Joseph und Maria mehr als einen Besuch in diesem Dorf; und laßt mich fragen: Ist es nicht verständlich, daß die Eltern nach einem solchen Wunder den Geburtsort des heiligen und königlichen Säuglings wieder besuchten? Bethlehem war nicht weit von Jerusalem entfernt. Wir wissen, daß die Eltern jedes Jahr zum Passahfest dorthin reisten. Ich sehe keinen Grund, warum der Besuch der Magier nicht bei einem anderen Besuch der Eltern mit dem Kind in Bethlehem erfolgt sein sollte.
Beachten wir, wie sehr die Umstände, welche von Matthäus berichtet werden, von denen im Lukasevangelium abweichen!
Im Matthäusevangelium war ganz Jerusalem bestürzt durch die Nachricht von der Geburt des Messias, während Fremde von weither kamen, um dem König der Juden zu huldigen. Sie hatten Seinen Stern gesehen. Sie wußten, daß es sich um den verheißenen König handeln mußte; und jetzt waren sie gekommen, Ihm zu huldigen. Zunächst hielten sie sich in Jerusalem auf. Als sie die Stadt auf ihrem Weg nach Bethlehem verließen, wurden sie erneut von Gott ermutigt. Der Stern, den sie früher im Morgenland gesehen hatten, erschien zu ihrer außerordentlich großen Freude wieder und zog vor ihnen her, bis er über dem Haus stehen blieb, wo das Kind war. (V. 9-10). Das ist ein klarer Beweis, daß der Stern sie nicht auf dem ganzen Weg begleitet hatte. Wir werden aus Erfahrung bestätigen können, daß wir dann, wenn wir nicht äußeren Zeichen folgen, trotzdem alles vorfinden, was wir brauchen. Gott sorgt immer besonders für jene, die, wenn auch in einem noch so geringen Maß, dem Licht treu sind. Dagegen verabscheut Gott nichts mehr als die angemaßte Behauptung, großes Licht zu besitzen ohne ein Herz für das wahrhaftige Licht, welches Christus ist.
„Und als sie in das Haus gekommen waren, sahen sie das Kindlein mit Maria, seiner Mutter, und sie fielen nieder und huldigten ihm“ - und nicht ihr. (V. 11). Ihre Huldigung galt Ihm. „Und sie taten ihre Schätze auf und opferten ihm Gaben: Gold und Weihrauch und Myrrhe.“ Sie anerkannten, daß sie Fremde waren, deren größte Ehre darin bestand, von Ihm angenommen zu werden.
Jerusalem befand sich völlig abseits. Dort herrschte ein Thronräuber. Ein Edomiter war König. Auch wenn Christus wieder zur Erde zurückkehrt, wird wie bei Seinem ersten Kommen ein falscher König unter dem Einfluß der westlichen Mächte und in Verbindung mit den religiösen Häuptern Israels regieren. Alles stand einer Anerkennung Jesu gänzlich entgegen.
Wir beobachten wieder wie in Kapitel 1, daß von den Eltern immer Joseph in den Vordergrund gestellt wird. Der Traum in Vers 13 wurde Joseph gegeben.
Im Lukasevangelium ist alles ganz anders geschildert. Jesus wird dort nicht so sehr als ein König anerkannt, obwohl Er ein König war. Er wird in den unscheinbarsten Umständen gesehen. Jüdische Hirten erkennen Ihn an, nachdem ihnen vom Himmel die gute Botschaft mitgeteilt worden war. Wir hören den Lobpreis der himmlischen Heerscharen - ihre Herzen frohlockten über die Absichten und Wege Gottes in dem Heiland, denn als solcher wurde Er den Hirten verkündigt. „Euch ist heute, in Davids Stadt ein Erretter geboren, welcher ist Christus, der Herr. Und dies sei euch das Zeichen: Ihr werdet ein Kind finden, in Windeln gewickelt und in einer Krippe liegend“ (Lukas 2,11-12). Das war der wahre Anfang des Lebens unseres gepriesenen Herrn auf der Erde; und dies sind die Ereignisse, die offensichtlich unmittelbar nach Seiner Geburt folgten. Die Huldigung der Magier geschah viel später. Es gibt nicht den geringsten Grund, beide Ereignisse miteinander zu vermengen. Jedes Evangelium ist seinem besonderen Thema treu. Bei Matthäus handelt es sich um Seine königlichen Anrechte über Israel und die Nationen. Im Lukasevangelium sehen wir von Seiner Geburt an die vollkommene Demut des Heiland-Sohnes des Menschen. Das Interesse des Himmels an der Geburt des auf der Erde verachteten Christus, des Herrn, wird geschildert. Niemand auf der Erde als nur die Armen der Herde, deren Herzen geweckt waren, nahm diesen Gesegneten in Empfang. Neben dem Ausdruck und dem Mittel der göttlichen Gnade lesen wir auch von ihrem Gegenstand. „Siehe, ich verkündige euch große Freude, die für das ganze Volk sein wird“ (Lukas. 2,10). Hier steht nicht „für alle Völker“, sondern „für das ganze Volk“; denn die Juden sind gemeint. Später wird ein viel größerer Kreis gezogen; doch jetzt geht er noch nicht über die Juden hinaus. Zunächst wurde die Botschaft an die Juden gesandt - „dem Juden zuerst“, nach den Worten des Apostel Paulus. (Römer 1,16).
Wie schön harmonieren diese verschiedenen Berichte mit den Evangelien, in denen sie stehen! In dem ersten sehen wir den König, der einige Zeit vorher geboren worden war, in Bethlehem; und niemand hieß Ihn willkommen als nur Fremde aus dem Osten. Durch Matthäus erfahren wir nichts davon, daß der Heiland vor der Ankunft der Weisen im geringsten anerkannt wurde. Im Gegenteil, als der erste Hauch dieser Botschaft nach Jerusalem gelangte, war alles bestürzt. Der König, die Priester, die Schriftgelehrten - alle gerieten in Bewegung. Es gab kein Herz, das für Jesus schlug. Doch Gott wird immer Sein Zeugnis haben. Als die Juden Ihn nicht wollten, kamen, durch die Gnade bewirkt, die Heiden. Ungläubige Juden erklärten den Magiern, wo der König geboren werden sollte. Diese folgten sofort den Hinweisen; und der Herr begegnete ihnen auf dem Weg und führte sie in die Gegenwart des Königs, dem sie ihre Gaben schenkten. Es geht hier um den Messias Israels, der von Geburt an durch das Volk abgelehnt wurde. Jerusalem stand zum falschen König und gab sich keine Mühe, den Herrn anzunehmen. Jene, die wie Hunde verachtet wurden und welchen die Juden die ersten Lektionen in Prophetie erteilen mußten, erlangten die Ehre, als erste die wahren Rechte des Messias zu erkennen. Nichts könnte demütigender sein. Der Messias war gekommen und wurde von den Enden der Erde anerkannt. Seine eigene Nation hingegen mißachtete und verwarf Ihn. „Er kam in das Seinige, und die Seinigen nahmen ihn nicht an.“ (Johannes 1,11). Die Beweise dafür finden wir von Anfang an im Matthäusevangelium. So war es. Daher war es wichtig, daß Israel diese Wahrheit kannte. Sie sollten vom ersten Evangelisten lernen, daß Gott es keineswegs an Hinweisen auf die Geburt Seines Christus hatte fehlen lassen. Woher wußten denn diese Heiden davon? Wo befanden sich diese Juden, daß sie während der ganzen Zeit ihren Messias nicht erkannten? Das erzählt eine schreckliche Geschichte. Aber in ihren Ohren klang nichts so fremd wie die Wahrheit. So ist es immer in den Wegen Gottes. Er gibt ein Zeugnis; aber der Mensch hat einen Widerwillen dagegen, weil es von Gott ist. Die Schwierigkeit bestand darin, die Person Christi zu erkennen. Es war leicht, aus der Schrift zu erfahren, daß ihr König in Bethlehem in Judäa geboren werden sollte. Dabei wurde nicht das Gewissen erforscht und das Herz auf die Probe gestellt. Aber die Anerkennung, daß der unbeachtete und verachtete Mensch, das Kind der Maria und der Erbe Josephs, der Messias war, erschien dem Fleisch wirklich schwer. Es war jedoch einfach für die, welche das Zeichen am Himmel gesehen und inmitten großer Finsternis nach demselben ausgeschaut hatten - welche ihre Augen darauf richteten und in ihren Herzen nicht zu voreingenommen waren, um sich vor der Herrlichkeit des Messias zu beugen. Für sie war alles einfach; und sie eilten, um Ihn zu ehren. Nachdem Er jetzt geboren war, frohlockten sie bei dem Gedanken daran; und sie kamen von weither um der Freude willen, Ihn zu sehen und Ihm ihre Gaben zu Füßen zu legen.
„Und als sie im Traum eine göttliche Weisung empfangen hatten, nicht wieder zu Herodes zurückzukehren, zogen sie auf einem anderen Wege hin in ihr Land. Als sie aber hingezogen waren, siehe, da erscheint ein Engel Jehovas dem Joseph im Traum und spricht: Stehe auf, nimm das Kindlein und seine Mutter zu dir und fliehe nach Ägypten, und sei daselbst, bis ich es dir sage; denn Herodes wird das Kindlein suchen, um es umzubringen.“ (V. 12-13). Dem Unglauben, der das Wort Gottes verwarf, wurde jetzt erlaubt zu zeigen, wie vollständig er unter der Macht Satans stand. Dieser erwies sich wie im Anfang zuerst als Lügner und dann als Menschenmörder. Die Absicht Herodes' wurde Joseph durch Gott verraten; und dieser nimmt im Gehorsam gegen Sein Wort das kleine Kind und seine Mutter bei Nacht und flieht nach Ägypten. „Und er war daselbst bis zum Tode Herodes', auf daß erfüllt würde, was von dem Herrn geredet ist durch den Propheten, welcher spricht: „Aus Ägypten habe ich meinen Sohn gerufen.““ (V. 15).
Ein kurzes Wort über diese Prophezeiung und ihre Anwendung auf unseren Herrn ist hier wohl angebracht. Wenn es Gott gefällt, müssen wir uns später noch mit manchen Prophezeiungen, die von Matthäus angeführt werden, beschäftigen. Das Zitat vor uns hat jedoch offensichtlich einen ganz besonderen Charakter. Dem Buchstaben nach sprach es von Gottes Volk. Israel war Gottes Sohn, Gottes Erstgeborener in Ägypten. (2. Mose 4,22). Sein Teil war die Sohnschaft. (Römer 9,4). Der Prophet Hosea, der siebenhundert Jahre nach dem Auszug aus Ägypten schrieb, zögerte nicht, diese Worte auf Israel zu beziehen. Und jetzt werden dieselben Worte Hoseas mit Christus verbunden, als läge diese Anwendung völlig innerhalb der Absicht des inspirierenden Heiligen Geistes. Warum sollte die Herausführung des Volkes Gottes aus dem Land Ägypten in der persönlichen Geschichte Christi veranschaulicht werden? Weil in der Heiligen Schrift Christus der wahre, wenn auch häufig unter der Oberfläche verborgene Gegenstand des Heiligen Geistes ist. Es tut nichts zur Sache, welchen Platz Sein Volk einnimmt. Es mag Schwierigkeiten und Befreiungen erleben - Christus muß jedoch in alles eintreten. Keine Art Versuchung, außer natürlich durch das innere Böse, blieb Ihm unbekannt. Auch gibt es keine Quelle der Segnung von Seiten Gottes, die Er nicht erprobt hat. Christus durchläuft die Geschichte Seines Volkes; und auf diesem Grundsatz werden Schriftstellen wie diese auf Ihn bezogen. Er wurde in Person an den Ort getragen, der einst der Feuerofen Israels war. Dort fand Er Seine Zuflucht vor dem falschen König in Judäa. Was für ein Bild! Wegen der Regierung des Gegenkönigs in Jerusalem mußte der wahre König fliehen, und zwar nach Ägypten. Christus war der wahre Israel - und Israel bis jetzt nur der unfruchtbare Weinstock. (Jesaja 5; Jeremia 2,21; vergl. Jesaja 49).
Wir erkennen hier, daß keine übernatürliche Macht Emmanuel bewahrte. Die Prophezeiungen wurden erfüllt - der Überblick über die sittliche und nationale Verwüstung vervollständigt, den der Heilige Geist schon viele Jahre vorher skizziert hatte. Gott zeigte auf, wie kostbar Ihm jeder Fußstapfen Seines Sohnes war. Für den Unglauben ist es in sich selbst ein bedeutungsloser Umstand, daß der Herr nach Ägypten gebracht wurde und später wieder zurückkam. An welchen Orten Christus sich auch immer aufhalten mochte - und es waren jene, wo auch Sein Volk in seinen Leiden gewesen war -, Er ließ nicht zu, daß Israel ein Weh erfuhr, an dem Er selbst nicht völlig teilnahm. Er wußte, was es bedeutet, nach Ägypten gebracht zu werden, und zwar in einer viel schmerzlicheren Weise, als Israel es erlebt hatte. Denn das bitterste Ungemach Christi kam von Seinem eigenen Volk. Der mörderischste Schlag, der auf Ihn gezielt wurde, geschah durch den König auf dem Thron in Israels Mitte. Da dieser Anschlag mißglückte, „sandte [dieser] hin und ließ alle Knaben töten, die in Bethlehem und in allen seinen Grenzen waren, von zwei Jahren und darunter, nach der Zeit, die er von den Magiern genau erforscht hatte. Da wurde erfüllt, was durch den Propheten Jeremias geredet ist, welcher spricht: „Eine Stimme ist in Rama gehört worden, Weinen und viel Wehklagen: Rahel beweint ihre Kinder, und sie wollte sich nicht trösten lassen, weil sie nicht mehr sind.““ (V. 16-18). Wie deutlich gibt der Heilige Geist hier den Juden einen Beweis, daß sie in Seinen Augen kostbar sind. Und wenn Christus in ihre Leiden eintrat, dann durften sie sich nicht wundern, wenn Seine Anwesenheit auch für sie den bittersten Kummer durch Seine Verwerfung zur Folge hatte. Als Christus in die geringste Verbindung mit Israel trat, wurden die Juden ein Gegenstand des Hasses Satans. Es war Herodes, der, von Satan angestiftet, den Befehl gab, die kleinen Kinder zu erschlagen. Doch der Messias war schon vorher von dem Schauplatz seiner Wut weggetragen worden. In Israel war Weinen und großes Wehklagen. Das waren einige von den Drangsalen, die Israel über sich brachte, und zeigt nur ein kleines Bild von dem, was in späteren Tagen über das Volk hereinbrechen wird.
„Als aber Herodes gestorben war, siehe, da erscheint ein Engel Jehovas dem Joseph im Traum in Ägypten und spricht: Stehe auf, nimm das Kindlein und seine Mutter zu dir und ziehe in das Land Israel; denn sie sind gestorben, die dem Kindlein nach dem Leben trachteten. Und er stand auf und nahm das Kindlein und seine Mutter zu sich, und er kam in das Land Israel.“ (V. 19-21). Die Bezeichnung „Land Israel“ ist hier beachtenswert. Gott sah nicht einfach das Land, wie es die Menschen kannten, in dem arme Juden unter der Zulassung ihrer heidnischen Herren lebten. Wie wenige betrachten dieses Land heute als das Land Israel 1! Doch Gottes Gedanken sind in Verbindung mit der Herrlichkeit Seines Sohnes allezeit auf Sein Volk gerichtet. Wenn Jesus sich irdischerseits damit verband, wenn Emmanuel jetzt von einer Jungfrau geboren worden war - warum sollte das Land nicht „Land Israel“ genannt werden? Gott hat die Absicht, alle Nichtjuden, die es unter ihre Füße treten, vollständig auszutreiben. Wenn das Volk sich damals vor dem Messias gebeugt und Ihn angenommen hätte, damit Er Seinen Platz als König hätte einnehmen können - wie gesegnet wäre dann Israels Los gewesen! Aber wollten sie jetzt Jehova-Jesus aufnehmen, als Er aus Ägypten zurückkam? Sie waren immer noch nicht bereit dazu. Der eine Herodes war gestorben; ein anderer folgte. Als das kleine Kind in das Land Israel zurückgebracht wurde und Joseph hörte, „daß Archelaus über Judäa herrsche, anstatt seines Vaters Herodes, fürchtete er sich, dahin zu gehen; und als er im Traum eine göttliche Weisung empfangen hatte, zog er hin in die Gegenden von Galiläa und kam und wohnte in einer Stadt, genannt Nazareth; damit erfüllt würde, was durch die Propheten geredet ist: „Er wird Nazarener genannt werden.““ (V. 22-23).
Auch die Art des Zitierens ist hier bemerkenswert. Beachten wir die auffallende Bedeutung, die den Propheten beigemessen wird; denn wir müssen bedenken, daß wir nicht von einem einzelnen Propheten lesen, sondern von „Propheten“ in der Mehrzahl! Daraus müssen wir entnehmen, daß nicht irgendein inspirierter Schreiber solche Worte niederschrieb. Der Geist aller Propheten verkündete von Ihm. Bei dem einen Propheten lesen wir: „Mit dem Stabe schlagen sie den Richter Israels auf den Backen“ (Micha 4,14), und bei einem anderen: „Er war verachtet und verlassen von den Menschen, ein Mann der Schmerzen und mit Leiden vertraut.“ (Jesaja 53,3). Wenn wir davon erfahren, was sie Ihm zur Speise gaben und in Seinem Durst zu trinken (Psalm 69,21) und wie Er bis zum letzten verhöhnt wurde, dann verstehen wir diesen Hinweis auf „die Propheten“. Die Bezeichnung „Nazarener“ war ein damals wohlbekannter Ausdruck der Verachtung. Nazareth war die verachtetste Stadt. Nicht nur die Männer Judäas schauten auf Nazareth herab, sondern auch die Galiläer selbst, obwohl es zu ihrem Gebiet gehörte. Später lesen wir von einem Israeliten ohne Trug, der, als er hörte, daß Jesus von dorther stamme, ausrief: „Kann aus Nazareth etwas Gutes kommen?“ (Johannes 1,46). Wenn also in Palästina irgendein Ort mit der Verachtung, die den Christus traf, übereinstimmte, dann war das Nazareth. Kann es ein wunderbareres Bild von einem Menschen geben, der, obwohl wahrer König, von Seinem eigenen Volk zurückgewiesen wurde? Heiden mochten Ihm Ehre erweisen, doch Sein eigenes Volk war nicht nur gleichgültig, sondern auch spöttisch. Wie wenig Frucht gab es in Antwort auf die Pflege, die Gott diesem Volk angedeihen ließ! Jetzt war der Heilige Gottes da, welcher Seinen Weg des Gehorsams bis zum Tod verfolgte, ohne Seine Herrlichkeit in der Vernichtung Seiner Feinde oder zum Schutz Seiner selbst zu benutzen. Sein Volk war nach Ägypten hinabgezogen; auch Er zog dorthin. Er mußte aus Ägypten gerufen werden, um dem König im Land auszuweichen. Das war Sein Teil. Er wollte sich nicht gegen das Leid Seines Volkes abschirmen. Er wollte an demselben mehr als jeder andere teilnehmen. Als Er zurückkam, war Israel immer noch nicht auf Ihn vorbereitet. Nachdem Joseph erneut in einem Traum göttlich angewiesen worden war, wandten sich die Eltern Jesu nach Nazareth. Das ist die letzte Erwähnung Josephs im Matthäusevangelium. Lukas berichtet noch von einem späteren Ereignis. Joseph verschwindet völlig, bevor unser Herr in Seinen Dienst eintrat.
Als Er aus Ägypten gerufen wurde, konnte Er weder nach Jerusalem noch nach Bethlehem ziehen. Er sollte verachtet und verworfen werden. Die Propheten hatten es vorhergesagt. Ihre Worte mußten erfüllt werden. Archelaus regierte in Judäa. Dort herrschte immer noch ein Usurpator. Joseph wandte sich aufgrund der Warnung Gottes nach Nazareth. Jesus wohnte dort bei Seinen Eltern, um das Wort der Propheten zu erfüllen. Unser Herr erfuhr bis zum Äußersten, was es heißt, unter den Menschen der Allerverachtetste zu sein. Am nachdrücklichsten erlebte Er dies natürlich am Kreuz; dennoch war es während des ganzen Lebens Sein Teil. In dieser Weise schildert Gott dem Volk Seinen Messias. Er beschreibt, was ihre Herzenshärtigkeit und ihr Unglaube nach sich ziehen werden. Dabei richteten sich letztere gerade gegen diesen Messias, der entsprechend allem, was Gott vorhergesagt hatte, in jenes Land und Volk kam. Wenn dies das Teil des Messias war - was für ein Bild vom Menschen und insbesondere von Israel sehen wir hier! Er kam und rief, aber keine Antwort begrüßte Ihn. Der Unglaube des Menschen verhinderte den Segen Gottes. Die Sünde Israels wurde so der Anlaß für große Schwierigkeiten in der frühen Lebensgeschichte seines Königs. Spätere Kapitel werden zeigen, wie Gott gerade den Unglauben des Volkes in ein Mittel für die Segnung der verachteten Nichtjuden verwandelt. Wenn die Juden zu ihrem Verderben die Ratschlüsse Gottes verwarfen, dann würden jene hören und von dem Gesegneten noch größere Segnungen empfangen.
So finden wir vom Anfang dieses wunderbaren Bibelbuches an die Keime all der Wahrheiten, die sich an seinem Ende voll entwickelt haben. Wir sehen eine Person, die wirklich der Messias ist, mit der Bereitschaft, die Verheißungen zu erfüllen und den Thron einzunehmen. Aber das Volk war in keinster Weise auf Ihn vorbereitet. Israel war voll Sünde. Sie hatten kein Herz für Ihn. Und kein Wunder! Sie waren erfüllt von ihrem König, einem Edomiter. Ihre Zeremonien waren ein Deckmantel für Heuchelei, ihr Licht Finsternis in Hinsicht auf Gott. Alles wurde verdreht zur Verherrlichung des Ichs. Folglich wurde Jesus von Anfang an verworfen. Das ist die Geschichte des Menschen. Die weiteren Kapitel werden die herrlichen Folgen entfalten, die Gott in Seiner Gnade sogar aus der Verwerfung Seines Sohnes hervorkommen lassen kann. Mit diesem viel erfreulicheren Thema wollen wir uns später beschäftigen.
Fußnoten
- 1 d. h. 1868, als Kelly dieses Buch herausgab. (Übs.).