Einführende Vorträge zum Hebräerbrief

Kapitel 7

Einführende Vorträge zum Hebräerbrief

Der Apostel nimmt jetzt sein großes Thema wieder auf, nämlich Christus, der als Priester Gottes für immer nach der Ordnung Melchisedeks berufen ist. Er spielt zu Beginn unseres Kapitels auf die geschichtlichen Tatsachen von 1. Mose an. Wir müssen im Gedächtnis behalten, daß Melchisedek ein Mensch war wie jeder andere. Meinem Urteil nach gibt es keinen Grund für den Gedanken, daß in seiner Person irgend etwas Geheimnisvolles liegt. Die Art, wie die Heilige Schrift ihn einführt, ist so, daß er ein treffendes Vorbild von Christus bietet. Es besteht keine Notwendigkeit, etwas anderes vorauszusetzen. Dem Geist Gottes, der die Zukunft vorschatten wollte, gefiel es, die Abstammungslinie und mögliche Nachkommenschaft Melchisedeks - falls eine solche vorhanden war, sowohl ihre Geburt als auch ihr Tod - zu verschweigen. Er wird plötzlich auf den Schauplatz geführt. Von ihm hat der Leser bisher nichts gehört; und er erfährt auch nichts Weiteres in der Geschichte. Das einzige Mal, in dem er Beachtung findet, handelte er in der doppelten Eigenschaft, von der hier gesprochen wird: Dem Namen nach war er König der Gerechtigkeit, entsprechend seinem Wohnort König von Salem. Er segnete Abraham nach seiner Rückkehr vom Sieg über die Könige der Nationen im Namen „Gottes des Höchsten“ und pries „Gott den Höchsten“, der Himmel und Erde besitzt im Namen Abrahams.

Der Apostel verweilt nicht bei einer eingehenden Anwendung des melchisedekschen Priestertums Christi in Hinsicht auf dessen Gegenstand und das Wesen seiner Ausübung. Er richtet nicht die Aufmerksamkeit auf die Angabe, daß es hier ausschließlich um das Preisen Gottes durch einen Menschen und den Segen Gottes an einen Menschen geht. Er zieht keine Schlußfolgerungen aus dem einzigartigen Umstand, daß es hier weder Weihrauch noch Opfer gab. Er spielt auf mehrere Einzelheiten an, ohne weiter darauf einzugehen. Der Gesichtspunkt, zu dem er den Leser führt, ist die offensichtliche und unübertreffliche Würde dieser Angelegenheit, nämlich die Übereinstimmung von Priester und Priestertum. Das geschah aus einsichtigem Grund.

Die Zeit für die richtige Ausübung des Melchisedek-Priestertums Christi ist noch nicht gekommen. Dieses wird erst der Tausendjährige Tag sehen. Die Schlacht, die Abraham kämpfte, ist die erste, von welcher in der Bibel berichtet wird, und ein Sinnbild von der letzten Schlacht unseres Zeitalters. Letzterer Kampf führt die Regierung des Friedens ein, die sich auf Gerechtigkeit gründet, wenn Gott sich als der Höchste offenbart, der Himmel und Erde besitzt. Das kennzeichnet, wie gut bekannt ist, ganz besonders das Tausendjährige Reich. Himmel und Erde sind niemals mehr vereinigt worden, noch wurden sie zum Segen des Menschen tatsächlich von der Macht Gottes in Besitz genommen, seitdem die Sünde zwischen der Erde und dem Bereich über ihr eine Trennung hervorgerufen hat. Der Fürst der Gewalt der Luft hat alles verdorben, sodaß das, was nach dem Wesen und den Ratschlüssen Gottes die Quelle jeder Segnung sein sollte, vielmehr ein Ort geworden ist, von dem das schuldige Gewissen des Menschen nichts als Gericht erwarten kann. Der Himmel muß sich demnach sogar nach menschlicher Überzeugung in Gerechtigkeit gegen die Erde abriegeln wegen der Sünde. Der Tag wird indessen kommen, an dem Israel nicht mehr rebelliert und die Nationen nicht länger verführt werden, wenn Satan aus seiner bösartigen hohen Stellung entthront ist und alle Götzen hastig entfliehen. Dann bleibt Gott unbestritten und offen sichtbar als der Höchste, der Besitzer von Himmel und Erde, zurück. An jenem Tag wird es die Freude jener Person sein, welche der wahre Melchisedek ist, nicht nur die Sinnbilder, sondern die Wirklichkeiten dessen herauszustellen, was den Menschen stützen und trösten kann. Das ist der öffentliche Beweis der wohltätigen Macht Gottes, welche stärkt und Freude bringt; und Er wird „kein Gutes vorenthalten denen, die in Lauterkeit wandeln.“ (Ps 84, 11).

Zugegebenermaßen richtet der Geist Gottes inzwischen die Aufmerksamkeit nicht auf die Ausübung, sondern auf die Ordnung des melchisedekschen Priestertums. Wenn wir auch für seine Ausübung auf die Zukunft warten müssen, so gilt doch die Ordnung jetzt schon genau so wahrhaftig und eindeutig wie irgendwann sonst. Tatsächlich ist sie niemals so offenkundig wie in der Gegenwart; denn ich denke, daß ein unvoreingenommener Christ, der mit Verständnis die Prophezeiungen des Alten Testaments betrachtet, kaum bezweifelt, daß dort ein irdisches Heiligtum und folglich irdische Priester und Opfer für Israel in seinem Land beschrieben werden. Hesekiel gibt uns kund, daß die Söhne Zadoks ihre Geschlechtsfolge bis zu der Zeit fortführen werden, wenn der Herr als in Israel anwesend anerkannt sein wird als der wahre David, ihr König, der Sein Volk nach langer Trübsal jetzt mit Freude auf der Erde segnet. Diese Zeit ist noch nicht gekommen. Nichts ist da, was das Herz von Christus, dem großen Hohenpriester in den Himmeln, ablenken könnte. Zweifellos wird auch zu jener zukünftigen Zeit alles gut und richtig sein. Inzwischen gibt das Christentum jedem Sinnbild und jeder Wahrheit Gottes ihre äußerste Aussagekraft. Der ungeteilte Platz Christi wird heute völliger bezeugt, indem es keine anderen Gegenstände gibt, um die Gedanken zu beschäftigen oder das Herz von Ihm abzuziehen, so wie Er jetzt durch den Glauben in der Herrlichkeit in der Höhe gesehen werden kann.

Demnach wendet der Apostel das Sinnbild hier ausdrücklich an, soweit die „Ordnung“ des Priestertums reicht. Wir hören zuerst von Melchisedek (König der Gerechtigkeit), danach von Salem oder „Friede“ - „ohne Vater, ohne Mutter, ohne Geschlechtsregister.“ (V. 3). Anders als sonst in 1. Mose werden Eltern nicht erwähnt, noch wird in irgendeiner Weise auf seine Abkunft hingewiesen. Kurz gesagt, werden weder Familie noch Vorfahren erwähnt - „weder Anfang der Tage noch Ende des Lebens habend“ - beides wird in der Bibel nicht berichtet -, „aber dem Sohne Gottes verglichen, bleibt Priester auf immerdar.“

Der nächste Punkt ist die unbestreitbare Oberhoheit des melchisedekschen Priestertums über das von Aaron, dessen sich die Juden natürlicherweise rühmten. Wer immer auch der Schreiber des Hebräerbriefs war - jedenfalls stand die vielsagende Wahrheit vor ihnen, daß das 1. Mose-Buch nicht von einem Christen geschrieben worden war, sondern von Mose; und Mose gibt Zeugnis von der Huldigung, welche Abraham in der Bezahlung des Zehnten Melchisedek erwies. Auf der anderen Seite hatten die Priester, Aarons Familie unter den Söhnen Levis, „ein Gebot, den Zehnten von dem Volke zu nehmen nach dem Gesetz, das ist von ihren Brüdern, wiewohl sie aus den Lenden Abrahams gekommen sind.“ (V. 5).  So hat auch Melchisedek „der sein Geschlecht [wie Jesus] nicht von ihnen [Aaron oder Levi] ableitete, ... den Zehnten von Abraham genommen und den gesegnet, der die Verheißungen hatte.“ (V. 6). „Ohne allen Widerspruch aber wird das Geringere von dem Besseren gesegnet.“ (V. 7). Kein Argument könnte bestimmter oder entscheidender sein. Die anderen Nachkommen Abrahams ehrten das Haus Aarons als levitische Priester; doch Abraham selbst - und somit auch Levi und natürlich Aaron, beide „in Abrahams Lenden“ - ehrten Melchisedek. Auf diese Weise wurde ein anderes und höher stehendes Priestertum unanfechtbar durch den Vater der Gäubigen anerkannt. „Sozusagen ist durch Abraham auch Levi, der die Zehnten empfängt, gezehntet worden, denn er war noch in der Lende des Vaters, als Melchisedek ihm entgegenging.“ (V. 9-10).

Das führt zu einen weiteren Punkt; denn der Wechsel des Priestertums bedeutet auch einen Wechsel des Gesetzes. „Wenn nun die Vollkommenheit durch das levitische Priestertum wäre (denn in Verbindung mit demselben hat das Volk das Gesetz empfangen), welches Bedürfnis war noch vorhanden, daß ein anderer Priester nach der Ordnung Melchisedeks aufstehe, und nicht nach der Ordnung Aarons genannt werde?“ (V. 11). Dieser Wechsel war eindeutig im Buch der Psalmen gelehrt worden. Es gab nicht nur am Anfang einen solchen Priester, sondern sein Auftreten wurde auch zum Bild einer herrlichen Voraussage, welche der Heilige Geist für den letzten Tag macht. Psalm 110, welcher, wie alle Juden anerkannten - auf jeden Fall in seinem überwiegenden Teil - von dem Messias und Seiner Zeit spricht, zeigt uns Jahwe Selbst, wie Er mit einem Eid (was später genauer besprochen wird) einen anderen Priester anzeigt, der abweichend von der Ordnung Aarons später auftreten sollte. „Wenn das Priestertum geändert wird, so findet notwendig auch eine Änderung des Gesetzes statt. Denn der, von welchem dies gesagt wird, gehört zu einem anderen Stamme, aus welchem niemand des Altars gewartet hat. Denn es ist offenbar, daß unser Herr aus Juda entsprossen ist, zu welchem Stamme Moses nichts in Bezug auf Priester geredet hat. Und es ist noch weit augenscheinlicher, wenn, nach der Gleichheit Melchisedeks, ein anderer Priester aufsteht.“ (V. 12-15). So liefern sowohl der Pentateuch (die fünf Bücher Mose; Übs.) als auch die Psalmen ein zweifaches Zeugnis von einem Priester, der über Aaron steht.

Weiterhin wird die Tatsache, daß dieser Priester ein lebendiger Priester ist, und zwar in einer einzigartigen Weise ein unsterblicher Priester, ohne jeden Zweifel offenbar, indem im Psalm gesagt wird: „Denn ihm wird bezeugt: „Du bist Priester in Ewigkeit nach der Ordnung Melchisedeks“.“ (V. 17). Das ist auch ein großes Unterscheidungsmerkmal. Wo konnten sie einen solchen Priester finden? War irgend jemand berechtigt, die Worte „in Ewigkeit“ auf sich zu beziehen? Solcherart war der Priester, von dem Gott sprach. „Denn“, wird gesagt, „da ist eine Abschaffung des vorhergehenden Gebots seiner Schwachheit und Nutzlosigkeit wegen (denn das Gesetz hat nichts zur Vollendung gebracht).“ (V. 18-19). Der Apostel wendet in einsichtsvollster Weise den Wechsel des Priestertums an, um zu zeigen, wie damit auch eine Umwandlung des Gesetzes einhergeht. Das ganze levitische System muß aufhören für „die Einführung einer besseren Hoffnung.“ Das ist die wahre Aussage dieses Abschnitts. („Denn das Gesetz hat nichts zur Vollendung gebracht“ ist eine Einfügung.). Durch diese Hoffnung also nahen wir Gott.

Doch außerdem wird auf die feierliche Erwähnung des Eides Jahwes näher eingegangen. „Inwiefern dies nicht ohne Eidschwur geschah, (denn jene sind ohne Eidschwur Priester geworden“ - kein Eid hat die Söhne Aarons eingeführt -, „dieser aber mit Eidschwur durch den, der zu ihm sprach: „Der Herr hat geschworen, und es wird ihn nicht gereuen: Du bist Priester in Ewigkeit nach der Ordnung Melchisedeks“), insofern ist Jesus eines besseren Bundes Bürge geworden.“ (V. 20-22).

Zuletzt faßt er die Überlegenheit Christi mit den Worten zusammen: „Jener sind mehrere Priester geworden, weil sie durch den Tod verhindert waren zu bleiben; dieser aber, weil er in Ewigkeit bleibt, hat ein unveränderliches Priestertum.“ (V. 23-24). Es gibt nur einen derartigen Priester.

Unter jedem Gesichtspunkt wurde somit die Überlegenheit des melchisedekschen Priesters über die aaronitische Linie aufgezeigt. Die Erfüllung der melchisedekschen Ordnung wird in Christus, und ausschließlich in Ihm, gefunden. Die Juden selbst anerkannten, daß Psalm 110 in Christus in Seinem Charakter als Messias erfüllt werden muß. Nichts als ein dummes, starrsinniges und ungläubiges Vorurteil konnte nach dem Erscheinen des Herrn Jesus irgendeine andere Anwendung des Psalms vorschlagen. Vor dem Kommen Jesu gab es diesbezüglich unter den Juden keine Frage. So wenig gab es eine solche, daß unser Herr sich auf die anerkannte Bedeutung des Psalms beziehen konnte, um nachdrücklich darauf hinzuweisen, welche Schwierigkeiten Seine Person dem Unglauben bereitete. Nach ihrem eigenen Bekenntnis bezog sich jener Psalm auf den Messias; und Jesus stellte den Juden Seines Tages gerade diesen Gesichtspunkt vor Augen: Wie konnte der Messias, wenn Er Davids Sohn ist (wie sie zugaben), Davids Herr sein, wie der Psalmist David bekannt hat? Das zeigt, wie jenseits jeden Zweifels die Juden jener Tage Psalm 110 als Hinweis auf niemand anderen als den Christus verstanden. Wenn es so ist, dann war Er auch Priester nach der Ordnung Melchisedeks und empfing Er den Platz zur Rechten Jahwes. Das ist eine Hauptwahrheit des Christentums, deren Bedeutung die Juden in Hinsicht auf ihre Vorstellung vom Messias nicht annehmen wollten. Folglich wird in diesem Brief überall großer Nachdruck darauf gelegt, daß Er im Himmel erhöht ist. Daher gibt es auch keine Entschuldigung für Schwierigkeiten wegen dieser Wahrheit. Ihr eigener Psalm in seinem großartigen prophetischen Ausblick und indem er auf das Gesetz zurückblickt, zeigt den Platz, auf den Christus sich jetzt im Himmel gesetzt hat. Dort muß Er notwendigerweise weilen, um dem Christentum seinen himmlischen Charakter zu geben.

Darauf folgt die Lehre. „Daher vermag er auch völlig zu erretten.“ (V. 25). Der Schreiber meint hier nicht die Schlimmsten unter den Sündern, sondern die Wahrheit, daß Christus die Gläubigen bis zum Äußersten errettet, indem Er durch jede Schwierigkeit solche führt, „die durch ihn Gott nahen.“  Ein Priester steht immer in Verbindung mit dem Volk Gottes und als ein solcher nicht mit Menschen außerhalb. Es muß eine bestimmte Beziehung zu Gott gekannt sein. „Indem er immerdar lebt, um sich für sie zu verwenden. Denn ein solcher Hoherpriester geziemte uns: heilig, unschuldig, unbefleckt, abgesondert von den Sündern und höher als die Himmel geworden.“  Diese Aussage ist um so bemerkenswerter, weil am Anfang des Briefes der Apostel darauf hingewiesen hat, was Gott geziemt. Gott geziemte es, daß Christus leiden sollte. Uns geziemt es, einen Hohenpriester zu haben, der „heilig, unschuldig, unbefleckt ... und höher als die Himmel geworden“  ist.

Welche unendlichen Gedanken schenkt uns das Wort Gottes! Wie verherrlichen sie Ihn Selbst! Wie erhebend für unsere Seelen! Wer hätte sie vorausdenken können? Es geziemte  Gott, daß Christus bis zum Äußersten hinabstieg. Es geziemte  uns, daß Er auf das Höchste erhöht wurde. Und warum? Weil die Christen ein himmlisches Volk sind; und niemand als nur ein himmlischer Priester ist ihnen angemessen. Es geziemte Gott, Ihn dem Tod zu übergeben; denn so war unser Zustand durch die Sünde, daß nichts Geringeres als Sein sühnender Tod uns befreien konnte. Aber nachdem Er uns befreit hat, wollte Gott uns zu Himmlischen machen. Nur ein himmlischer Priester genügt für die Ratschlüsse, welche Er zur Ausführung bringt. „Der nicht Tag für Tag nötig hat,“, sagt Er darum, „wie die Hohenpriester, zuerst für die eigenen Sünden Schlachtopfer darzubringen, sodann für die des Volkes.“ (V. 27). Gott hält immer das Zeugnis von der Geringerwertigkeit des jüdischen Priestertums sowie den letzteres begleitenden Zustand der Dinge im Vergleich zum Christentum aufrecht. „Denn dieses hat er ein für allemal getan, als er sich selbst geopfert hat. Denn das Gesetz bestellt Menschen zu Hohenpriestern, die Schwachheit haben; das Wort des Eidschwurs aber, der nach dem Gesetz gekommen ist, einen Sohn, vollendet (oder „geweiht“)1 in Ewigkeit.“ Das war genau die Schwierigkeit, welche die Juden vorbrachten. Doch tatsächlich besteht der messianische Psalm 110 ausdrücklich auf dieser Wahrheit. Sogar das Gesetz gibt Zeugnis von einem Priester, der jedem Priester unter dem Gesetz überlegen ist. Die Heilige Schrift fordert also, daß ein Mann sich zur Rechten Gottes nieder setzt. Diese Forderung ist in Christus erfüllt, der als der große Melchisedek im Himmel erhöht wurde. Wenn sie Abrahams Kinder waren - und nicht einfach nur seine Nachkommen - würden sie diesen Priester sicherlich ehren.

Fußnoten

  • 1 So Kelly (vergl. auch „A Greek-English Lexicon of the Septuagint“, Revised Edition, Compiled by Johan Lust / Erik Eynikel & Katrin Hauspie, © Deutsche Bibelgesell­schaft, 2003; Übs.).
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