Einführende Vorträge zum Hebräerbrief
Kapitel 8
So zieht der Apostel in Kapitel 8 seine Schlußfolgerung: „Die Summe dessen aber, was wir sagen, ist: Wir haben einen solchen Hohenpriester, der sich gesetzt hat zur Rechten des Thrones der Majestät in den Himmeln, ein Diener des Heiligtums und der wahrhaftigen Hütte, welche der Herr errichtet hat, nicht der Mensch.“ (V. 1-2). In Hebräer 1 steht geschrieben: „Nachdem er durch sich selbst die Reinigung der Sünden bewirkt, sich gesetzt hat zur Rechten der Majestät in der Höhe.“ Dort geht es um die persönliche Herrlichkeit. Kein anderer Platz war einer solchen Person angemessen. Er setzte sich dort nieder aufgrund eigener Rechte und Ansprüche. Nichtsdestoweniger machte es einen Teil Seiner göttlichen Herrlichkeit aus, die durch Sein Weilen dort bezeugt wurde. Andererseits war Seine Person erforderlich, damit Sein Blut wirksam werden konnte, um unsere Sünden zu reinigen. Doch in Kapitel 8 sitzt Er nicht nur zur Rechten Gottes als der Beweis der Vollkommenheit, mit der Er unsere Sünden allein durch Sich selbst gereinigt hat, sondern auch als der Priester. Folglich wird nicht einfach gesagt: „in der Höhe“, sondern: „in den Himmeln“. Darauf liegt die Betonung. Beachten wir also den Wechsel des Ausdrucks! Er hatte sich als eine göttliche Person erwiesen sowie als der wahre königliche Priester, von dem nicht Aaron, sondern Melchisedek das Vorbild war. Daher wird der Platz zur Rechten des Throns hier vorgestellt, andererseits aber auch die „Majestät in den Himmeln“. Mochten also die Juden sagen, was sie wollten - wir finden nur das bezeugt, was ihren eigenen Schriften entspricht und die unbestreitbare Überlegenheit des großen Priesters zeigt, den Melchisedek vorschattet und dessen sich die Christen zu Recht rühmten. Er ist „Diener des Heiligtums und der wahrhaftigen Hütte, welche der Herr errichtet hat, nicht der Mensch.“ Der Ton wird nun den Hebräern gegenüber kühner. Der Apostel zeigt eindeutig, daß die Juden nur eine leere Form hatten, einen Vorschatten, der einstmals von Wert war, aber jetzt von dem wahren Gegenbild im Himmel übertroffen wird.
Jetzt beginnt er auch das Werk eines Priesters vorzustellen, das ist die Ausübung seiner Aufgabe. „Denn jeder Hohepriester wird bestellt, um sowohl Gaben als auch Schlachtopfer darzubringen; daher ist es notwendig, daß auch dieser etwas habe, das er darbringe. Wenn er nun auf Erden wäre, so wäre er nicht einmal Priester, weil solche da sind, die nach dem Gesetz die Gaben darbringen, (welche dem Abbilde und Schatten der himmlischen Dinge dienen, gleichwie Moses eine göttliche Weisung empfing, als er im Begriff war, die Hütte aufzurichten; denn „siehe“, spricht er, „daß du alles nach dem Muster machest, das dir auf dem Berge gezeigt worden ist“). Jetzt aber hat er einen vortrefflicheren Dienst erlangt, insofern er auch Mittler ist eines besseren Bundes.“ (V. 3-6). In dieser Weise werden, bevor der Apostel ausführlich auf das Thema der Opfer zu sprechen kommt, die Bünde in den Blick gerückt. Dazu zieht er seine Schlußfolgerung aus der wohlbekannten Prophezeiung Jeremias, wo Gott erklärt, daß Tage kommen würden, an denen Er einen neuen Bund schließen wolle. Was entnimmt der Schreiber dieser Weissagung? Er legt Nachdruck auf die Tatsache eines neuen Grundsatzes für die Juden sowie einer Einsetzung, welche auf besseren Zusagen beruht. Denn warum sollte es einen neuen Bund geben, es sei denn der erste war unvollkommen oder unwirksam. Welche Notwendigkeit bestand für einen neuen Bund, wenn der alte ausreichte? Für die Juden war es ganz und gar unmöglich, daß Gott, nachdem Er einst einen Bund geschlossen hatte, diesen ändern könnte. Der Apostel antwortet jedoch, daß ihr eigener Prophet ihrer Theorie entgegensteht. Jeremia erklärt ausdrücklich, daß Gott einen neuen Bund schließen wolle; und hier erörtert der Schreiber, daß das Wort „neu“ den früheren Bund veralten läßt, um für einen besseren Platz zu schaffen. Ein neuer Bund zeigt, daß der andere alt geworden ist und daher vergeht. Er steht im Begriff zu verschwinden.
Alles dieses untergräbt nach und nach die Mauern, bis der ganze Bau umgestürzt ist. Darauf wirkt der Apostel hin; und er führt dieses Werk mit göttlicher Geschicklichkeit aus, indem er das Zeugnis ihres eigenen Gesetzes und ihrer Propheten anwendet. Er braucht nichts weiteres zur Person Christi und den Tatsachen hinzuzufügen, als das Alte Testament liefert, um die Wahrheit des Christentums und aller seiner kennzeichnenden Lehren, mit denen er sich in diesem Brief beschäftigt, zu beweisen. Ich sage nicht, daß alle großen Wahrheiten des Christentums hier angeführt sind. Wo es um das Geheimnis Christi als das Haupt und um die Kirche als Seinen Leib geht, können diese Wahrheiten nicht aus dem Alten Testament bewiesen werden, da sie dort nicht geoffenbart sind. Es war in Gott „von den Zeitaltern und von den Geschlechtern her verborgen.“ (Kol 1, 26). Es gibt Vorbilder, die zu dem Geheimnis, seitdem es geoffenbart ist, passen; aber in sich selbst konnten sie es nicht bekannt machen, obwohl sie jetzt im Nachhinein gewisse Einzelheiten veranschaulichen. Aber sei es, daß wir auf die himmlische Oberhoheit Christi über das Universum blicken, welches der erhabenste Teil des Geheimnisses ist, sei es auf die Kirche, die als Sein Leib mit Ihm verbunden ist und aus Juden und Nichtjuden besteht, sodaß alle Unterschiede beseitigt sind - keine Weisheit des Menschen vermochte diese Wahrheiten vorab aus dem Alten Testament zu entnehmen. Tatsächlich ist es nach Ansicht des Apostels ein Mißgriff, wenn wir solche Wahrheiten im Alten Testament suchen, da sie dort nicht geoffenbart sind.
Demnach bezieht sich der Hebräerbrief nirgendwo auf den Leib Christi als solchen. Wir lesen von der Kirche (Versammlung). Aber selbst dort, wo das Wort „Versammlung“ erscheint, wie in Kapitel 2,12, ist die Aussage ganz unbestimmt. Wir erfahren nicht von ihrer Einheit, sondern ausschließlich von den Einzelwesen, die sie bilden. Es ist die Versammlung, wie sie aus gewissen Einzelmenschen zusammen gefügt ist. Diese werden sowohl als Brüder, wie im zweiten Kapitel („Inmitten der Versammlung will ich dir lobsingen.“), oder als die Versammlung der Erstgeborenen, wie in Kapitel 12 betrachtet. Sie empfangen ihren Titel von Christus, dem erstgeborenen Erben. Das sind diejenigen, welche die Versammlung bilden, in ihrem Bezug zu Christus. Sie stehen im Gegensatz zur Stellung Israels als Nation wegen ihrer Nähe (zu Gott; Übs.), welche sie durch die Gnade Christi, den sie im Himmel kennen, besitzen.
Wir können gleichfalls bemerken, daß der Heilige Geist nur selten in diesem Brief erscheint. Damit leugnet natürlich niemand, daß auch Er Seinen besonderen Platz einnimmt; denn in Hinsicht auf jede Person der Trinität (Dreieinigkeit) gibt es, wie in allem anderen, nur Vollkommenheit. Seine ausführliche Erwähnung paßt indessen nicht zur Absicht des Briefes. Aus demselben Grund finden wir weder das Leben noch die Gerechtigkeit behandelt. Hier geht es nicht um Rechtfertigung. Von Heiligung lesen wir häufig; doch auch sie steht im allgemeinen eher in Verbindung mit Absonderung zu Gott und dem Werk Christi als mit der beständigen Kraft des Heiligen Geistes außer, soweit ich mich erinnere, in einem einzigen Abschnitt, der sich mit unserem praktischen Verhalten beschäftigt: „Jaget dem Frieden nach mit allen und der Heiligkeit, ohne welche niemand den Herrn schauen wird.“ (Heb 12,14). In den anderen Fällen spricht der Brief an die Hebräer von Heiligung durch die Berufung Gottes und Christi Blut. Ich weise darauf hin, um auf der einen Seite den wahren Inhalt des Briefes und das, was, wie ich glaube, in ihm gefunden wird, zu verdeutlichen und auf der anderen, vor dem Fehler zu warnen, in den Brief etwas hinein bzw. heraus zu deuten, was er nicht enthält.