Einführende Vorträge zum Hebräerbrief

Kapitel 10

Einführende Vorträge zum Hebräerbrief

In Kapitel 10 wendet der Apostel diese Wahrheit auf den gegenwärtigen Zustand des Gläubigen an. Er hatte das Werk Christi und Sein Wiederkommen in Herrlichkeit gezeigt. Was liegt dazwischen? Das Christentum! Und jetzt lernen wir die unmittelbare Anwendung. Der Christ steht zwischen dem Kreuz und der Herrlichkeit des Herrn Jesus. Er ruht vertrauensvoll auf dem Kreuz, jener einzigen wirksamen Grundlage vor Gott. Gleichzeitig wartet er auf die Herrlichkeit, die geoffenbart werden soll. „Denn da das Gesetz einen Schatten der zukünftigen Güter, nicht der Dinge Ebenbild selbst hat, so kann es nimmer mit denselben Schlachtopfern, welche sie alljährlich ununterbrochen darbringen, die Hinzunahenden vollkommen machen. Denn würde sonst nicht ihre Darbringung aufgehört haben, weil die den Gottesdienst Übenden, einmal gereinigt, kein Gewissen mehr von Sünden gehabt hätten?“ (V. 1–2). Kein Jude konnte behaupten, eine solche Reinigung empfangen zu haben.

Ich möchte nun fragen, ob (und inwieweit) alle hier versammelten Gläubigen diese Stellung in Einfalt persönlich einnehmen können. Du, als Christ, solltest das ruhige, feste Bewußtsein haben, daß Gott, wenn Er auf dich blickt, nicht einen Flecken oder Makel bei dir wahrnimmt. Er sieht ausschließlich das Blut Jesu Christi, Seines Sohnes, das von aller Sünde reinigt. Du solltest die Gewißheit haben, daß es für dich auch in der Zukunft kein Gericht bei Gott mehr geben wird, so wahrhaftig Er dich als Vater hier auf der Erde noch züchtigen mag. Wie kann ein solches Bewußtsein Teil eines Christen werden? – Indem der Heilige Geist dieses Zeugnis – und kein geringeres – von der Vollkommenheit des Werkes Christi ablegt! Falls Gottes Wort wahr ist, und daran hält der Heilige Geist fest, hat das Blut Christi so vollständig die Sünden des Gläubigen abgewaschen. Ich spreche von den Sünden, nicht von der Sünde als Grundsatz. Es geht um die Wirklichkeit, wenn sie auch nur für den Glauben gilt. Die Gottesdienstübenden sollten, einmal gereinigt, kein Gewissen mehr von Sünden haben. Damit wird nicht unterstellt, daß sie nicht mehr sündigen oder daß sie kein Bewußtsein von ihrem Versagen in Vergangenheit oder Gegenwart mehr hätten. „Gewissen ... von Sünden“  bedeutet Furcht vor Gott, der den Sünder für seine Sünden richtet. Gericht erwartet der Erlöste nicht mehr; denn er kennt Gottes Gnade im Werk Christi für ihn. Im Gegenteil ruht er in der Gewißheit der Vollkommenheit, mit der seine Sünden durch das kostbare Blut Christi abgewaschen sind.

Dieser Brief besteht darauf, daß das Blut Christi in jenem für uns wirkungsvollen Werk alles verwandelt hat. Das war in alter Zeit nicht so, als der Israelit seinen Bock oder sein Kalb brachte. „In jenen Opfern“, die sich auf das Gesetz bezogen, zu dem einige der hebräischen Christen in Gefahr standen zurückzukehren, „ist alljährlich ein Erinnern an die Sünden; denn unmöglich kann Blut von Stieren und Böcken Sünden hinwegnehmen.“ (V. 3–4). Daher konnten alle diese ständig wiederholten Opfer nur die Sünden ins Gedächtnis zurückrufen. Was indessen das Blut Christi bewirkt hat, ist so vollkommen, daß die Sünden ausgelöscht sind und Gott Selbst sagt: „Ihrer Sünden und ihrer Gesetzlosigkeiten werde ich nie mehr gedenken.“ (V. 17).

Darum wendet sich der Apostel jetzt der Aufgabe zu, als Unterschied die Schwachheit und Nutzlosigkeit der jüdischen Opfer herauszustellen, welche tatsächlich ausschließlich und jedes Mal die Sünden ans Licht brachten, anstatt sie wegzunehmen wie das Opfer Christi. In bewunderungswürdigster Weise beweist er, daß Gott gerade auf letzteres schon immer gewartet hat. Zuallererst: „Schlachtopfer und Speisopfer hast du nicht gewollt, einen Leib aber hast du mir bereitet; an Brandopfern und Opfern für die Sünde hast du kein Wohlgefallen gefunden. Da sprach ich: Siehe, ich komme (in der Rolle des Buches steht von mir geschrieben), um deinen Willen, o Gott, zu tun.“ (V. 5–7). Hier finden wir zwei Wahrheiten. Erstens stand in Gottes Ratschlüssen stets der Wunsch vor Ihm, eine Person zu haben, die mehr als ein Mensch ist und dennoch ein Mensch, um Sein größtes Werk auszuführen. Es gab nur Einen, der Gottes Willen in Hinsicht darauf tun konnte, was die tiefsten Bedürfnisse des Menschen betraf. Wer war dieser Eine? Allein Jesus! Für den ersten Adam und seine ganze Rasse gab es ausschließlich Tod und Gericht, denn er war ein Sünder. Hier gibt es indessen Einen, der Sich anbot zu kommen und auch gekommen ist. „In der Rolle des Buches steht von mir geschrieben“ - ein Buch, das niemals jemand gesehen hat als nur Gott und Sein Sohn. Dort stand geschrieben: „Siehe, ich komme ..., um deinen Willen, o Gott, zu tun.“ Erlösung war der erste Gedanke Gottes – ein Ratschluß Seinerseits, der bestand, bevor Er sich mit den Menschen beschäftigte und bevor die Notwendigkeit einer Erlösung empfunden wurde. Gott wünschte, daß Sein Wille ausgeführt würde und Er dabei für Sich ein Volk empfing, das fähig war, sich Seiner Gegenwart und Seiner Natur zu erfreuen – eine Beziehung, in der weder eine Frage der Sünde noch eines Sündenfalls in irgendeiner Weise stören sollte.

Zuerst erschuf Er einen Schauplatz, wo indessen sofort die Sünde auftrat. Weil Sein Volk kein Herz für Seine Verheißungen hatte, setzte Er ein System des Gesetzes und von Vorschriften ein, das von Israel nicht richtig eingeschätzt wurde und welches die Sünde anstachelte und sie offenkundiger und hassenswerter machte. Danach erst trat der wunderbare Ratschluß an das Licht, der dem Auftreten der Sünde des Menschen sowie auch den Verheißungen an die Väter und dem Gesetz, welches danach den Menschen auf die Probe stellte, weit vorausging. Und jene gesegnete Person erfüllte den Willen Gottes ohne irgendeine Hilfe, aber entsprechend den Ratschlüssen Gottes, im Opfer Seiner selbst am Kreuz.

So wird hier gesagt: „„Siehe, ich komme, um deinen Willen zu tun“. (Er nimmt das Erste weg [das ist das Gesetz], auf daß er das Zweite aufrichte)“ (das ist der Wille Gottes. Letzterer wird von Menschen häufig ohne Verständnis mit dem Gesetz verwechselt, welches doch an dieser Stelle in den entschiedensten Gegensatz gestellt wird.). (V. 9). Als nächstes kommt der Apostel mit wachsender Kühnheit zu den Beweisen aus dem Alten Testament, die davon sprechen, daß das gesetzliche System als ganzes beiseite gesetzt werden sollte. „Er nimmt das Erste weg.“  War das die Lehre des Paulus? Es war die der Psalmen! Die Juden konnten nicht leugnen, daß diese Worte im 40. Psalm standen. „Schlachtopfer und Speisopfer hast du nicht gewollt, einen Leib aber hast du mir bereitet; an Brandopfern und Opfern für die Sünde hast du kein Wohlgefallen gefunden. Da sprach ich: Siehe, ich komme (in der Rolle des Buches steht von mir geschrieben), um deinen Willen, o Gott, zu tun.“ Alles, was der Apostel tut, ist, diesen Willen zu deuten und auf das anzuwenden, was am Kreuz geschehen ist. „Durch welchen Willen“ (nicht dem des Menschen, welcher Sünde ist, sondern Gottes) „wir geheiligt sind durch das ein für allemal geschehene Opfer des Leibes Jesu Christi.“ (V. 10).

Das führt zu einem weiteren Gegensatz zur Tätigkeit des aaronitischen Priestertums. „Jeder Priester steht täglich da, den Dienst verrichtend und oft dieselben Schlachtopfer darbringend, welche niemals Sünden hinwegnehmen können. Er aber, nachdem er  ein Schlachtopfer für Sünden dargebracht, hat sich auf immerdar gesetzt zur Rechten Gottes.“ (V. 11–12). Sein Niedersetzen geschah mit Beständigkeit [d. h. ununterbrochen; Übs.]. Das ist die Bedeutung des Ausdrucks, und nicht, daß Er sich in Ewigkeit dort niedersetzen wird. „Eἰς τὸ διηνεκὲς“ drückt nicht Ewigkeit aus (es müßte dann „εἰς τὸν αἰῶνα“ oder ähnlich lauten), sondern „mit Stetigkeit“. Er sitzt dort ununterbrochen, im Gegensatz zum jüdischen Priester, der immer wieder aufstehen mußte, um ein neues Werk zu beginnen, weil es erneut Sünde gab; denn seine Opfer konnten die Sünde niemals endgültig wegnehmen. Die Tatsache stand also fest, daß der Priester immer und immer wieder sein Werk tat, ohne es jemals zu vollenden. Nun aber war in den herrlichen Tatsachen des Christentums ein Priester geoffenbart worden, der Sich zur Rechten Gottes niedergesetzt hat und der ausdrücklich nur darum Seinen Platz dort einnehmen konnte, weil unsere Sünden durch Sein Opfer ausgelöscht sind. Wenn es nach allgemeiner Vorstellung einen Ort für den Priester gab, um tätig zu sein, dann war es dieser Platz in der Gegenwart Gottes, es sei denn die Sünden waren vollständig weggetan – und das ist jetzt geschehen. Daher sitzt Derjenige zur Rechten Gottes, welcher der Zeuge davon ist.

Wie konnte jemand darüber streiten, der einfach Psalm 110 glaubte? Dort finden wir nicht einfach den Nachweis, daß der Messias Derjenige ist, den Gott mit einem Eid als „Priester in Ewigkeit nach der Weise Melchisedeks“ anredete. Wir lesen auch, daß der herrliche Sitz, den Er zur Rechten Gottes eingenommen hat, jenem unübertrefflichen fürbittenden Eintreten geweiht ist. Das Christentum berücksichtigt alles. Ein Jude verstand niemals sein Gesetz, bevor das Licht von Seiten Christi am Kreuz und aus der Herrlichkeit dasselbe beschien. So erhält der Psalm hier eine Aussage, die sich als wahr offenbart, sobald Christus, der die Wahrheit ist, vor die Blicke tritt. Das vermag nichts sonst. Demnach finden wir jetzt die dritte Anwendung des Platzes, den Christus eingenommen hat. Im ersten Kapitel sahen wir den Thron Seiner persönlichen Herrlichkeit in Verbindung mit der Sühne. Im achten Kapitel ist er das Zeugnis von Seinem Priestertum und wo sich dieses befindet. In unserem Kapitel beweist er die ununterbrochene Wirksamkeit des Opfers Christi. Bevor wir heute schließen, werden wir noch einen weiteren Gesichtspunkt finden, auf welchen ich an seinem Ort hinzuweisen hoffe.

Aber auch das Zeugnis des Heiligen Geistes wird nicht vergessen. So wie es sich um den Willen Gottes und das Werk Christi handelt, ist der Heilige Geist der Zeuge von der Vollkommenheit dieses Werkes. Die Grundlage sind wieder die eigenen Propheten der Briefempfänger. „„Dies ist der Bund“, sagt Er, „den ich ihnen errichten werde nach jenen Tagen, spricht der Herr: Indem ich meine Gesetze in ihre Herzen gebe, werde ich sie auch auf ihre Sinne schreiben“; und: „Ihrer Sünden und ihrer Gesetzlosigkeiten werde ich nie mehr gedenken“.  Wo aber eine Vergebung derselben ist, da ist nicht mehr ein Opfer für die Sünde.“ (V. 16–18).

Danach hören wir vom praktischen Gebrauch dieser Wahrheiten. „Da wir nun, Brüder, Freimütigkeit haben zum Eintritt in das Heiligtum durch das Blut Jesu, auf dem neuen und lebendigen Wege, welchen er uns eingeweiht hat durch den Vorhang hin, das ist sein Fleisch, und einen großen Priester über das Haus Gottes, so laßt uns hinzutreten mit wahrhaftigem Herzen, in voller Gewißheit des Glaubens, die Herzen besprengt und also gereinigt vom bösen Gewissen, und den Leib gewaschen mit reinem Wasser. Laßt uns das Bekenntnis unserer [so sollte es lauten 1] Hoffnung unbeweglich festhalten, (denn treu ist er, der die Verheißung gegeben hat); und laßt uns aufeinander achthaben zur Anreizung zur Liebe und zu guten Werken, indem wir unser Zusammenkommen nicht versäumen, wie es bei etlichen Sitte ist, sondern einander ermuntern, und das umsomehr, jemehr ihr den Tag herannahen sehet.“ (V. 19–25). Je höher das Vorrecht, desto größer ist die Gefahr, es zu verachten oder zu mißbrauchen.

Im sechsten Kapitel sahen wir, wie der Geist Gottes eine sehr ernste Warnung an solche richtet, die der Macht und Gegenwart des Heiligen Geistes als Zeugnis für das Christentum den Rücken kehren. Hier warnt der Apostel jene, welche sich von dem einzigartigen Opfer Christi abwenden. Offensichtlich finden wir hierin die beiden Hauptinhalte des Christentums. Die Grundlage ist das Opfer; die Kraft ist aus dem Heiligen Geist. In Wahrheit ist der Heilige Geist auf die Erde gekommen mit der Absicht, Sein Zeugnis abzulegen. Wer dieses um des Judentums oder aus anderen Gründen aufgibt, ist ein Abtrünniger und Verlorener. Ist indessen jener Mensch besser oder sicherer, der das Opfer des Sohnes Gottes gering achtet und zurückgeht zu irdischen Opfern oder den Gelüsten des Fleisches, um der Sünde die Zügel schießen zu lassen, für deren Wegnahme der Sohn Gottes eigens Sein Blut vergossen hat? Eine Person, welche bekannt hat, den Wert der Segnung Gottes zu schätzen und letztere verläßt und sich bewußt und mit Vorbedacht in die Sünden des Fleisches stürzt, ist offensichtlich überhaupt kein Christ. Dementsprechend bekommen wir gezeigt, daß jener Mensch sich in einen Widersacher des Herrn umwandelt, mit dem sich Gott als einen solchen beschäftigen wird. In Kapitel 6 erklärt der Apostel, daß er in Hinsicht auf seine Leser von Besserem überzeugt ist, als daß sie den Heiligen Geist verlassen könnten. Hier erwartet er Besseres, als daß sie in dieser Weise das Opfer Christi entehren würden. In dem früheren Fall schreibt er, war Gott nicht ungerecht, „eures Werkes zu vergessen und der [Bemühungen der] Liebe.“ [Hebräer 6, 10]. An unserer Stelle läßt er sie wissen, daß er selbst nicht vergessen hat, in welcher Weise sie für Christus gelitten hatten. In Kapitel 6 ging es besonders um die Tätigkeit des Glaubens, hier um die Leiden des Glaubens.

Das führt uns in das Leben des Glaubens hinein, das für einige dieser christlichen Juden ein großer Stein des Anstoßes war. Sie konnten nicht verstehen, wieso sie jetzt in beträchtlichere Schwierigkeiten gekommen waren als vorher. Niemals hatten sie eine so ausgedehnte, regelmäßig wiederkehrende und nicht nachlassende Prüfung erlebt. Es schien, als sei alles gegen sie. Sie hatten Fortschritt, Triumph, Friede und Gelingen in allen Dingen erwartet. Statt dessen waren sie in Unehre und Schande geraten – sei es in eigener Person, sei es indem sie „Genossen“ wurden von solchen, die in dieser Weise litten. Der Apostel faßt indessen alle diese Schwierigkeiten bei den Hörnern, indem er ihnen ohne weiteres sagt, daß sie jene Leiden letztlich erdulden mußten, weil sie sich auf dem richtigen Weg befanden. Beides, sowohl das Kreuz auf der Erde als auch die Herrlichkeit im Himmel, gehören zusammen. Genauso, wie sie zusammengehören, prüfen sie auch einen Wandel mit Gott. Auf der einen Seite steht der Glaube, auf der anderen das Leiden. Das war, wie der Apostel festhält, schon immer so. Er predigte nichts Neues. So stellt demnach der Hebräerbrief den Glaubenden in eine Verbindung mit Christus. Doch trotz diesem allen sondert er den Erlösten keinesfalls von jedem Guten ab, das in den Heiligen Gottes in allen Zeiten gefunden werden konnte. Darum hält der Apostel mit Sorgfalt jede Verbindung mit den früheren Zeugen Gottes im Glauben und Leiden – nicht in den Anordnungen [des Gesetzes; Übs.] – aufrecht.

Fußnoten

  • 1 vgl Apparat zu „Nestle-Aland“, 27. Aufl.! (Übs.).
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