Die ersten Jahrzehnte des Christentums
Kommentar zur Apostelgeschichte
Kapitel 22
Verse 1-10
Paulus hat sich dreimal verantwortet: hier, dann in Cäsarea vor dem Landpfleger Felix und den Obersten der Juden (Kap. 24) und schließlich vor dem König Agrippa (Kap. 26). Als die Juden erkannten, dass er hebräisch redete, wurden sie umso ruhiger.
Paulus erinnerte daran, dass er Jude sei, geboren in Tarsus, aber auferzogen in Jerusalem „zu den Füssen Gamaliels, unterwiesen nach der Strenge des väterlichen Gesetzes“, als Eiferer für Gott, wie sie alle es waren. Er habe den christlichen Weg verfolgt bis zum Tod, habe sowohl Männer als Frauen gebunden und in die Gefängnisse überliefert, wie auch der Hohepriester bezeugen könne. Er erinnerte auch an seine Mission in Damaskus und erzählte seine Bekehrung.
Dieser Bericht hätte das Volk von der Aufrichtigkeit des Paulus überzeugen sollen. Er zeigte ihnen, dass er seinen Lebensweg deshalb so plötzlich geändert hatte, weil der Herr ihm erschienen war und er sich von da an seiner Autorität unterwarf und Ihm gehorchte. Aber gerade die Autorität dieses Jesus von Nazareth wollten die Juden nicht anerkennen. Sie hörten zu, bis er die Worte des Herrn anführte: „Geh hin, denn ich werde dich weit weg zu den Nationen senden.“ Dieses Wort brachte ihnen in Erinnerung, dass das über die Grenzen des Volkes Israel hinausgetragene Evangelium die Umzäunung niederriss, die sie von den Nationen trennte.
Verse 11-13
Im Bericht über seine Bekehrung stellte Paulus Tatsachen in den Vordergrund, die das Gewissen seiner Zuhörer hätten erreichen müssen, wenn es nicht völlig verhärtet gewesen wäre. Der Herr hatte ihm im Voraus gesagt, dass sie sein Zeugnis nicht annehmen würden. Der Apostel erzählte, dass die Herrlichkeit jenes Lichtes aus dem Himmel ihn zu Boden geworfen und blind gemacht hatte - ein unbestreitbarer Beweis der Macht Gottes. Dann kam er auf das gute Zeugnis zu sprechen, das alle Juden von Damaskus dem Ananias gaben (Vers 12), einem frommen Mann nach dem Gesetz, der Christ geworden war. Gerade dieser Mensch war es, der im Auftrag des Herrn zu Saulus kam, um ihm zu sagen, was er zu tun hatte, und nicht einer der Apostel, den die Juden hassten. Aber alle diese Tatsachen machten auf diese Menschen keinen Eindruck. Sie waren entschlossen, im Unglauben zu verharren, trotz allem, was der Heilige Geist in ihrer Mitte von Anfang an gewirkt hatte.
Ananias (= „der Herr ist gnädig“) kam zu Saulus, der zum Glauben an den Herrn Jesus gefunden hatte. Er nannte ihn „Bruder“. Sogleich vollzog sich eine neue Tat der Macht Gottes. Saulus wurde wieder sehend. Gleichzeitig mit der Wiedererlangung seiner physischen Sehkraft besaß er nun auch Licht, um den Sohn Gottes als den zu sehen, der mit Ehre und Herrlichkeit gekrönt zu Rechte Gottes war. Die ganze Vergangenheit des Saulus von Tarsus, sein Eifer für das Gesetz, seine Werke, mit denen er Gott Wohlgefallen wollte, seine Gerechtigkeit nach dem Gesetz, sein Hass gegenüber dem Herrn und den Seinen, alles war verschwunden. Die sittliche Finsternis, in der er sich bis dahin bewegte, hatte dem Licht Platz gemacht, das aus der Herrlichkeit hervorstrahlte, in der er nun Jesus betrachten konnte, den er einst verfolgt hatte. Damit begann für Saulus ein neues Leben. Der verherrlichte Herr war nun sein Lebensinhalt und seine Gerechtigkeit.
Verse 14-15
Ananias sagte zu Saulus: „Der Gott unserer Väter hat dich dazu bestimmt, seinen Willen zu erkennen und den Gerechten zu sehen und eine Stimme aus seinem Mund zu hören. Denn du wirst ihm an alle Menschen ein Zeuge sein von dem, was du gesehen und gehört hast.“ Die Juden hätten bei der Tatsache, dass es sich um den Gott ihrer Väter, um den Gott handelte, der in der Sendung seines Sohnes seine Verheißungen erfüllen wollte, stehen bleiben sollen. Da der Sohn aber verworfen war, konnten sie noch nicht in Erfüllung gehen. Gott wollte, dass zuvor sein Ratschluss über die Versammlung zur Ausführung kamen. Das Geheimnis des göttlichen Willens wurde dann Paulus dadurch offenbart, dass er einen himmlischen Christus erkennen durfte und im Zusammenhang damit alles, was aus der Stellung, die Er bis zu seiner Erscheinung in Herrlichkeit einnimmt, hervorgeht. Paulus schrieb den Galatern (Gal 1,15-16); „Als es aber Gott, der mich von meiner Mutter Leib an abgesondert und durch seine Gnade berufen hat, wohl gefiel, seinen Sohn in mir zu offenbaren, damit ich ihn unter den Nationen verkündigte…“ In Epheser 3,1-10 wird beschrieben, was den Dienst dieses Apostels kennzeichnete.
In zweiter Linie sollte er „den Gerechten sehen“. Der einzige Gerechte, der über die Erde ging, war verworfen und gekreuzigt worden. Auch Petrus nennt Ihn den „Gerechten“ (1. Pet 3,18) und Stephanus sagte: „Sie haben die getötet, die die Ankunft des Gerechten zuvor verkündigten“ (Apg 7,52). Diesen Gerechten betrachteten die Menschen als Übeltäter, der den Tod verdient hatte. Aber Gott hat Ihn in die Herrlichkeit erhoben und damit sein Wohlgefallen an Ihm und an seinem ganzen Werk bezeugt. Dieser Ausdruck „der Gerechte“ hätte das Gewissen der Zuhörer, die in Ihm keinerlei Schönheit gesehen hatten, treffen sollen.
Das Dritte, was Ananias sagte, war dies: Saulus sei berufen „eine Stimme aus seinem Mund zu hören. Denn“, sprach er, „du wirst ihm an alle Menschen ein Zeuge sein von dem, was du gesehen und gehört hast.“ Dieses Zeugnis umschloss den ganzen Ratschluss Gottes, der bis zur endgültigen Verwerfung des Herrn Jesus seitens des Volkes Israel nicht hatte offenbart werden können. Die anderen Apostel waren Zeugen von dem, was sie gesehen hatten. Sie hatten gesehen, wie der Herr auf der Erde gelebt und das Werk ausführt hatte, das der Vater Ihm zu tun gegeben hatte. Sie waren Zeugen seiner Auferstehung aus den Toten. Auf diese Wahrheit gründete sich ihr Zeugnis. Paulus jedoch, der den Herrn nicht auf der Erde gesehen hatte, sollte Ihn als den Verherrlichten sehen und aus seinem Mund wunderbare Dinge vernehmen, die bis dahin noch niemand mitgeteilt worden waren. Deshalb sagte er: „Wenn wir aber Christus dem Fleisch nach gekannt haben, so kennen wir ihn doch jetzt nicht mehr so“ (2. Kor 5,16).
Verse 16-21
„Und nun, was zögerst du? Steh auf, lass dich taufen und deine Sünden abwaschen, indem du seinen Namen anrufst.“ Der Herr war da und breitete seine Arme aus, um seinen früheren Verfolger aufzunehmen. Weshalb sollte er zögern, wie so viele Menschen es tun, denen die Gnade angeboten wird? Er sollte alles dahinten lassen und durch die Taufe ausdrücken, dass er im Glauben durch den Tod hindurchgegangen war, in dem seine ganze Vergangenheit, alle seine Sünden verschwunden waren, und dass er sich nun in einer neuen Ordnung der Dinge befand, indem er den Namen des Herrn anrief, wie jene, die er verfolgt hatte (Apg 9,14). Saulus hatte die Gnade unverzüglich angenommen und erhob sich, um festen Schrittes den Weg des Zeugnisses zu betreten, und zwar in der Gewissheit, dass seine Sünden vergeben waren. Er ist darin das Muster einer wahren Bekehrung: Gott glauben, seinen Platz im Zeugnis einnehmen, den Namen des Herrn bekennen, dem Himmel entgegengehen und dabei Christus zum Lebensinhalt und Ziel haben. So drückt der Apostel es in Philipper 3 auch aus, wo er ebenfalls auf seine Bekehrung hinweist. Im Bericht, den der Verfasser der Apostelgeschichte über die Bekehrung von Saulus gibt (Kap. 9), erwähnt er, dass Saulus drei Tage blind war und weder aß noch trank. Während dieser kurzen Zeitspanne wirkte Gott in ihm das Werk der Buße, die notwendige Zubereitung jeder Seele, um eine wirkliche Befreiung erlangen zu können. Sobald dieses Werk geschehen ist, kann ihr das Heil durch jemand vorgestellt werden, den Gott zu diesem Zweck zu ihm sendet: Ananias zu Saulus, Philippus zum Kämmerer, Petrus zu Kornelius. Als der Kerkermeister in Philippi sagte: „Ihr Herren, was muss ich tun, um errettet zu werden?“ konnte ihm Paulus antworten: „Glaube an den Herrn Jesus, und du wirst errettet werden, du und dein Haus.“ - „Also ist der Glaube aus der Verkündigung, die Verkündigung aber durch Gottes Wort“ (Röm 10,17).
Was Paulus in den Versen 17-21 erwähnt, fand drei Jahre nach seiner Bekehrung statt. Das geht aus Galater 1,17-18 deutlich hervor. Er ging nach Arabien hinab, kehrte nach Damaskus zurück und ging von da nach Jerusalem hinauf (Apg 9,26-30). Damals war es, dass er beim Gebet im Tempel in Entzückung geriet. Das Wort schweigt über das, was während seines Aufenthaltes in Arabien geschah. Wie wir aber schon bei der Betrachtung des 13. Kapitels bemerkt haben, lässt der Herr die Gläubigen, die Er zu einem besonderen Dienst beruft, durch eine Zeit der Zubereitung gehen, die unbedingt nötig ist. So wurde zweifellos auch Saulus zu diesem Zweck dorthin geführt.
Wir kennen die Zuneigung von Paulus zu seinem Volk. Als er damals in Jerusalem ankam, war es zweifellos sein Wunsch, unter den Juden zu arbeiten.
Als er im Tempel betete, geriet er in Entzückung und sah den Herrn, wie Ananias ihm gesagt hatte. Wohl als Antwort auf sein Gebet sagte ihm der Herr: „Eile und geh schnell aus Jerusalem hinaus, denn sie werden dein Zeugnis über mich nicht annehmen.“ In voller Freimütigkeit durfte Saulus vor dem Herrn das geltend machen, was in seinen Augen sein Zeugnis gegenüber den Juden fruchtbar machen musste: Das Evangelium wurde ihnen durch den verkündigt, der die an Jesus Glaubenden ins Gefängnis warf und in den Synagogen schlug. Selbst als das Blut des Stephanus vergossen wurde, hatte er dazu eingewilligt und die Kleider derer, die ihn steinigten, verwahrt. Er hatte wie der wiederhergestellte Petrus Buße predigen und sich selbst als ein Beispiel hinstellen wollen von dem, was die Gnade zu tun imstande ist. Aber das war nicht der Wille Gottes für ihn. Jener Dienst war durch die Apostel vor ihm getan worden, ganz besonders durch Petrus. Aber die Juden hatten nichts davon wissen wollen. Saulus war zu einem anderen Dienst berufen. Er sollte unter den Nationen die Gnade verkündigen: „Geh hin, denn ich werde dich weit weg zu den Nationen senden.“ Ach, der teure Apostel musste nun schmerzliche Erfahrungen machen, weil er jene vom Herrn empfangenen Weisungen jetzt nicht beachtet hatte. Seine Zuneigung für sein Volk nach dem Fleisch hatte ihn nach Jerusalem gebracht. Aber selbst die ausgezeichnetsten Wünsche unserer Herzen müssen dem Willen des Herrn untergeordnet werden. Vom vollkommenen Diener lesen wir das Wort: „Der Herr, HERR, hat mir das Ohr geöffnet, und ich bin nicht widerspenstig gewesen, bin nicht zurückgewichen“ (Jes 50,5). So sollten auch wir in völliger Abhängigkeit vom Herrn und seinem Worte vorangehen.
Verse 22-30
Die Juden hörten Paulus bis zu dem Wort zu. Denn sie erkannten, dass er ihnen zu verstehen gab, dass die von ihnen zurückgewiesenen Segnungen nun das Teil der von ihnen im höchsten Grad verachteten Nationen sein würden. Der Oberste, der von den Ursachen, die das Volk jetzt so rasend machten, nichts verstand, befahl, dass Paulus in das Lager gebracht und mit Geißelhieben ausgeforscht wurde, um zu erfahren, worum es sich handelte. Als sie Paulus mit den Riemen festspannten, fragte er, der die römischen Gesetze kannte, den Hauptmann, ob es ihm erlaubt sei, einen Römer unverurteilt zu geißeln. Als der Oberste erfuhr, dass Paulus von Geburt Römer sei, bekam er es mit der Angst zu tun. Und die, die ihn ausforschen sollten, standen von ihm ab. Der Herr benutzte diese Berufung von Paulus auf sein Recht, um ihm die ungerechtfertigte Geißelung zu ersparen. Er hätte ihn auch auf eine andere Weise befreien können. Seine Rechte geltend machen und auf seinen Rechten bestehen ist nicht dasselbe. Die Regierung ist von Gott eingesetzt, um der Gerechtigkeit gemäß zu handeln. Wenn sie es einem Christen gegenüber nicht tut, so darf dieser sie darauf aufmerksam machen, jedoch nicht auf seinen Rechten bestehen. Die Regierung ist Gott gegenüber verantwortlich, und der Christ, der das Opfer einer Ungerechtigkeit ist, übergibt sich dem, „der gerecht richtet“ (1. Pet 2,23). Als der Oberste am folgenden Tag mit Gewissheit erfahren wollte, weshalb Paulus „von den Juden angeklagt sei, machte er ihn los und befahl, dass die Hohenpriester und das ganze Synedrium zusammenkommen sollten; und er führte Paulus hinab und stellte ihn vor sie.“