Einführende Vorträge zum Hebräerbrief
Kapitel 12
„Deshalb nun, da wir eine so große Wolke von Zeugen um uns haben, laßt auch uns, indem wir jede Bürde und die leicht umstrickende Sünde ablegen, mit Ausharren laufen den vor uns liegenden Wettlauf, hinschauend auf Jesum, den Anfänger und Vollender des Glaubens, welcher, der Schande nicht achtend, für die vor ihm liegende Freude das Kreuz erduldete und sich gesetzt hat zur Rechten des Thrones Gottes.“ (V. 1-2). Das ist ein besonderer Blick auf Sein Sitzen dort. In allen anderen Abschnitten des Briefes bedeutet das Wort, daß Er Seinen Sitz einnahm oder, einfach, daß Er Sich dort hinsetzte. Dabei geht es einfach um die Tatsache. In unserer Stelle indessen, können wir beobachten, daß die Einnahme Seines Sitzes eine Belohnung für ein Leben des Glaubens darstellt. Als Folge davon, daß Er das Kreuz erduldet und die Schande nicht geachtet hat, nimmt hier das Wort für „Sitzen“ einen bemerkenswert schönen Glanz an und eine Bedeutung, die von der in allen anderen Stellen abweicht. Das Gewicht liegt nicht nur darauf, was Er einmal getan hat, sondern auch auf dem, was Er noch tut. Die Aufmerksamkeit wird auf die Dauerhaftigkeit Seiner Stellung zur Rechten Gottes gerichtet. Natürlich nahm Jesus Seinen Platz dort ein; der wahre Text (κεκάθικεν) vermittelt jedoch mehr. Das sei allerdings nur beiläufig erwähnt.
Ohne Frage wird der Herr als der Vollender des ganzen Wegs des Glaubens in dessen tiefster und, sittlich gesehen, herrlichster Form betrachtet. Anstatt daß wir sehen, wie eine Person den einen Sachverhalt verdeutlicht, eine andere einen weiteren, vereinigte der Herr Jesus auf Seinem Pfad die Vollkommenheiten aller Versuchungen - nicht allein als Heiland, sondern auch unter dem Gesichtspunkt des Zeugen auf Seinen Wegen für Gott hienieden. Wer wandelte jemals so im Glauben wie Er? Denn Er ist tatsächlich und wahrhaftig ein Mensch wie jeder andere, obwohl Er unendlich über jedem Menschen steht.
Aus dieser Wahrheit werden praktische Lehren von großem Wert entnommen. „Denn betrachtet den, der so großen Widerspruch von den Sündern gegen sich erduldet hat, auf daß ihr nicht ermüdet, indem ihr in euren Seelen ermattet. Ihr habt noch nicht, wider die Sünde ankämpfend, bis aufs Blut widerstanden, und habt der Ermahnung vergessen, die zu euch als zu Söhnen spricht.“ (V. 3-5). So zeigt uns der erste Teil des Kapitels, was Gott dem neuen Menschen anbietet. Doch der Hebräerbrief blickt auf den Christen nicht einfach als einen neuen Menschen, sondern vielmehr als eine konkrete Person. Vom Anfang bis zum Ende des Briefes wird der Christ nicht als getrennt von seiner alten Natur gesehen wie in den normalen Briefen von Paulus. Dort werden alter und neuer Mensch sorgfältig unterschieden. Das gilt nicht für die Briefe von Petrus und Jakobus, welche in dieser Hinsicht mit dem Hebräerbrief übereinstimmen. Ich nehme an, daß der Grund dafür darin liegt, daß der Apostel dem jüdischen Gläubigen dort begegnet, wo er sich befindet, indem er soweit wie möglich das berücksichtigt, was für den Erlösten des Alten Testaments galt und somit in der jüdischen Denkweise lag. Es ist nun offensichtlich, daß im Alten Testament keine Unterscheidung zwischen Fleisch und Geist in einer Weise getroffen wird, wie wir sie in der allgemeinen Lehre des Christentums herausgestellt sehen.
Der Apostel beschäftigt sich mit den Erlösten in Hinsicht auf ihren Wandel. Er hatte gezeigt, wie allein Christus die Sünden der Gläubigen weggewaschen hat und wie Er im Himmel als Priester in der Gegenwart Gottes weilt, um für sie in ihren Schwachheiten und Gefahren einzutreten. So sehen wir Christus jetzt, da der Apostel zur Frage des Wandels kommt, als den Anfänger dieses Wandels. Folglich sind diese Ausführungen ein Appell an die Herzen, welche Christus, dem verworfenen König und heiligen Dulder, anhangen, der sich jetzt in der Herrlichkeit droben befindet. Das vervollständigt als Vorbild für den Gläubigen notwendigerweise alles. Aber es gibt sowohl Hindernisse als auch Sünden, durch welche der Feind uns von dem Wettlauf abhalten will, der vor uns liegt, während Gott Seine Zucht zu unseren Gunsten ausübt. So zeigt der Apostel, daß wir nicht nur ein vollkommenes Muster bezüglich des Wandels im Glauben benötigen, sondern auch Züchtigungen auf dem Weg. Diese müssen, wie er sagt, von einem Vater kommen, der seine echten, aber unvollkommenen Kinder liebt. Die Fremden erfahren nicht eine solche Vorsorge. Zunächst einmal ist es Liebe, welche uns auf den Pfad beruft, den Christus geschritten ist. Als nächstes züchtigt die Liebe uns. Christus benötigte niemals Züchtigung, wir hingegen wohl. Der Apostel urteilt: Während unsere Eltern uns nach bestem Können gezüchtigt haben (denn ihr Urteil kann schließlich nicht vollkommen gewesen sein), macht der Vater der Geister keine Fehler. Er hat nur eine einzige feststehende Absicht der Güte für uns. Er wacht und urteilt zu unserem Besten und zu nichts anderem. Er beabsichtigt uns zu Mustern Seiner Heiligkeit zu machen. Das führt Er jetzt aus. Er läßt in Verbindung damit selbstverständlich zu, daß die Züchtigung nicht erfreulich, sondern schmerzhaft wirkt. Wir beginnen mit Seiner Liebe und enden in ihr in ihrer Endlosigkeit. Der Vater entfernt nur Hemmnisse und erhält unsere Gemeinschaft mit Sich Selbst aufrecht. Das sollte sicherlich für den Gläubigen jede Frage beantworten. Wenn wir Seine vollkommene Liebe und ihre Weisheit kennen, besitzen wir die beste Antwort, um jeden murrenden Gedanken oder Wunsch des Herzens zum Schweigen zu bringen.
Nichts ist ernster, als die Gnade gegen die Heiligkeit zu setzen. Nirgendwo gibt der Apostel den geringsten Anlaß für einen solchen Gedanken. So sagt er hier seinen Lesern: „Jaget dem Frieden nach mit allen und der Heiligkeit, ohne welche niemand den Herrn schauen wird; indem ihr darauf achtet, daß nicht jemand an der Gnade Gottes Mangel leide.“ (V. 14-15). Es geht nicht um das Gesetz, das ein Jude natürlicherweise für den Maßstab des Willens Gottes hält, als gälte es heute noch genauso wie für Israel in alter Zeit. Wie leicht vergessen sogar wir, daß wir keine Juden sind, sondern Christen! Der Verstand vermag die Gnade nicht richtig einzuschätzen, vielmehr aber das Gesetz. So neigen die Menschen dazu, wenn Dinge sich falsch entwickeln, das Gesetz hineinzubringen. Es ist durchaus erlaubt, dasselbe in einer à fortiori 1 - Weise zu gebrauchen wie der Apostel in Epheser 6. Denn wenn jüdische Kinder ihren Vater und ihre Mutter auf gesetzlicher Grundlage ehrten, sollten sicherlich christliche Kinder auf dem Boden der Gnade erst recht so handeln.
Eine weitere bedeutsame Aufforderung ist: Achtet darauf, „daß nicht irgend eine Wurzel der Bitterkeit aufsprosse und euch beunruhige, und viele durch diese verunreinigt werden; daß nicht jemand ein Hurer sei oder ein Ungöttlicher wie Esau, der für eine Speise sein Erstgeburtsrecht verkaufte.“ Auf diese Weise erkennen wir, daß sowohl verderbte Leidenschaften auf der einen sowie Weltlichkeit auf der anderen Seite schonungslos durch die Gnade Gottes verurteilt werden. Wenn das Gesetz in solchen Fällen ein wenig Barmherzigkeit zeigte, so sieht die Gnade Gottes jede Sünde als unerträglich an.
Das Erwähnen von Esau führt den Apostel dazu, als bekannte Tatsache in jenem Fall hinzuzufügen, daß Esau, als er den Segen suchte, verworfen wurde (denn er fand keinen Raum für die Buße), obwohl er ihn mit Tränen eifrig suchte. Das heißt: Er strebte mit Tränen nach dem Segen, welcher Jakob gegeben wurde. Er ließ jedoch der Buße in der Bedeutung einer Sinnesänderung keinen Raum; denn ich setze voraus, daß das Wort hier, wie zweifellos an verschiedenen anderen Stellen, dieses meint. In der üblicheren Anwendung umfaßt es nämlich Tieferes. Nicht jede Sinnesänderung ist wirklich Buße, welche lehrmäßig von jener besonderen und tiefgehenden Umwälzung in der Seele spricht, in der wir gegen uns selbst die Partei Gottes ergreifen. Dabei verurteilen wir unsere vergangenen Wege - ja, sogar das, was wir sind - aus Gottes Sichtfeld heraus. Danach verlangte Esau niemals; denn niemals gab es einen Menschen, der solche Buße suchte und sie nicht fand. Esau hätte gerne den Segen empfangen, bzw. zurückgewonnen. Doch Gott hatte ihn anderweitig vergeben; und Esau selbst hatte ihn verwirkt. Alles war so vorbereitet, daß weder Isaaks Parteilichkeit, noch Jakobs Betrug den Strom [des Segens; Übs.] umleiten konnte. Isaaks Absicht versagte völlig, seinem irdisch gesinnten Lieblingssohn den Segen zu sichern. Zuletzt erkannte er seinen Irrtum und besiegelte Gottes ursprüngliche Bestimmung in dieser Angelegenheit.
Jetzt werden wir mit einem großartigen Bild des Christentums im Vergleich zum Judentum ermuntert. Wir sind nicht zum Sinai gekommen, jenem Berg, der mit Feuer brannte, noch zu Dunkel, Finsternis und Sturm und zu einer Stimme, die schrecklicher als die Naturelemente redete. Wozu sind wir gekommen? Zum Berg Zion! Und worin unterscheidet er sich von dem früheren, soweit es hier gezeigt wird? Wenn wir die geschichtlichen Tatsachen im Alten Testament untersuchen, was hebt Zion vor aller Augen heraus? Wann erscheint er zum ersten Mal? - Nachdem das Volk erprobt worden war und sich als mangelhaft erwiesen hatte! Nachdem das Priestertum, soweit möglich, noch größere Verderbnis hervorgerufen hatte! Nachdem der König nach der Wahl Israels das Volk auf das Tiefste herabgewürdigt hatte! Es befand sich demnach in einer Krise, nachdem die Anhäufung des Bösen in schmerzvollster Weise auf dem Herzen Israels lastete. Aber wenn sich Volk, Priester und König auf diese Weise als nichtig erwiesen hatten, war Gott da; und Seine Gnade kann nicht versagen. Der schauderhafte Ruin des Volkes versetzte es in Umstände, die dem Gott aller Gnade angemessen waren. Gerade zu dieser Zeit trat ein Wendepunkt ein. Gott stellte Seine Wahl vor - David -, nachdem das elende Ende Sauls und Jonathans die Philister triumphieren und das Volk in einer kaum überbietbaren Weise völlig entmutigt sah. Der Hügel Zion war bis zu dieser Zeit eine ständige Bedrohung durch den Feind gegen das Volk des Herrn. Doch zur angemessenen Zeit, als David herrschte, wurde er den Jebusitern entwunden und zur Festung Jerusalems, der Stadt des Königs. Aber ab dann - wie wird er in den Psalmen und Propheten als Bild verwendet! Zion ist also ein Denkmal für solche wie uns. Mögen die blinden Juden ihre blicklosen Augäpfel dem Berg Sinai zuwenden! Mögen Menschen, die sehen können, einmal dorthin blicken! Was finden sie? Verdammung, Dunkelheit, Tod! Doch was ist mit Zion? Dieser Berg spricht von der gewaltigen Dazwischenkunft Gottes in Gnade - ja, mehr als das! Wir erkennen Vergebung, Befreiung, Sieg und Herrlichkeit für das Volk Gottes.
Nicht nur daß David von Jahwe jenen Thron empfing, sondern das Volk Gottes wurde auch niemals vorher aus einem solchen Zustand des Elends und der Trostlosigkeit herausgehoben und in eine solch hohe Stellung eines festen und unerschütterlichen Triumphs geführt wie unter der Regierung dieses einen Mannes. Er selbst hatte mehr als sonstige Menschen Kummer und Verwerfung in Israel erfahren. Dennoch bestieg er nicht nur den Thron Jahwes, sondern erhöhte auch Gottes Volk zu einer solchen Macht und einem solchen Gedeihen, wie es sie niemals vorher erlangt hatte. Obwohl das Wohlergehen äußerlich gesehen zweifellos bis in die Zeit Salomos reichte, war es nichtsdestoweniger eine Frucht der Leiden, der Macht und der Herrlichkeit Davids. Gott ehrte den Sohn um des Vaters willen. Das Glück blieb nur kurze Zeit; denn selbst damals begann es bald bis zu den Grundlagen hinab Risse zu zeigen. Sie wurden sehr schnell sichtbar in Salomos Sohn.
Der Apostel beginnt demnach zu Recht mit Zion. Welcher Berg konnte so schön dem Sinai entgegengestellt werden? Welcher Berg im Alten Testament spricht so sehr von Gnade und Gottes barmherzigem Eingreifen zugunsten Seines Volkes, als alles verloren war?
Wir beginnen also rechtmäßig mit Zion; und von dort dürfen wir den Pfad der Herrlichkeit hinauf bis zu Gott Selbst und hinab bis zum Königreich auf der Erde verfolgen. Es ist unmöglich, höher als bis zum Höchsten empor zu steigen, von wo der Apostel dann zu den Ergebnissen hinab steigt. Tatsächlich können wir sagen, daß die ganze Lehre des Briefs an die Hebräer gerade so dargestellt wird: Wir beginnen mit der Grundlage der Gnade, die bis zu Gott in den Himmeln führt; und dort erfahren wir mit Gewißheit, daß hier der Strom der Gnade entspringt, welcher nicht austrocknen kann, und daß er unbezweifelbar bald in endloser Segnung für die Erde ausströmt. Das gilt in ganz besonderer Weise für das Volk Israel am Tag Jahwes.
Folglich finden wir hier zu unserer Belehrung eine bemerkenswerte Linie des Segens. „Ihr seid gekommen zum Berge Zion“, welcher der höchste Punkt der Gnade auf der Erde im Alten Testament war. Andere Völker mochten ohne Zweifel von ihrem Ararat, ihrem Olymp oder ihrem Ätna sprechen. Aber wer konnte sich des wahren Gottes rühmen, der Sein Volk in einer Weise liebte, wie sie Zions angemessen war? Durfte indessen ein Jude hier einwerfen, daß der Apostel einfach nur von der Stadt Davids sprach? Möge er seinen Irrtum erkennen! „Und zur Stadt des lebendigen Gottes [nicht des sterblichen Davids], dem himmlischen Jerusalem“ (nicht der irdischen Hauptstadt Palästinas). Diesen Ausdruck nehme ich als eine allgemeine Beschreibung jenes Schauplatzes der Herrlichkeit, nach der Abraham ausschaute. Er konnte nichts vom Geheimnis der Kirche [Versammlung], Christi Leib, noch von ihren Hoffnungen als Braut wissen. Aber er erwartete die Stadt, welche hier das „himmlische Jerusalem“ genannt wird, jene Stadt, „deren Baumeister und Schöpfer Gott ist.“ (Hebräer 12,10). Dieser Ausdruck enthält nicht die geringste Anspielung auf die Kirche. Tatsächlich wird nirgendwo im Hebräerbrief sich in irgendeiner Weise auf das besondere Teil ihrer Vereinigung mit ihrem Haupt bezogen. Wenn ich sage, daß Abraham eine Stadt erwartete, dann heißt das: einen gesegneten und geordneten Schauplatz der Herrlichkeit in der Höhe, welcher vor seinen Augen das Heilige Land überschattete. Das spricht allerdings nicht von der Kirche, sondern vielmehr von dem zukünftigen Sitz der allgemeinen himmlischen Seligkeit für die verherrlichten Erlösten.
Danach fügt der Schreiber hinzu: „Und zu Myriaden von Engeln, der allgemeinen Versammlung [denn an dieser Stelle müssen wir den Vers teilen]; und zu der Versammlung der Erstgeborenen ...“ (V. 22-23). Das beweist, daß die himmlische Stadt Jerusalem nicht die Kirche ist, denn hier sind beide ausdrücklich voneinander unterschieden. Damit werden alle Beweisgründe wiederlegt, welche häufig mit Abrahams Erwartung einer himmlischen Stadt begründet werden. Letztere ist nicht, ich wiederhole es, die Kirche, sondern das, was Gott im Himmel für jene, die Ihn lieben, bereitet hat. Es ist wahr, der Apostel Johannes benutzt diese Stadt als Bild für die Braut. Dennoch unterscheidet dieser wesentliche Gegensatz die Stadt, welche Abraham erwartete, von der Braut, welche in der „Offenbarung“ auf diese Weise versinnbildlicht wird. Wenn der Apostel Paulus von der „Stadt des lebendigen Gottes, dem himmlischen Jerusalem“ spricht, denkt er an den Schauplatz der zukünftigen himmlischen Segnung. Wenn hingegen Johannes vom neuen Jerusalem, das aus dem Himmel von Gott herabkommt, redet, meint er nicht unseren Wohnort, sondern was wir sein werden. Dieser Unterschied ist sehr groß. Der Brief stellt uns den im Himmel zubereiteten Platz der Herrlichkeit vor. Die „Offenbarung“ spricht von der Braut, die in einer herrlichen goldenen Stadt vorgestellt wird, in Bildern, die jede natürliche Darbietung sprengen. Das eine mögen wir die objektive Herrlichkeit nennen, das andere den subjektiven Zustand derjenigen, welche die Braut, das Weib des Lammes, bilden.
Nachdem er uns die „Versammlung der Erstgeborenen, die in den Himmeln angeschrieben sind“ vor die Blicke gestellt hat, kann der Apostel dann von „Gott, dem Richter aller“, sprechen. Er beschreibt Ihn also in Seinem richterlichen Charakter. Der Grund scheint darin zu liegen, daß er uns von den Gläubigen des Alten Testaments berichten will. Sie kannten Gott in Seiner Vorsehung und Seinen Handlungsweisen auf der Erde, obwohl sie auch einen Messias und Seinen Tag erwarteten. Demnach führt Paulus dann die „Geister der vollendeten Gerechten“ an. Das sind offensichtlich die Ältesten der alten Zeit. Niemand anderes als die Erlösten des Alten Testaments können sich, als Gruppe gesehen, ohne Ausnahme in einem vom Leib getrennten Zustand befinden - im Unterschied zur Kirche. Die neu-testamentlichen Heiligen werden nämlich nicht alle entschlafen und genauso wenig die Erlösten des Tausendjährigen Reiches, weil niemand von letzteren sterben wird. Der Bezug ist infolgedessen klar und eindeutig.
Danach hören wir von „Jesu, dem Mittler eines neuen Bundes.“ (V. 24). Er ist das Pfand für die vollkommene und unveränderliche Segnung Israels. Zuletzt weist der Apostel auf das „Blut der Besprengung, das besser redet als Abel“, hin. Das ist die Versicherung, daß die Erde von der langen Periode des Leids und der Sklaverei befreit werden wird.
Damit ist die Kette der Segnung vollständig. Der Schreiber hat uns in Zion den sinnbildlichen Berg der Gnade im Gegensatz zum Sinai, dem Berg des Gesetzes, gezeigt. Wenn der eine das aufgebürdete Maß der Verantwortlichkeit des Menschen darstellt, welche letzteren auf gerechtem Boden nur verdammen kann, erkennen wir in dem anderen den Berg der Gnade, nachdem alles verloren war. Danach folgt die himmlische Herrlichkeit, zu welcher die Gnade natürlicherweise leitet. Dann werden die eigentlichen Bewohner des himmlischen Landes, nämlich die Engel - „Myriaden von Engeln, der allgemeinen Versammlung“ - genannt. Daraufhin zeigt der Apostel andere, die durch göttliche Berufung höher als die Engel gestellt sind - „Versammlung der Erstgeborenen, die in den Himmeln angeschrieben sind.“ Sie gehören nicht zum Himmel wie die Engel, sondern Gott hat einen ewigen Vorsatz, der sie durch außerordentliche Gunst dorthin gebracht hat; und dann, im Zentrum von diesem allen, sehen wir Gott Selbst. Nachdem wir Den angeschaut haben, der über allem ist, wird von jener Menschengruppe gesprochen, die Gott in Seinem richterlichen Charakter am nächsten steht, nämlich von den alt-testamentlichen Erlösten. Woraufhin der Apostel auf einen neuen Bund (nicht καινῆς, wie sonst, sondern νέας 2) zu sprechen kommt, den kürzlich eingeführten Bund für die beiden Häuser des alten Volkes. Auch wenn das Blut, auf das dieser Bund gegründet ist, schon vor langer Zeit geflossen ist - wird nicht dann, wenn dieser Bund für Israel in Kraft tritt, das Blut noch genauso frisch sein wie an dem Tag, als das kostbare Opfer starb und Sein Blut vergoß? Ich kann hier ausschließlich einen Bezug zu den beiden Häusern Israels erkennen. Wenn auf diese Weise das Volk auf dem bald kommenden Schauplatz unwandelbar gesegnet dargestellt wird (denn das Salz wird bei diesem Bund keineswegs fehlen), hören wir zuletzt von der Freude der Erde selbst, nachdem der Fluch für immer weggenommen ist. Das geschieht durch das „Blut ..., das besser redet als Abel.“ Um des Blutes der heiligen Märtyrer willen ruft die Erde zu Gott nach Rache. Das Blut Christi hingegen verkündet Barmherzigkeit von Gott; und der Tag des Tausendjährigen Reiches wird ein herrliches Zeugnis von der Tiefe, der Ausdehnung und der Beständigkeit dieses Blutes vor dem ganzen Universum ablegen.
Das Übrige des Kapitels führt folglich die abschließende Szene ein, wenn der Herr kommt, um alles zu erschüttern und jenen gesegneten Tag einzuführen. Aber wenn es auch um ein Erschüttern aller Dinge geht - nicht nur die Erde, sondern auch der Himmels werden erschüttert -, so gibt die Gnade, wunderbar zu sagen!, ein solches Herzensvertrauen, daß diese überaus schreckliche Drohung sich in eine gesegnete Verheißung verwandelt. Denke dir: Die Erschütterung von Himmel und Erde ist eine Verheißung! Ausschließlich wenn wir unsere Herzen unumschränkt in der Gnade Gottes gegründet haben, vermögen wir auf ein zerstörtes Universum zu blicken und dabei von „Verheißung“ zu reden. Doch das ist die Sprache, die wir zu lernen und zu sprechen haben, so wie wir auch berufen sind, in Gott zu ruhen und nicht im Geschöpf.
Fußnoten